Marietta Böning

Zeitgenössische österreichische Literatur

Würdest du

Würdest du dahin, wenn du solltest
Würdest du dahin, wenn du dächtest, dass du müsstest
Würdest du bleiben, wenn du nächtigtest
Rührtest du im Müssen, Sollen, Bleiben, wenn’s dich drückte
Siebtest du daraus die Mücke
Mückte sie sich drum?
Erdrücktest du sie prompt?
Suchstest darin Stücke?
Fändest in den Stücken ein Skelett – wie Stricke?

Umstricke das doch mal
Strick dir einen Schal
Verbindest du die Qual?
Quältest du dich nicht dahin
Röcheltest du dann nicht dort
Kröche um das Mal die Mücke dort
Flög’ sie, wenn du drücktest, fort?

Würdest du dahin, auch wenn du dächtest:
Leck mich, ach du liebe Güte und du böser Ort
Alle Fäden schnitt ich weise
Doch beim Denken sind sie dicker
Nur beim Denken ist der Lichteinfall so gut
Dass ich wieder Stricke blicke

Würdest du den Tanz beginnen
Auf Stricken zu stricken und dem Ruf zu folgen
Würdest du dahin, wenn du solltest
eine Decke breiten, nachts des Wegs
um den Traum zu fesseln, der dich drückt
Würdest leise schleichen und die Decke drüber schmeißen?
Würdest nämlich fürchten, durch ihn durch zu fallen
ohne Netz gebreitet in der Nacht?
Würdest fürchten einfach nur zu lassen
wenn die Stricke des Ortes winken
gar zu spielen wie die Katze
die sich übers Wollknäuel schmiss
die es aber auch zerriss?

Günter Vallaster

Zeitgenössische österreichische Literatur

text + TEXT

textgedecke

aufgewache. deckenentgeweiche. polstergestecke. owieschöndiesonnegescheine. augenhöhlengereibe. wimperngeklebe. weckergeläute. warumjetztbindochschonwachgejammere. uhrengetäcke. fingeraufdenweckergehämmere. körpergestrecke. gähnendleergegähne. vogelgezwätsche. nachbarsköterauchnochgebelle. nachgedenke. entschlussgefasse. aufgestehe. wäschegesuche. sockengebetrachte. hosengeschlüpfe. ärmellochgeverwechsle. pullovernochnichtangeziehe. jalousienaufgeziehe. augengekneife. hinternundhinterkopfgekratze. aufsklogegehe. klobrillengesitze. klogespüle. badgeschlurfe. zahnpastagedrücke. zahnbürstenmundgeschabe. wasserhahnaufgedrehe. händenassgemache. seifengespende. kopfgewäsche. schauminaugegebrenne. wasserhahnabgedrehe. handtuchgebeutle. höchststufengeföne. steckergeziehe. spiegelgeblicke. sichdasgesichtgereibe. sichmitgrausenabgewende. nebendenspiegelgeschaue. indieküchegetappe. radiosendereingestelle. gedudelgehöre. groundcontroltomajortommitgebrummle. kühlschrankgestarre. herdeingeschalte. aufeineplattediepfannegeschiebe. butterzumschmelzengebringe. eiindiepfannegehaue. schinkendazugetue. dasganzegeesse. kaffeegemache. nebendasfilterpapierkaffeepulvergestreue. kaffeemaschineneingeschalte. wassergebrodle. tassengescheppere. kaffeeeingeschenke. zuckerundmilcheingerühre. auheißkaffeegeschlürfe. hinuntergeschlucke. packunggenestle. woistdasfeuerzeuggestierle. reibradgedrehe. feueraufgeflamme. zigarettengerauche. zigarettenabgetöte. schalteraufnullgesetze. pullovernundochangeziehe. daunenjackenübergestreife. profilsohlenschuhgebinde. arbeitsgevorbereite. taschenhergerichte. gedankengesammle. sichbereitgefühle. zurtürhinausgegehe. türabgesperre. treppengesteige. dashausgeverlasse. menschengegänge. menschenausgeweiche. autogefahre. zebrastreifenschutzgefinde. aufdenbusgewarte. jetztfängtsnochanzuregnenwartehäuschengedränge. buseingesteige. imgedrängeplatzgesuche. stationengezähle. ausdemfenstergeschaue. halteschlaufengehalte. derfrauinsdékolletégestarre. stationenweitergezähle. anhustausgeweiche. zurtürgewühle. haltetastengetaste. beimbremsenfastumgefalle. ausdembusgestolpere. ausdenwolkengefalle. dasgebäudevoraugengehabe. dasgebäudegebetrete. putzmittelgerieche. grauanzugsträgerausgeweiche. dengangentlanggegänge. sichzumliftgestelle. ruftastengedrücke. schiebetürgeöffne. zweischrittnachvorsichindieliftkabinegebewege. dietastezumfünftenstockgefingere. dietasteaufleuchtengesehe. unterdenfüßendenliftsichinbewegungsetzengefühle. fünfterstockgeklingle. nunbinichhiergedenke. denliftgeverlasse. dietürgesuche. dietürgeöffne. dietürgeschließe. drehsesselgesitze. daunenjackennochgefühle. daunenjackenausgeziehe. computereingeschalte. willkommenjingleangehöre. augenaufbildschirmgerichte.

 

TEXT IN WINKELN

ALEX AHNTE HYMNE. FAHNE KEIMTE, WEHTE WIE EINE MALVE IM MAI, AXT NAHTE, WAFFE WINKTE, HEIZTE ZANK AN. ALEX FALTETE FELLE, FEILTE TANNEN AN, EILTE MIT LANZE. KALT FIEL ALEX WAHN ANHEIM. ELIZA KEIFTE WITZE AN WELT, WAFFE, WIXEN, AHNTE VATI MIT KLAN. EIN ZINN-HAMLET WEINTE AM KAMIN MIT VINYL. KATZE MIA KIEFELTE IM WINKEL ZÄHE HAIHÄLFTEN. FLINK ENTKAM MIA. MYTHEN LÄHMEN, KEIN FAKTEN-WÄLZEN ZÄHLT. IN EINZAHL HIELT ELIZA EIN HEFT WIE EINEN HALM. „ZEIT HEILT ALLE NÄHTE“ HAT HAKEN, ZEIT HEILT NIE. ELIZA HAT KEINE WAHL, MIT LATEIN AM ZIEL: MANTEL AN, VIA LIFT IN MEZZANIN, IN ALLEE, HÄLT TAXI AN, FLIEHT. ENZYM AN ENZYM, ZAHN AN ZAHN – KEIN THEMA IN ELIZA. WANN KAM ALEX IN HAFT, ZELLE. EXAKT FEILTE MANIE AN IHM. ALEX FLITZTE AM HAFEN, IN KÄHNEN, LIVE IM TV. ALLE HATTEN IHN WIE EINE FLAMME ENTKITZELT. ALLE KNIFFEN. ALEX KNIETE IN LATEX WIE IN NIETEN, MIT TATTAA „HEIMAT“ AN ELLE, AFFE MIT WAFFE – HILFE! FINTE ENTFIEL, TATTELTE IN FALLE. ALEX KEIN HE-MAN. IN EINE KANZLEI KAM EIN FAX MIT INHALT: ALEX HIE! EINHALT! ZEILEN ÄTZTEN TIEF. ETWA ZEHN NAHMEN ALEX AM LATZ. „MEINE HEIMAT!“, HALLTEN ZEHN, MEIN ITALIEN, VELTLIN, KATALANIEN, VIETNAM, KENIA, NEW HAVEN, LIMA, METZ, MILAN, KIEW, MAINZ, KITZ, LINZ, WIEN, AKH, MEINE AKTEN, MEINE ALM, MEINE LIANE. ALEX ENTKAM, LIEF ÄH WANKTE IN EINE HALLE, HINKTE, HIELT ZEHEN. ALLE TATEN WEH. HEY, ZELT! ALEX FEHLTEN ZÄHNE: „´IE WELT I´T ALLE´ WA´ E´ FALL I´T“, ALEX ZITATETE. IM ZELT MATT, FAHL, KAHL, WIE IM LETZTEN KAFF. ALEX HATTE EINE LATTE, WILL MEINEN EINE LATTE ZEIT. ALEX AHNTE WEN. WANZEN! ALEX IM FALZ, IN FLY-FALLE, IN HELL. INFAM. KEHLE KLAFFTE KLAMM. EINE EINZELNE HALTETAFEL „LA FIN“. IM ZELT KAM EKLAT. VIELE KELVIN HITZE. KEINE NAIVEN FILME KAMEN HIE. KEINE LAIEN KAMEN AN. WEIL ALEX MATHEMATIK MEINTE, WALLTE TANK, HITZE NAHM KANTE. LKW-VIEL NAHM MAN IHN FEST. WIE EINEN INFEKT INKL. AKNE. ALLE IM TIEFEN MIEF. KEIN LEXIKA-VALENZ-WITZ KITTETE IM LETTEN. KEIN TAFEL-MALEN HALF. KNALL! KEIN KALIFENFALKE IM HIMMEL, HAMMEL IM KANAL. ALEX IN HAFT, IM WAHN. IM WALLEN HALLTE EIN NAME. „ELIZA!“ ALEX KLITZEKLEIN. WIE KAIN. WIE EIN KINN. ELIZA HEIZTE ALEX EIN, ZWEIFELTE AM LAMM. ELIZA ZANKTE MIT ALEX, NIX MIT MINNE, ZWEITE WAHL. ALEX KNIETE ELIZA AN. ALEX TANZTE MIT ELIZA WALZE, ÄH WALTZ. ELIZA WILL ELFENTANZ, LITT AN ENTENTANZ. ALEX HAHN MIT MAKEL, MIT IHM WELTALLWEIT IM LEIM. KAMEL ALEX WINKTE MIT HETZ. „MEINE ELIZA, INKA, FEE“, FEIXTE ALEX, „MEINE ANTIKE WEIHE“. ALEX TEILTE MIT: „TAFELN, ELIZA, TAFELN WIE IM MAI – EIN YAK MIT THYMIAN, MALZKAFFEE, WEIN – MAHLZEIT!“ ALEX MIXTE MAHL: MEHL, ZIMT, VANILLE, MILK, ANKEN, HEFE, EI LIEF IN EINE KANNE. ELIZA NAHM KEINEN ANTEIL. „IN HITZE AALEN, VIEL HETZ! KEIN LAKEN! NIE IN ALK!“ NANNTE ELIZA NIXE, KANNTE EINMAL KEINE HEXE. ELIZA KIEKTE, WIMMELTE IHN. KLIMA LEHM, KEINE WATTE. ELIZA WILL IN EXIL, KALTEM KAMIN FINALEMENT ENTFLIEHEN. KEIN MIME, KEIN LEHEN KITTET WELKE EHEN. ALEX WÄLZTE EKELHAFT IN TENNE, ZINKTE THEMEN, WITZELTE FÄKAL. WANN KAM WELLE. ELIZA HANTELTE VENEN FIT, VITAL, NAHM VIEL VITAMIN A, E, K, KIFFTE KEIN HANF. ELIZA WILL MIT HEINZ, EVTL. ANNA, EVA, LENA, MELANIE, KATALIN, AXEL, EMIL, TANTE EMMA TALKEN. HEINZ MAHLT MEHL MIT ALLEN TEILEN, MALT WALE WIE KLIMT, HIMMELT HEINE AN, ZAHLT IN YEN. HEINZ HAT NIE EINE HYMNE IM ATEM. KEIN HEINI IM LINNEN. HIEVT KEINE HEAVY METAL-MATTEN. EIN MANN MIT WITZ, HAT ALTE WELT WIE THE NEW IM KALK. ELIZA HATTE IN ZWEI TAKTEN HITZE INNE. WEIL E-MAIL HAKTE, LIEF ZEIT HIN. TWINAX-LITZE FEHLTE. IM ZEITFALL WATEN WALTET IN ZYKLEN. ELIZA MALTE MIT TINTE EINEN TEXT IN EIN HEFT, KEIN FANZINE: „WHAT I HAVE, WHAT I WANT – MY LIFE WITH HIM“. HEINZ KAM MITTEN IM FETZENFALL. ALEX WINKTE, WANKTE, FIEL. ELIZA MIT HEINZ IM KLEE, IN LILA LILIEN, IN NETTEN NELKEN, IN FLANELL. ALEX ZIEHT LEINE. FAZIT: KEINE AKTIEN, KEINE HAIE. KEIN FLEHEN, KEIN FLIEHEN. KEINE KAMEN, KEIN AMEN.

Aus: Hinter dem Buchstabenzaun. Extended Versions. Wien: edition ch 2008.

Dieter Sperl

Zeitgenössische österreichische Literatur

Zwei Texte

Das Raumschiff

Während ich Bruno begrüße, mit dem ich vor vielen Jahren eine kurze, aber heftige Liebesbeziehung hatte, wandert mein Blick zu dessen Haaransatz, prüft die unter seinem Hemd angedeuteten Schwimmringe, bemerkt flüchtig den Ekel erregenden Goldring an seinem kleinen Finger, und als ich im darauf folgenden Moment seiner Wange mit der meinen gefährlich nahe komme, eingehüllt in den schwerelosen und murmelnden Kaffeehausraum, muss ich plötzlich den Satz denken: Bruno ist tot. Der Mann, der statt seiner da sitzt, muss jemand anders sein, der bloß seinen Namen trägt, denn dieses kleine geschniegelte Männchen, mit den Wurstfingern, wirkt wie ein armseliger Gefangener zwischen seinen auf dem Tisch ausgebreiteten Accessoires. Das ist nicht Bruno, denke ich, während mich dieser fremde Mann schon nach wenigen miteinander gewechselten Sätzen gönnerhaft einlädt, ihn und seine Frau besuchen zu kommen. In Niederösterreich, wo er vor drei Jahren ein Wochenendhaus gekauft hätte, sei es zur Zeit besonders schön, behauptet er, der klare Himmel, diese absolut reine Luft, dazu das flache winterliche und weite Land. Du könntest dich ein paar Tage ausspannen, sagt er, die frische Luft genießen und Inspiration tanken, das ist ja für eine Künstlerin besonders wichtig. Ich sehe mich unvermittelt als Schneefrau, in der Nähe von Retz, mit einer Karottennase im Gesicht, fühle den eisigen Wind an meinen Wangen und Fingern. Aber mehr als dieses vertraute und gleichzeitig völlig fremd gewordene Antlitz irritiert mich plötzlich, wie selbstverständlich ich jeden Satz zum Besten gebe, wie eindeutig und beiläufig jede meiner Bewegungen daher kommt, als ob ich selbst ewig in diesen scheinbar eigens für mich erfundenen Handlungs-Geläufigkeiten leben könnte, von denen Bruno und all die anderen Brunos Teile davon sind. Mit einem Mal kommen mir meine gegenwärtigen Gedanken und all meine schon zur Aufführung gebrachten wie Invasoren vor, die irgendwann in mich eingedrungen sein mussten, wie Bakterien oder Viren. Mein im Kaffeehaus umherschweifender Blick begreift die Menschen nunmehr als Zombies, die uneingeschränkt ihre von den im Universum herumschwebenden Gedanken angeschafften Bewegungen ausführen, und die die Menschen als ihre Raumschiffe benützen.
Ich werde nach einer neuen Mannschaft Ausschau halten, sage ich, dabei Bruno anlächelnd, der trotz meines für ihn wohl irrwitzig klingenden Satzes keine Spur von Verlegenheit zeigt, gerne nehme ich die Einladung an, ergänze ich und erwidere Brunos beiläufige Berührung.

Mit unterirdischen Fangarmen

In einer merkwürdigen, möglicherweise hinter meinem Rücken entstandenen Redeweise beschleicht mich das bestimmte Gefühl, ich, der ich noch gar nicht vollständig zugenäht worden bin mit den Stricken des Lebens, obwohl längst über dreißig, könnte vielleicht zum Wunder Mensch, dieser ununterbrochen nach Verhaltensoptimierungen heischenden Überlebensmaschine, gar nichts Entscheidendes hinzufügen. Dieser Gedanke, sofern er manchmal in mein Bewusstsein tritt, stimmt mich dann fast immer eine Zeit lang ziemlich traurig, und ich ziehe mich als Folge davon in meine auswendig gelernten und jederzeit abrufbaren Handlungen zurück oder falle in mein überirdisches, an der Kippe zu seinem individuellen Verschwinden befindliches Lächeln. Dass man an einem scheinbar x-beliebigen Punkt an einem scheinbar x-beliebigen Ort in den so genannten eigenen Schädel hinein geboren wird, in welchem bloß wenige Jahre nach der erfolgreichen persönlichen Geburt schon die ersten echten Blumen zu riechen beginnen, habe ich in meinen besten Momenten tatsächlich hinnehmen und verstehen können, aber bestimmt auch gleich viele Male nicht, wie ich hier, der Wahrheit gemäß, hinzufügen möchte. Vergissmeinnicht, Nelken und Buschwindröschen waren, soweit ich mich erinnern kann, der Reihe nach aufgetreten, zu denen ein individueller Zugang aufgebaut werden musste. Farben streckten ihre Hände nach mir aus und Düfte verzauberten meine Nasenschleimhäute. Der im Freien oft dazugehörige Wind versetzte mich häufig in eine von mir zumeist als unauffallend wahrgenommene Wirklichkeit. Und so stehen wir in unseren Wirklichkeitsbehauptungen stets auch auf der besonderen Seite des Lebens, winken manchmal beiläufig den vorbei fliegenden Passagierflugzeugen zu und machen uns so unsere Gedanken. Welche Lebensversicherung haben wir eigentlich abgeschlossen? Und wann war das? Wie viele Jahre können noch mit uns als Beitragszahler rechnen? Wann wird das letzte Bedeutungsraumschiff in unserem Gehirn seine Zelte abgebrochen haben? Was bedeutet dieser Augenblick dann überhaupt?
Wenn man sich nun tatsächlich bemüht, diese Fragen so klar wie möglich zu sehen, wird man bemerken, dass es knapp vor dem Entstehen oder dem Begreifen und gleichzeitigem Durchsetzen möglicher Erkenntnisse immer einen Moment gibt, in welchem diese wie Seifenblasen zerplatzen (als habe es sie nie gegeben) und menschenleere Bewegungen sichtbar werden, bis man überwachsen ist, bemoost, mit Vögeln auf den Schultern, frei von Erschöpfung oder Aufregung, mit unterirdischen Fangarmen, die keine bestimmte Form mehr haben, sich, wenn es notwendig ist, verlängern oder verbreitern, und sich wie ein Blutstrom bewegen, und man ist dieser Strom und ist gleichzeitig man selbst: Momente höchster Güte.

 

Peter Pessl

Zeitgenössische österreichische Literatur

Nicht eigen

„Nicht eigen (Miniatur),
für Claude Lévi-Strauss“

14. Mai, Dongpo.
Die übermächtige, glasierte Nanda Devi (7816 Meter)
sah ich aufgehen
als Blütenhaupt des nahen Himalaya (Weisszwirn),
der das engverborgene Tal des Sutlej,
das (hier) auch Garuda-Tal genannt wird
und, so wissen meine liebsten Historiker, das Zentrum des Bön-Königreichs Shang-Shung war,
(weithin) parallel als Riegel Schanze Drachenkamm
vom indischen Subkontinent abtrennt.
Von den achtzehn Mythos-Königen der Chronik von Shang-Shung,
so erzählte mir Pasolini, regierten drei im Garuda-Tal:
Letra Guge, der mit der gehörnten Krone aus klarem Licht,
Gyungyar Mukho, der mit der gehörnten Krone des Regenbogenlichts,
Kyile Guge Unchen, der mit der gehörnten Muschelkrone.
Blutgeruch als das Identische.

Im Schwemmland Sinter von Dongpo beeindruckt
die Streuung der Funde
aus Eis und Glas (ich fand Nasen,
Ringe, Methangas.
Blüten, Kräuter Korallenriffs waren nicht viele, dafür Wasseradler
(braune, schwarzschwarze, lamentierende,
die einkreisten)


und mich, am Gegenhang, aufmerken liessen ein erbrochenes
und ein neuerbautes Männerkloster
(tropfenweise):
welches war welches?

Überaus „nicht mehr“,
„nicht mehr über Strömungs-Störungsreste hinaus“,
gab sich der kleine, retardierende Siedlungskern,
der vorzeiten Vorhut einer zinnoberrot-weissen Grotten- und Königsstadt gewesen war, und dessen meiste, nach Jahrhunderten stetiger Zerstreuung, Minderung Inversion verbliebene Einwohner, beim Einmarsch der chinesischen Truppen über die nahen Pässe des Himalaya ins indische Garhwal,
nach Kinnaur geflüchtet waren
(und zwar ohne Wiederkehr).

Tagelang sah ich nur „auf“ und „vor“
(wenige mittelbare Einzelheiten fielen mir auf).
Wochen später notierte ich: „Genaugenommen zwei
und zwei leichte Wüstentage, zählten wir doch die schlaflosen Nächte mit ein“, folgten wir dem Sutlej-Canyon,
(eine arschglatte Militärpiste benützten wir sicher nicht),
dessen Abbrüche Einrisse (wirre) Konglomerate
(leicht) hunderte Meter, auch senkrecht, abfielen:

„An einer Spick
und Spina,
an einer Klause sah ich,
dass der Fluss (in der Hypertiefe)
nur mehr Mühle war,


Walze (geräuschlos),
ein Flur!“
(Den Flursalamander sah ich nicht,
aber Dagmema, die ihr erhabenes Geburtsland
(in einer vereisten Verblockung) mit Handzeichen grüsste,
mit Klangzeichen (sie benützte dafür ein Schwirrholz,
das summte),
erzählte mir vom „Khyung“, dem gehörnten Feuervogel
und allgegenwärtigen Schützer des Tales,
in einem Quelltraum
(der Modellfauna)
ihrer Bergwüstenheimat.)

Wir konnten ungehindert (fliegend) gehen: man sah uns nicht.
Ich konnte selbst rufen, man hörte mich nicht.
Ich fand heisse Quellen, die ich nicht gesucht hatte.
Der Fliesstraum wurde mein Eigen
(misstraute ich doch der festen Form
und der wachen Verkörperung
ganz und gar!)

Pasolini, den Hüter der Herden
(der Holden), der darauf bestand Italiener
(Norditaliener, Friulaner, mindestens aber Mecker-
Europäer zu sein), antwortete ich:
„So finde ich im weglosen Streifen
kein Aussen, kein Innen
(„Bringschatten, blaue“ bilde ich mir ein zu sehen),
so weiss ich nichts von der Beobachtung
der, mehr oder weniger, unverständlichen Fremden


(von denen Lévi-Strauss sprach),
denn fremd ist mir nichts
(und niemand)
und bin ich nicht,
nicht eigen,
da ich nicht bin.
Da ist nichts.
Da ist nichts (weiter) zwischen mir und
den Anderen.
Den Anderen (definitiv)
gibt es nicht!“

Aus: Formiert aus Luft, Aufzeichnungen aus dem Himalaya, Teil 3.
Ritter Verlag, Klagenfurt 2010.

Doris Nußbaumer

Zeitgenössische österreichische Literatur

Rohrbacher Texte

Die Sprache die Landschaft

Schmetterlinge, bunte, viele, diskutieren eifrig miteinander über Blüten.
Ein Traktor meckert eine Staubwolke.
Wolkengefieder, luftiger Eiflaum, behauptet kategorisch: Das ist halt so.
Weiße Winden stellen sachlich fest, was ich nicht weiß.
Maiskolben kichern beschwipst vor sich hin.
Grünbraungelbe Maiswedel geben achselzuckend nichts zu.
Die grünen gedellten Schwerter rezitieren Nonsens-Gedichte: scha-la-la-lapp!, blilp! und: gulupp!
Ein schwarzer Vogel von links, ein weißer Schmetterling von rechts und ein Flugzeug von schräg führen Sondierungsgespräche.
Bleiblaue Blumen am Bankett lallen im Delirium vor sich hin.
RAAG! RAAAG! RAAG! behaupten schnarrende Vögel, und einen Atemzug später riecht es nach Wasser.

Name nämlich Labyrinth

Du wirst ein Bild sehen, ich verspreche es dir, bis jetzt hat noch jeder und jede ein Bild gesehen, nun schau nicht so zweifelnd, doch, du hast mit der Wimper gezuckt, mit der siebzehnten links vom Augenwinkel an gezählt, zweifle nicht, erwarte das Bild, das dir den Namen gibt, den Namen, der dich von jetzt an begleiten wird, erlaube den Formen, den Mustern, sich zu manifestieren, wähle nicht aus, das Bild wird dich wählen; wenn du es siehst, glaub sofort, was du siehst, es kann alles sein, es kann sein die Rose, die einen geschwungenen Eisenbalken in der Blüte trägt, es kann sein ein Propellerflugzeug, das in den Wolken verschwindet, es kann sein die Steinschleuder ohne Zugband, es kann sein ein fliehendes Gespenst, es kann sein eine Maus, der die Ohren davonfliegen, es kann sein der Schmetterling mit den Tragflächen aus Beton, es kann sein das Auge am seidenen Faden, es kann sein die naiv dreinschauende Schlange, es kann sein die zögernde Katze, es kann sein der Storch, der quer dem wolkenverhangenen Berg flieht, es kann sein die zwei Hügel hinter dem See, es kann sein das Gebüsch aus Rosa und Grün, es kann sein die Bergkette, von der ein Wasserfall stürzt – es kann alles sein, es kann nie nichts sein, vertrau deinen Bildern, fang an!

Zum Teich I

Wispert das, babbelt das
blibberiblabbert was
rohrrundes Quellchen
aus weißem Quarzit
sibbelt und sabbelt dir was
plaudert geläufig zum Spaß

Pebbeln und kullern tut das
rubbeln und rullern will das
schrubbern und trullern muss das
es steinchent und kieselt
und kuschelt und schmeichelt
und algt unter Glitsch

Grenzt schön und hütet grün
gittert, gesellt und begrüßt
da drüben hell fiedert
büscht pampaslufthoch

Lieblicht das Kleinschilf
tanzen putzig die Kolben
herzschwimmen die Blätter
tragen Kleingelbgeblüh

Zum Teich II

Es ist ein Weg, staubig und heiß, es ist eine Straße, zum Fahren, mit Lärm, es ist ein Geraschel und Gerede von Mais, es ist ein Hügel, der den Weg aufsaugt, bergan ihn verschluckt, verbirgt, das Land hinter dem Hügel heißt Neugier.
Es ist Gebüsch und Gesträuch, das langsam zur Seite rückt, den Blick ausweitet: zu einem Blau, das da kuschelt, einfach da liegt, mit seinem Schilf spielt, seine Vögel trägt, sie mag und schützt und selbst geschützt ist, nur sich selbst gehört und mir fern bleibt. Fern bleiben muss.

Erika Kronabitter

Zeitgenössische österreichische Literatur

Die Verpackerin

Die Fremde wird nicht zur Heimat, nur weil man hier Arbeit hat. Man vergisst die Trauer, ein Flor, der sich über die Gedanken legt, eine Gedankenverwehung. Schwebende Blütensamen, der sich zwischen dem Haar verfängt. Die Sehnsucht bleibt. Wie lange sie schon in diesem Land lebte, wusste sie nicht genau. Dumpfe Nächte waren es, Aufgeregtheit, angstvolle, über so viel eigenen Mut. Ganz am Anfang hatte sie noch gezählt, die traurigen Tage, die anstrengenden, an denen sie zur Arbeit ging, Tag um Tag um Tag, aus denen Wochen wurden, Wochen, Wochen, Monate.

„Warum bist du gekommen?“ „Warum bleibst du?“ wurde sie gefragt. Auch das wusste sie nicht genau. Antwort zu geben ist kompliziert. War es nur das Geld oder war es noch etwas anderes, warum sie geblieben war?

Ein warmer Wind hatte übers Land gestürmt, in alle Ritzen und Ecken. Sie hatte an zu Hause gedacht. An die Großmutter und an die Eltern. Hatte sich ins Vertraute zurückgesehnt. Ins Vertraute gesehnt und an die Zukunft geklammert. Zukunft war Neues. Etwas unbestimmtes Neues. Etwas, das hier passieren konnte. Von dem sie sich erhoffte, dass es sich ereignen würde. Darum war sie wohl geblieben.  Es gibt immer Gründe, warum etwas ist. Auch das Bleiben hat seine Gründe. Das Gehen und das Bleiben.

Der Wind hatte die Bäume geschüttelt, die sich aufbäumten, ein wildes Aufbäumen. Als ob sie sich am fliehenden Himmel festkrallen wollten. Demütig  die Sträucher, die sich zu Boden bogen. Kein Trillern der Vögel durchbrach das Zurren und Knurren, nur ein tiefes Brausen, ein lautes Singen. Am Himmel flitzen als Wolken getarnte Segelschiffe, jagten über einen Himmel, der so grellblau war, als ob die Erde von riesigen Leuchtbuchstaben zusammengehalten worden wäre.

Dann setzte der Regen ein. Die Bäume hatten bei ihrem Kampf viele Blätter verloren, blattlos und widerspenstig stand das Dickicht an den Strassenrändern und tropfte und strotzte voll Widerstand.

Inzwischen hatte sie aufgehört zu zählen. Tage waren es schon zu viele. Wie oft war sie aufgewacht, eingeschlafen in diesem fremden Land, das sie nicht gerufen hatte, das sie sich selbst ausgesucht hatte. Das sie langsam ein wenig kennen gelernt hatte und in dem sie sich immer sicherer bewegte. Es gab Menschen aus ihrem Heimatland, mit denen sie sprechen konnte. Bei denen sie wohnte.

Die Sprache des Neuen verstand sie noch immer nicht, sie hatte bereits drei Sprachkurse gemacht, natürlich wollte sie die Sprache des Landes sprechen, aber es waren Halbkurse, denn oft war sie zu müde gewesen, oft hatte sie zu lange arbeiten müssen. Immer wieder begann sie mit dem Grundkurs, um die Wörter endlich, endlich im Klang der Einheimischen sprechen zu können.

„Du nix…Du wollen…Du müssen.“ So durfte sie nicht sprechen. Das kennzeichnete sie als Fremde. Ihre kamelbraune Haut leuchtete bronzen und so wie sie die Menschen hier von jenen ihres Landes unterscheiden konnte, so sicher wurde auch sie als Fremde erkannt und angesprochen. Man sprach sie anders an als sich die Menschen untereinander ansprachen. Sie bemühte sich trotzdem, in ganzen Sätzen zu denken. In ganzen Sätzen zu sprechen. Man blieb abwartend. Eine Zurückhaltung, die ihre Großmutter als Zurückweisung bezeichnet hätte, war in den Gesichtern der Menschen zu lesen.

Eines Nachts hatte der Schnee alles zugedeckt und sie wusste, es war nun fast ein Jahr, das sie hier lebte und arbeitete und arbeitete und alles verlief und lief und verlief. Und die Traurigkeit war verlaufen und die Sehnsucht war verlaufen. Sie arbeitete und arbeitete. Der Arbeitsplatz war ihr Brunnen, der Brunnen, der das Wasser gab in Form von Geld. Von dem sie einen Grossteil an die Eltern schickte. Und sie arbeitete und telefonierte und sprach bei ihren Telefongesprächen von einem Besuch, einem baldigen Besuch, von dem sie wusste, dass es ein ferner Besuch war, ein Besuch, der irgendwann in der Ferne lag.

Im vierten Sprachkurs, der immer noch der Grundkurs war, wurde sie von der Lehrerin angesprochen, die sie näher kennen lernen wollte, mehr wissen wollte über ihre Herkunft, über die Eltern, „Sie sind ja noch so jung“ und „Fühlen Sie sich nicht einsam“ und „Heute sehen Sie aber sehr müde aus“ und der sie erzählte von den vielen Stunden Arbeit und ihrer Müdigkeit, die alle Tränen weggemacht hatte und dem Willen, später zu Hause in der Nähe der Eltern eine kleine Wohnung zu besitzen, in der Stadt natürlich oder ein kleines Geschäft. Und ihre Augen wurden gross beim Erzählen von den Träumen und von den Plänen und wurden nach dem Kurs, dann bei der Arbeit, zwischen den Speiseresten, dem süß-sauren Hühnchen und der Peking-Ente wieder matt und klein und waren spätnachts beziehungsweise früh morgens, wenn alles wieder aufgeräumt, das Geschirr gewaschen und die Tische für den nächsten Tag frisch gedeckt waren, wenn sie endlich heimgehen konnte, tot.

Erst an ihrer nächsten Arbeitsstelle, die ihr die Sprachlehrerin vermittelt hatte, war ihre Lust am Leben wieder erwacht.

Nicht nur, dass sie als Verpackerin viel mehr verdiente als je zuvor. Ihre eigenen Landsmänner hatten sie als billige Arbeitskraft missbraucht, hatten sie um das Trinkgeld betrogen. Um viele Stunden, die sie gearbeitet hatte, die sie mehr gearbeitet hatte, weil so viele Gäste im Lokal gewesen waren, weil diese weit über die Sperrstunde hinaus an den Tischen gesessen waren und Pflaumenwein und Reiswein getrunken hatten, um all diese Mehrstunden hatte man sie betrogen. Niemand, der davon gesprochen hätte. Die Chefin sprach genauso nicht davon wie ihr Chef nicht darüber sprach. Weder, dass sie einmal hätte früher nach Hause gehen dürfen, noch, dass ihr mehr Lohn ausbezahlt worden wäre. Es war so, dass die Chefin auch das Trinkgeld für sich einbehielt.

Und sie selbst hatte niemanden, den sie fragen konnte, wie dies eigentlich sei. Und warum sie immer so müde sei und ob die anderen ebenfalls diese Müdigkeit spürten.

Wenn sie im Nachhinein darüber nachdachte, hatte sie schon deshalb nicht gefragt, weil sie diese Frage gar nicht gedacht hatte. Weil sie gar nicht über ihren Lohn oder ihre Arbeit nachgedacht hatte, sondern lediglich immer daran, schlafen zu wollen.

Nicht nur, dass sie also an dieser neuen Arbeitsstelle viel mehr verdiente, sondern die vielen Stoffe und Farben waren eine Augenweide, weiteten ihre Augen, sie spürte die Weichheit, hörte die Geräusche, wenn sie über die Wolle strich, über Tüll, über Seide. Hörte beim Streicheln der Stoffe den mongolischen Atem des Windes, sie packte BHs in kleine Nylonsäckchen, etikettierte und ordnete sie, Slips, Shirts, Pullover, Röcke, Hosen, Kleider. Strümpfe, Handschuhe, Socken, Mützen. Es waren bunte Farben, Tupfen, Streifen, gelocht, bedruckt, gewebt und bei manchen Stoffen erinnerte sie sich an die bunten Stoffe in Großmutters Jurte, erinnerte sich an die Großmutter, die sicher in der Jurte sass und eines der bunten Kopftücher bestickte.

Großmutter wollte es sich nicht nehmen lassen. Dort war sie gross geworden und hier wolle sie auch sterben, sagte sie und niemand, auch nicht die besten Überredungskünste ihrer Tochter, hatte sie überzeugen können, dass ein Leben in einem Steinhaus, in der Nähe der Stadt um so vieles komfortabler wäre, so viel sicherer, bei Krankheit viel schneller der Arzt oder medizinische Hilfe geholt werden könnte.

„Jeder muss sterben,“ sagte Großmutter. „Ich möchte das Stampfen des Pferdes hören und nicht das Stampfen der Maschinen, ich möchte vom Blöken der Schafe geweckt werden und vom Atem der Kamele. Und abends möchte ich da drüben die Sonne im Gold der Hügel versinken sehen und nicht von den dunklen Dämonen der Hochhäuser erdrückt werden.“

Es war Frühling geworden, die Kirschblüten leuchteten wie Brautkleider an den Bäumen. Die Kirschen reiften und später die Äpfel, die Birnen, wilde Gewitter zogen übers Land, Blitze und Regen peitschten über den Himmel. Dann wurden auf manchen Feldern Kartoffelfeuer gemacht, es kamen wieder die Herbststürme mit gewaltigen Wolkenbergen und Schnee, Schnee. Schnee. Die Menschen arbeiteten in den Städten und fuhren in ihrer Freizeit aufs Land. Und umgekehrt.

So kamen die Jahre und gingen, kamen neue und gingen und Uyaanga packte die BHs und die Slips, T-Shirts und Shorts, Röcke, Kleider und Hosen in Nylonsäckchen, etikettierte und ordnete sie, je nach Bestellscheinen in kleinere und grössere Päckchen, je nachdem, wieviele Artikel der jeweilige Besteller in Auftrag gegeben hatte. Abends streunte sie durch das Lager, betrachtete und prüfte die eingelangte Ware. Strich mit der Hand über ein Material, das sie besonders anziehend und unwiderstehlich fand. Und immer wieder kam es vor, dass sie für sich selbst ein Kleidungsstück kaufte. Dann kam es vor, dass sie am nächsten Tag gerade jenen BH trug, den eine Kundschaft auf ihrer Bestelliste hatte. Sie stellte sich die Frau vor, die bald den gleichen BH wie sie tragen würde, dachte über ihre Haarfarbe nach oder ihre Augenfarbe, an die Hautfarbe oder ob sie schlank oder dick, jung oder alt sei, ob es ein kleiner Busen sei, der mit diesem BH ins Licht gehoben wurde, zum Anblicken ins Licht gerückt oder ein überquellender, der in viel grössere Körbchen gesteckt gehörte.

Anhand der Namen konnte sie unterscheiden, ob eine Frau oder ein Mann der Adressat des Paketes war. Sie bemerkte, dass es meist Frauen waren, die als Empfängerinnen der bestellten Kleidungsstücke aufschienen.

Immer wieder kam es vor, dass ein bestellter Artikel nicht im Lager war und auch nicht mehr geliefert wurde, in der nächsten Zweigstelle nicht mehr erhältlich. Sie stellte sich die enttäuschten Gesichter vor. Die Enttäuschung, wenn dieses T-Shirt oder jener Pulli nicht im Paket war, die Schuhe fehlten, die in derselben Farbe zu einem Kleid bestellt worden waren oder die passende Handtasche nicht mitgeliefert wurde.

Eines Tages beschloss die Verpackerin Uyaanga, den BestellerInnen Ersatzstücke zu liefern. Anhand der Bestellung wusste sie bereits, ob es sich um eine zierliche oder kräftigere Frau handelte, die dieses Kleidungsstück tragen würde. War ein Pullover nicht lieferbar, suchte sie im kompletten Angebotssortiment nach dem am ähnlichsten Stück oder aber, und dazu ging sie später mehr und mehr über, sie wählte ein konträres Stück, das sie der Kundschaft lieferte. Manch einer Kundin legte sie ein enges T-Shirt bei, obwohl diese eine locker-weite Bluse bestellt hatte, für manche Frau, die ein langes Kleid bestellt hatte, wählte die Verpackerin ein kurzes in derselben Grösse aus.

Die Pakete kamen zurück. „Fehllieferung“ stand da oder „Falsche Ware“ . Auf den Rücksendeformularen war die Rubrik „Entspricht nicht dem bestellten Artikel“ angekreuzt. In manchen Paketen lagen Briefe, Verärgerungen, gar Beschuldigungen. Die MitarbeiterInnen der Versandabteilung sollten besser arbeiten, seien faul, sollten sich bei der Arbeit konzentrieren. Uyaanga bezog die Anschuldigungen auf sich. Natürlich bezog sie alles auf sich. Sie war es auch, die die Pakete versendet hatte. Sie solle sich in ihrer Abteilung zusammenreissen, diese Unkonzentriertheit sei eine Frechheit und allerlei Erbosungen und Beschimpfungen musste sie über sich ergehen lassen. Wohin hätte sie mit dem Schreiben auch gehen sollen? Sie hatte doch selbst die Ersatzlieferungen durchgeführt, über die sich die Kundinnen nun so sehr aufregten, hatte die Sendung vorgenommen ohne Aufforderung durch die Kundschaft und ohne Aufforderung durch den Chef.

Was du mit der einen Hand nicht geben kannst, gib mit der anderen, dachte sie. Sie hatte Enttäuschungen vermeiden wollen. Es war falsch herausgekommen. Niemand fühlte sich getröstet durch den Ersatz, niemand wolle etwas anderes als genau jenes, das auf den Bestellscheinen notiert war. Lange sass sie abends über den Briefen. Es waren zurückweisende Briefe. Wenn der Schnee die Blumen verdeckt, male die Sonne.

In Gedanken sprach sie mit den Menschen, die ihr diese Briefe geschrieben hatten. Sie begann, ihre Gedanken aufzuschreiben. Erklärungen. In ganzen Sätzen. In langen Sätzen.

„Liebe Kundin Martina Wanko,“ schrieb sie. „Sie haben einen Pullover bestellt. Grösse 40, karminfarben, aus leichter Baumwolle. Dieser Pullover ist nicht mehr lieferbar. Und ein Kleid derselben Grösse, sonnenblumengelb, ein Baumwoll-Leinen-Gemisch mit Knittereffekt. Da unsere Firma den Pullover nicht mehr liefern kann, habe ich für Sie ein anderes Stück aus unserem Angebot ausgesucht.“

Die Briefe zeigte sie vor dem Absenden ihrer Lehrerin. Die war zufrieden, machte hin und wieder eine Anmerkung, verbesserte den Satz oder die Wortstellung. „Das werden wunderbare Geschichten,“ sagte sie und gab ihr die verbesserten Briefe zurück. Aber es waren keine Geschichten, die sie schreiben wollte. Es waren Gespräche mit ihren Kundinnen. Erklärungen warum und wieso.

„Aus dem großen Angebot, das unsere Firma anzubieten hat, habe ich daher diese rote Jacke für Sie gewählt. Eine zarte Seidenjacke, die knistert wie ein Windhauch im Steppengras, das Morgenrot der Jacke wird sich über das Sonnenblumenkleid legen und Sie mit einer leichten Sehnsucht nach der Ferne erfüllen.“

„Liebe Kundin,“ schrieb sie ein anderes Mal. „Das Kleid in der gewünschten dunkelblauen Farbe ist nicht mehr lieferbar. Als Ersatz biete ich Ihnen ein Kleid in der Farbe des mongolischen Himmels an. Es ist der Abendhimmel, kurz vor dem Sonnenuntergang. Der Himmel meiner Heimat färbt sich abends weit drüben am Horizont in jene Farben, die dieses Kleid besitzt. Ich wünsche Ihnen damit viel Freude, Wärme und die unbegrenzte Freiheit.“

„Diese Unterwäsche ist zwar nicht die von Ihnen bestellte,“ schrieb sie in einem weiteren Begleitbrief, „Sie werden jedoch die Hitze des Feuers spüren und verbreiten. Die Abschlüsse des Slips sind so gearbeitet, als ob Sie Ihr Liebster umfasst und das Oberteil bietet genau jene Offenheit, damit Ihr Busen seinen zarten Duft verströmen kann. Ihre Verpackerin.“

Statt Rücksendepaketen mit der Aufschrift „Fehllieferung“, „Falsche Ware“ oder Rücksendeformularen mit „Entspricht nicht dem bestellten Artikel“ erhielt Uyaanga nun hand- und computergeschriebene Briefe, adressiert an ihre Firma. Mit dem Zusatz „An die Verpackerin“. Das Büro leitete die Briefe ungeöffnet weiter.

Dankesbriefe, Sehnsuchtsbriefe, Hoffnungsbriefe waren es. Die Menschen bedankten sich für das Schreiben und schrieben wundersame Sätze. Sie erzählten davon, dass das Kleidungsstück, das sie nicht bestellt hatten, ihr Lieblingskleidungsstück geworden sei. Kleine Episoden, die sie mit dem Kleidungsstück schon erlebt hatten, schickten Gedanken und Gedichte über das Beengtsein und die Weite. Über den großen Himmel, der tief ins Innerste reicht. Eines Tages erhielt sie eine Bestellung mit dem Satz: „Senden Sie mir ein Kleid nach Ihrer Wahl. Grösse 38.“ Dies war unüblich. Die Verpackerin setzte sich vor den Brief, betrachtete den Satz. Betrachtete die Unterschrift und liess das Bild der Kundin in sich auferstehen. Machte sich eine Vorstellung von einer Frau mit kurzem Haar und schmalem Gesicht. Oder sie stellte sich eine breithüftige Frau vor, mit dunklen Locken. Immer öfter erhielt die Verpackerin Bestellungen mit diesem Satz.

Das Unübliche wurde immer üblicher.

Margret Kreidl

Zeitgenössische österreichische Literatur

Kosmetikerkuss

Lucas und ich fliegen nach Australien. Wir fahren zum Flughafen, dort steht schon unser Bus. Wir steigen ein und suchen unsere reservierten Plätze. Im hinteren Teil des Buses ist nur mehr ein Platz frei. Lucas setzt sich. Er sagt, ich soll mir auch einen Platz suchen. Ich gehe durch den Bus nach vorne. Ich frage einen Mann auf Englisch, ob der Platz neben ihm noch frei ist. Er antwortet auf Deutsch und fragt mich, woher mein Englisch kommt. Von Shakespeare, sage ich. Wir beginnen zu reden, small talk. Dann fragt er, ob ich Hunger habe. Ja. Wir gehen in die Bord-Küche. Sie ist gar nicht so klein, wie ich gedacht habe. Ich mache in einer großen Pfanne Palatschinken, mit sehr viel Fett. Da wird sogar etwas für die Stewardessen übrigbleiben, sagt der Mann. Wir essen die Palatschinken mit den Fingern aus der Pfanne. Wie heißen Sie eigentlich, frage ich. Ich heiße Hänsel, sagt er. Ich bin die Gretl, sage ich, aber ich heiße Margret. Er fragt, wo ich herkomme. Aus Wien. Ich komme aus Niederösterreich, sagt er. Wenn du mich besuchen kommst, und es fährt in der Nacht kein Bus mehr, dann kannst du bei mir schlafen, und ich gebe dir einen Kosmetikerkuß. Ich weiß nicht, was ein Kosmetikerkuß ist, aber ich traue mich nicht, ihn zu fragen. Er lächelt mich an, holt ein Taschentuch aus seiner Hose und legt es auf meinen Mund. Ich spüre einen ganz zarten Stoff. Er küßt mich, er steckt die Zunge in meinen Mund, der Stoff ist immer noch da. Er greift mich überall an, am Busen, zwischen den Beinen. Ich lege die Hand auf seinen Schwanz und spüre ihn hart werden.
Einfache Erklärung: Der Stoff, aus dem die Träume sind.

Ilse Kilic/Fritz Widhalm

Zeitgenössische österreichische Literatur

Oh Menschenherz

oh menschenherz was ist dein im falschen liegendes glück?
die biene wohnt im bienenstock
der freund im nächsten häuserblock
der gedanke wohnt im kopf
die suppe wohnt im suppentopf
der kopfschmerz lebt hinter der stirne
der wurm sitzt drinnen in der birne
der schneemann wohnt in der natur
der schatten siedelt in der kur
der adler wohnt im adlerhorst
das sanfte reh bewohnt den forst
im album haust die poesie
im chaos nistet harmonie
im morgen wohnt bereits das heute
den raubtierbauch bewohnt die beute
das kapital bewohnt die bank
wer ein spital bewohnt ist krank
der fisch wohnt im aquarium
in einer glocke wohnt das bum
im gesetzbuch wohnt die tat
in der anarchie der staat
der hund wohnt in der hundehütte
der irrtum wohnt in unsrer mitte
der einkauf wohnt im plastiksackerl
das geschenk bewohnt ein packerl
eine schloßfrau wohnt im schloss
das herrschaftshaus bewohnt ein boss
der opa wohnt im altersheim
in der lunge wohnt der schleim
das kind bewohnt das gitterbettchen
im käfig lebt das zahme frettchen
das schwein bewohnt den schweinekobel
die hobelbank bewohnt der hobel
die armut wohnt im armenhaus
im reichtum wohnt der festtagsschmaus
in operetten wohnt das glück
in filmen wohnt der zeichentrick
benzin bewohnt den autotank
auf den straßen wohnt gestank
das zuhause wohnt im wohnen
das bestrafen im belohnen
an den armen baumeln hände
der letzte vers bewohnt das ende

Manfred Chobot

Zeitgenössische österreichische Literatur

Zweimal Cyberglück

MEIN REICHTUM IST AUSGEBROCHEN

          Ich bin reich! Unermesslich reich, und jeden Tag werde ich reicher. Ich gewinne in den Niederlanden eine Million, in Großbritannien drei Viertel einer Million, auch in Belgien und der Slowakei rase ich die Gewinnstraße entlang oder hinauf oder hinunter, ich weiß längst nicht mehr, wie es um mich steht.
Aus Südafrika vererbt mir ein Verstorbener seine Millionen, mit denen seine kinderlose, unheilbar kranke und fast siebzigjährige Witwe nichts anzufangen weiß. God bless you! Und wie Er mich geblesst hat: ein wahres Wunder, dass die arme, vermögende Witwe mit letzter Kraft kurz vor ihrem Tod meine Mail-Adresse im Internet gefunden hat. Gäbe ja einige, die infrage kämen, weltweit ein ganzer Haufen, aber ausgerechnet mich hat die Todeskandidatin auserkoren, ihre Erbschaft zu übernehmen. Bereitwillig trete ich sie an. Da lässt sich schon mit Millionen rechnen. Im ersten Moment dachte ich gar, sie wolle mich heiraten, aber auf eine Mischehe hat sie es nicht angelegt. Ich konnte meine Überlegungen zügeln, ob ich zu ihr ziehen oder sie zu mir nach Hause übersiedeln würde. Mich abzuschleppen, darauf kam es ihr nicht an.
In Nigeria dürften sämtliche im Erdölgeschäft involvierten Manager epidemisch durch Flugzeugabstürze oder Autounfälle ums Leben kommen. Erdölmanager scheint in dieser Region ein gefährlicher, wenn nicht sogar genetisch letaler Beruf zu sein. Zumal der Rest der Manager an Krebs stirbt. Nicht ums Verrecken würde ich in Nigeria ein Flugzeug besteigen oder mich in ein Auto setzen. Jedoch vor ihrem Ableben gelang es ihnen allen, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Millionen auf die sichere Bankkontenseite zu schaffen. Nun liegen sie müßig herum, die Millionen, anstatt zu arbeiten, wie es sich für ein anständiges Kapital gebührt. Selbst wenn mir nicht sämtliche dieser trägen Millionen überwiesen werden, täten sich liebend gern ein paar von ihnen zu mir verirren. Leider kann ich nicht alle Unfallopfer beerben und mich womöglich mit ihren Witwen einlassen. Einige von ihnen haben unmündige Kinder hinterlassen, für die müsste ich allerdings sorgen.
Ehrlich gesagt, ist die Aufzucht von Kinder nicht mein Metier. Lieber lasse ich meine Millionen krachen. Jetzt kann ich es mir leisten, meine Ehefrau zu betrügen. Offenbar haben ein paar Mädels Wind davon bekommen, wie es um mich steht. Sie schreiben mir, dass sie es kaum erwarten können. Ein paar verfolgt der Gedanke an mein Spatzerl sogar bis in ihre unruhigen Träume. Anstatt bloß und keusch zu schlafen, bestehen Anja und Anke und Anita und Aurora darauf, mit mir au pair in der Morgendämmerung zu erwachen. Sie sind alle so was von scharf auf mich, haben mehrere Ewigkeiten vergeblich gewartet und sich für mich aufgespart. Was bleibt mir anderes übrig, als abzuheben und meine ersparten Millionen mit geilen Girls auf den Schädel (oder sonst wohin) zu hauen.
Eine Agentur liefert jegliches Alibi. „Sie springen gern – springen dann und wann auf die Seite? Kein Problem. Ihre Ehefrau muss davon nichts erfahren. Springen Sie nicht zur Seite, sondern machen Sie einen Schritt auf uns zu. Wir sind dazu da, Ihnen einen Grund zu verschaffen, worum Sie zu spät oder eine ganze Nacht nicht nach Hause kommen konnten. – Für uns kein Problem. Wir sind ein seriöses Unternehmen, Dienstleistung ist unsere Stärke. Wollen Sie ein paar entspannte Tage auf Reise verbringen? Wir beraten Sie. Auf uns können Sie bauen, Ihr Vertrauen ist unser Verschweigen.“ Die Betreuung ist ausgezeichnet, ich kann sie jedermann empfehlen. Tatsächlich ist der Stab an Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bestens ausgebildet, ihre Kreativität sprüht vor Bereitschaft und selbstlosem Einsatz. Sie holen das letzte aus sich heraus und geben alles, was sie haben und wozu sie fähig sind. Womöglich sogar mehr. Das ist allerhand. Gewisse Spesen sind natürlich unumgänglich. Leistung muss honoriert werden!
Als wäre ich nicht schon seit langem ein professioneller Glückspilz, flattert ein Brief in meinen Postkasten, auf dem ich schwarz auf grünen Wellen lesen kann, dass ich ein Gewinn-Kandidat bin. Man zahlt mir zehn Jahre lang 500 Euro pro Monat. Was sind die biblischen Wunder gegen meine Gegenwart! „Haben Sie verstanden? Sie sind Gewinn-Kandidat! Der Erhalt ist durch Meldung zu bestätigen!“ Für eine Sofort-Pension rufe ich sogleich an. Sollen sie doch meine Melde-Daten hören: die Reg.Nr. 532768 und meine persönliche Glücks-Nr. 11028374. Die Zeit drängt. Ich bin als Gewinn-Kandidat vorgesehen. „Wie Sie aus der beiliegenden Gewinn-Kandidatur-Bestätigungs-Kopie ersehen, können Sie jetzt Ihre Gewinn-Kandidatur nur noch innerhalb einer Frist von 10 Tagen anmelden. Das hat mein Chef so entschieden. Da kann ich nichts machen“, schreibt mir persönlich der Leiter der Gewinnabteilung. „Das ist jetzt wirklich Ihre letzte Chance. Melden Sie sich bitte umgehend, damit ich meinem Chef gegenüber wieder eine weiße Weste habe und ein reines Gewissen. Mein Chef wird mich sicher morgen schon fragen, ob Sie sich endlich gemeldet haben. Dann möchte ich ihm sagen können, dass Ihre Registrierung erledigt ist. So viel Glück haben Sie nicht alle Tage!“
Schon wieder 60.000 Euro gewonnen! Mein Konto biegt sich bereits.
Inzwischen ist es wegen Überlastung gesperrt. Mir reicht es!

 

MANN DES JAHRES

          Endlich hat man meine Bedeutung erkannt und mich zum „Mann des Jahres“ gewählt!
Zwar habe ich in diesem Jahr weniger erreicht als die Jahre zuvor, hatte keinen einzigen Fernseh-Auftritt, auch die Zeitungen ignorierten mich und hüllten sich in Schweigen, was meine Person betrifft. Keine einzige Zeile war ich ihnen wert. Auch der Rundfunk war für mich nicht zu sprechen. Wenigstens hätte er berichten können, dass ich mich gut fühle. Meine Genugtuung lässt mich über mich selbst hinaus wachsen. Geschieht ihnen recht, dass sie jetzt eines Besseren belehrt wurden, wen sie permanent mit Missachtung bedacht haben. Ignoranten, wohin ich blicke!
Meine Bücher musste ich im Selbstverlag unter die Leute bringen, da in den Redaktionen weltweit leider Dummköpfe das Sagen haben. Dazu schweige ich lieber.
Nachdem mich der Brief des angesehenen Instituts erreicht hatte, habe ich mir eine Flasche Champagner vom Feinsten gekauft und mir selbst zugeprostet.
Damit meine Freunde, Verwandten und Bekannten auch wissen, mit wem sie es in Zukunft zu tun haben, ziert eine Urkunde meine Wohnung. Lange habe ich überlegt, wohin ich sie hängen sollte, bis ich zu dem Entschluss gelangte, die Urkunde über dem Esstisch in meinem Wohnzimmer anzubringen, wo man sie sogar von der Sitzbank sehen kann. Lesen kann man von dort allerdings nur meinen Namen. Ich denke, das muss genügen. Für den Rahmen habe ich blauen Samt gewählt. Roter Samt wäre mir ein wenig aufdringlich erschienen.
Die Urkunde ist überaus wertvoll! Auf Pergamentpapier mit Goldschrift ausgeführt. Samt Siegel und Unterschrift des Präsidenten sowie seines Stellvertreters. Das Siegel mit dem Band glänzt in herrlichem Rot.
Selbstverständlich war ich bereit, für diese kostbare Urkunde 1000 Euro zu bezahlen. Das bin ich mir selbst schuldig. Andernfalls würde niemand um meine Verdienste wissen. Alle unsere Zeitungen habe ich informiert, dass ich zum „Mann des Jahres“ gewählt wurde. Obwohl sie die Meldung nicht abgedruckt haben, kennen sie nun meinen Namen und wissen, was ich geworden bin. Für jene, die ich nicht zu mir nach Hause einlade, trage ich seither einen Orden an meiner Brust. 500 Euro war mir die Ehre wert. Da ich nicht ständig mit einem Orden an meinem Hemd herumlaufen mag, habe ich mir natürlich auch die Anstecknadel für 300 Euro zuschicken lassen, die mit meiner Auszeichnung verbunden ist. Sie ist sehr dezent, ich trage sie stets an meiner Krawatte. Sie ist ein geheimes Zeichen, das jeder Eingeweihte sogleich erkennt. Schließlich muss nicht jeder wissen, dass ich zum „Mann des Jahres“ gewählt wurde. Ich bin kein Politiker, kein Wissenschaftler, kein Journalist, keiner, der sich in der Öffentlichkeit in den Vordergrund drängt. Ich ziehe die distinguierte Zurückhaltung vor. Den eigenen Wert kennt man nur selbst!
Die Servietten sowie das Tischtuch mit meinem eingestickten Namen und dem international anerkannten Logo „Mann des Jahres“ habe ich nicht bestellt. Zwar wäre es mir auf die 200 Euro nicht angekommen, aber ich möchte keinen Kult um mich. Alles, was recht ist.
Meine Neider verkünden inzwischen lautstark, die Wahl zum „Mann des Jahres“ habe irgendein Computer irgendwo in Großbritannien getroffen, jedoch sind Computer keine Deppen, die nicht wüssten, worum es ginge.
Es beruhigt mich jedenfalls, dass es nicht unbemerkt geblieben ist, was ich leiste.
Glücklicherweise bin ich nicht eitel. Andere an meiner Stelle hätten vermutlich den selbsthaftenden Aufkleber für die Windschutzscheibe sowie die Spezial-Griffe mit dem Logo „Mann des Jahres“ für ihren Wagen bestellt. Da ich keinen Wagen fahre, genügt mir die geschmackvolle Klobrille mit meinem Namen. Dabei habe ich nicht lange an die hundert Euro gedacht, denn ich bin selbst Brillenträger.
Ehre, wem Ehre gebührt! Damit kann und muss ich leider leben.

Lucas Cejpek

Zeitgenössische österreichische Literatur

Schriftrollen Holzscheite Känguruhs

Ich würde sagen, sie sehen wie Toastscheiben aus: dunkelbraun, teilweise auch gräulich, mit einer sehr brüchigen, lückenhaften Oberfläche, auf der grauschimmernde Tintenspuren erkennbar sind. Die Oberfläche ist uneben, weil die Rollen zerquetscht worden sind, und sie sind naß geworden vom Regen, der die Asche in Schlamm verwandelt hat.
Das ist die einzige antike Bibliothek, die erhalten geblieben ist: 1800 Schriftrollen, die über die ganze Villa verteilt gefunden worden sind, in Herculaneum am Fuß des Vesuvs. Als man sie Mitte des 18. Jahrhunderts fand, wurden sie für verkohlte Holzscheite gehalten und verheizt, bis man die Tinte gesehen hat.
Anfang des 19. Jahrhunderts übergab der König von Neapel dem Prinzregenten 18 Schriftrollen und erhielt im Gegenzug 18 Känguruhs, die alle Mißbildungen aufgewiesen haben. Die Papyri waren auch so zerbrechlich, dass sie nur unter größter Mühe entrollt werden konnten: mit einem Messer, mit Hilfe von Quecksilber, mit einer Tierhaut, die auf die Rückseite geklebt wurde, um das brüchige Material zusammenzuhalten.
Heute wird eine Mischung aus Essigsäure und Gelatine mit dem Pinsel auf der Außenseite der Rolle aufgetragen. Sobald der Film trocken ist, kann er abgelöst werden und die innere Schicht kommt zum Vorschein: der Text, wobei der Papyrus jedesmal, wenn ein Stück abgelöst wird, ein wenig zerbricht.
Um den Text lesen zu können, müssen Sie den Papyrus in Bewegung halten, bis Sie den jeweils richtigen Winkel gefunden haben, bei dem die Tinte zu sehen ist. Manchmal löst sich dabei ein Teil und haftet an der falschen Schicht, und Sie stellen plötzlich fest, dass etwas den Zusammenhang stört, ein Buchstabe oder ein Wort, eine Wortgruppe, ein Satz, eine ganze Passage.