MURTON Musikfestival 2012

Flüsse sind die Lebensadern der Kulturen. Sie verbinden ganze Kontinente und an ihren Ufern hat immer schon der Austausch zwischen Menschen und Völkern stattgefunden. Auch heute noch. Das Grazer MURTON FESTIVAL erkundet diese multikulturellen Begegnungsräume entlang des Flusses, entdeckt und belebt die heißen Sommernächte mit Programmen, die quer durch die Ethnien, ihre Musik und ihre Kulturen führen.

(MURTON GRAZ 2012 Programmheft)

Die Welt am Fluss

Das erstmalig über die neue Freiluftbühne am Mariahilferplatz gehende MURTON Festival for contemporary music styles and culture lässt sowohl verwöhnte Grazer Musikliebhaber als auch Gäste der Stadt ganz schön aufhorchen.

 Es heißt, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Beim neuen Murton Festival gestatte ich mir dieses Lob jedoch schon nach der ersten besuchten Vorstellung. Da kann nichts mehr schief gehen, außer vielleicht, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt. Aber auch in dieser Hinsicht kann Petrus nichts anstellen, denn die neue überdachte Bühne am Mariahilferplatz trotzt jedem Regenguss.

Warum sage ich das? Der für das täglich (bei freiem Eintritt!) präsentierte Hauptprogramm gewählte Platz hat sowohl jahrelange Tradition als auch ein wunderschönes Ambiente. Kopfsteinpflaster, alte Herrenhäuser, moderne Architektur, gute Infrastruktur und ist an ganz Graz sowohl über das Radwegenetz als auch die Tram gut angebunden. Die neue Bühne ist schön, hat eine hervorragende Akustik und bietet 300 sitzenden Zuhörern Platz, sowie noch weit mehr Zaungästen. Und wie eingangs erwähnt, bietet sie auch ein Dach zum Schutz gegen eventuelle Naturgewalten. Sie muss die Stadt Graz wohl Unmengen gekostet haben, wird aber sicher einer Reihe von Veranstaltungen jahrein jahraus gute Dienste leisten. Weitere Venues wie die Postgarage, GMD und das PPC ergänzen mit Nachtvorstellungen.

Vom Programm her ist ebenso ein Hörgenuss garantiert. Mein erster Abend, ein Montag. Ed Partyka, nuBox & Concept Art Orchestra (USA/Deutschland/Tschechien/Slowakei) hat mich schlichtweg umgeblasen. Die solistischen Leistungen aller Musiker waren großartig, Ed Partyka hatte keine Mühen, sich durch hunderte einzelne Seiten Partitur hindurch zu blättern und dabei zu dirigieren, und die synthetischen Einspielungen zu den „6 Movements of Sonification“ gaben dem begeisternden Orchester noch den letzten Touch. „Bigbandtronics“, ein neuer Begriff für meine Ohren. Jazz vom Feinsten.

Heute führt uns Vesna Petkovic auf den Balkan mit Gypsy Brass aus Rumänien. Nicht entgehen lassen.

Überhaupt ist das Programm sehr international, nicht immer Weltmusik im ursprünglichen Sinn, aber Musik aus aller Welt, was am Mittwoch noch in einer sogenannten „Welttafel“ münden soll, wo eine kulinarische Weltreise in 8 Gängen bevorsteht. Inklusive Tischmusik. Ich bin schon gespannt.

Abgerundet wird das Programm nach der „langen Nacht am Fluss“ noch durch einen Happen Literatur am letzten Tag, „a little alien“ im Kulturzentrum Minoriten. Der „Versuch des Ankommens in Worten“ zu Mittag geht abends in die „Spoken Poetry – Die Welt im (Rede-)Fluss“ über. Natalie Resch hat diesen Programmpunkt gestaltet, so wie zuvor schon jeder Tag von einem Kurator präsentiert wurde.

Vielleicht treffe ich irgendwo Hansjürgen Schmölzer, der im Dramaturgie und Presse Projektteam des Festivals mitarbeitet. Vor 30 Jahren haben wir gemeinsam an der Uni Graz studiert. Auch wenn sich an der Mur die Welt trifft, Graz bleibt doch ein Dorf. Wenn auch ein sehr kultiviertes und freundliches Dorf.

Das Festival läuft noch bis zum 19. August 2012. Das Programm gibt es auf www.murton.at zu sehen.

Ed Partyka, nuBox & Concept Art Orchestra © Gerald Ganglbauer.

Graz, am 14. August 2012

La Strada Graz Festival 2012

Über das internationale Straßenfestival “La Strada”, das mittlerweile zum 15. Mal in Graz über Straße und Bühne geht und erstmals mit Maribor kooperiert.

“Alles Große wächst aus kleinen Dingen”

From Little Things Big Things Grow,
Paul Kelly/Kev Carmody, Australien

La Strada und die Straßenliteraturtage

Anfang der 80er-Jahre habe ich in Graz „Straßenliteraturtage“ veranstaltet. Erst lasen junge Autoren mit einfachen Mitteln wie Leitern und Megafon in der Fußgängerzone, dann spielte schon Leo Kysela seinen Blues aus Lautsprechertürmen zu den Lesungen im Stadtpark. Nach fünf Jahren stetem Wachstum, doppelt so großen Plakaten wie am Anfang und mit dem Kampfschrei „Pfui, die Literatur geht wieder auf die Straße“ habe ich schließlich das kleine Festival der Worte aufgegeben, weil ich erst nach Wien und dann nach Sydney gegangen bin. Wer weiß, wo die Grazer Straßenliteraturtage heute wären, hätte ich weiter gemacht.

Einer, der in den späten 90er-Jahren mit einfachem Straßentheater begonnen hat, ist Werner Schrempf, dessen „La Strada“ inzwischen dreimal länger wachsen durfte und diese Zeit auch trefflich genutzt hat. Ich erinnere mich an die Anfänge anlässlich meiner Graz-Besuche, wo in der Innenstadt Straßenkünstler inmitten von verwunderten Passanten auftraten. Nur damit lassen sich keine Eintrittskarten verkaufen, kein Geld herein bringen. Man musste also zusammen mit den Sponsoren (Hauptsponsor Steiermärkische Sparkasse) ein Budget erstellen, das letztlich eines der interessantesten Programme in das kleine Graz gebracht hat, das sich international messen kann. Und ich kann das durchaus behaupten, da ich im Sydney Festival in den letzten zwei Jahrzehnten Zeuge ganz fantastischer Open Air Produktionen war. Straßentheater reicht wohl vom Clown am Straßenrand bis zur aufwendig auf riesigen Gerüsten erbauten Figurentheater-, Zirkus-, oder Performancekunst. Von einer Show unter Mithilfe der Elemente wie Feuer und Wasser, was im großen Maßstab ohnedies nur unter freiem Himmel möglich ist, bis hin zum Theater in Bewegung durch die Straßen einer Stadt. Das ist nach wie vor kostenlos anzusehen, aber dafür auch ein Publikumsmagnet für geschlossene Venues mit verkauften Eintrittskarten.

Interessanterweise kann ich mich aus Sydney auch vor allem an französisch-kanadische und spanische Produktionen erinnern. Das spiegelt sich auch in „La Strada“ wieder. Morgen ist die Eröffnung in der Grazer Oper (was bereits mit kritischen Bemerkungen kommentiert wurde) mit „Les 7 doigts de la main“ (Die 7 Finger) aus Montreal. Wir blicken auf spannende zehn Tage Straßenkunst in Graz.

 Hier nur eine kleine Auswahl an Programmpunkten vom 27. Juli bis 5. August 2012. Das gesamte Programm gibt es auf www.lastrada.at zu sehen.

The 7 Fingers (Kanada)
Sequence 8

„Emotionale Zustände auszuloten, hat die Kunst immer wieder versucht. Bilder, Musik, Drama – nun auch: Akrobatik. Erstmals wagt La Strada die Kooperation mit einer Gruppe aus Übersee, die in Österreich bisher kaum präsent war. Ihre jüngste Produktion „Sequence 8“ entsteht erst in diesem Frühjahr und unternimmt Streifzüge in die so dunklen wie aufregenden Welten des menschlichen Gefühlslebens. Freilich sind die „7 Fingers“ (Les 7 doigts de la main) aus Montreal in der Szene keine Unbekannten: Fein ziselierte Charaktere, virtuoseste Akrobatik, aus­geklügelte Choreografien kennzeichnen die Arbeiten der Gruppe, die international zu den erfindungsreichsten Zirkuscompagnien der Gegenwart gehört. In Quebec entwickeln sie ihre hoch angesehenen Projekte des neuen Zirkus und gelten damit als raffinierter Gegenentwurf zu den Überwältigungsspektakeln der Unterhaltungsindustrie. Für die acht Darsteller rund um Sebastien Soldevila und Shana Carroll zählt neben der körperlichen Virtuosität vor allem die Intensität einer Erzählung, die immer tief unter schimmernde Oberflächen führt. Perfekte Zirkuskunst – von Seiltanz, Jonglage und Clownerie bis zu schrägen Acts mit Skateboards – dient den Darstellern als außergewöhnliches Transportmittel für mitreißende Geschichten mit Tiefgang. Atemberaubend gut, herzzerreißend emotional.“

The 7 Fingers © Studio Pastis

dramagraz (Österreich)
Gott ist ein Deutscher

„Das gelobte Land: Es heißt Deutschland, Italien, Frankreich, Österreich für viele Afrikaner, die nach Europa kommen. Eine von ihnen, eine Namenlose, ist hier, in einem Land, in dem sie sich eine bessere Zukunft erwartet, erhofft, erträumt hat, begleitet und verfolgt von den Stimmen aus ihrer Vergangenheit und von ganz realen Quälgeistern aus den Schlepperorganisationen. Fiston Mujila Mwanza war 2010 Stadtschreiber in Graz. Sein Stück „Gott ist ein Deutscher“ handelt vom Zerplatzen großer Träume und lässt dabei den Hintergrund kolonialer Vergangenheit und die erschütternde Praxis der Migration nicht aus. Folgerichtig wird ein LKW zur Bühne dieses brisanten zeitgenössischen Stückes über ein so allgegenwärtiges wie verdrängtes Thema. Mwanza widmet sich den Wanderbewegungen nach und in Europa, deren Ereignisse und Konsequenzen allzu oft der tagesaktuellen Berichterstattung überlassen werden.“

Jo Bithume (Frankreich)
Far West 2037

„Die nahe Zukunft. Unter Anleitung eines visionären Architekten baut eine Handvoll Männer und Frauen an der Stadt ihrer Träume. Auf einer ausrangierten alten Ölplattform in einem vergessenen Winkel der Welt entsteht ihr Utopia, in dem Wasser, Energie, Müll in einem originellen Kreislauf generiert und entsorgt werden, in dem jeder Bewohner seine Fähigkeiten optimal nutzen kann und alles in schönster Harmonie miteinander koexistiert. Allerdings kommen nach 17 glückseligen Jahren neue Migranten an Bord der utopischen Stadt – und das verändert einiges. Überleben im Angesicht der ökologischen Bedrohung, die Eroberung neuer Lebensräume durch den Menschen, der Versuch, sich an neue Verhältnisse zu anzupassen, das Ringen um Toleranz und Akzeptanz im Umgang mit den anderen: „Far West 2037“ ist reich an Motiven. Und dazu reich an optischen Eindrücken, denn Reininghausgründe werden zum Ozean, in dem eine vierzehn Meter hohe Offshore-Plattform vor Anker geht. Rund 20 Komödianten, Akrobaten, Musiker, Techniker bespielen die eindrucksvolle Struktur in einer Show, die eine bilder- und pointenreiche Zukunftsvision entwirft. Der Mensch als unberechenbarer Faktor in einem sonst überaus perfekten Do it yourself-Paradies: Kaum jemand könnte das so prachtvoll umsetzen wie die in Graz bestens bekannte Compagnie Jo Bithume, die heuer übrigens ihr 30-jähriges Bestehen feiert. Die Franzosen liefern hier einen glänzenden Kommentar zur Öko-Debatte unserer Tage ab.“

Graz, am 26. Juli 2012

Gerald Ganglbauer – Schreiben am Netz

Die Büchersendung aus Innsbruck kam mit einem gelben Kleber über der Verschlußlasche zu meiner PO Box in Strawberry Hills: “Von der Australischen Post zur Kontrolle der Quarantäne geöffnet.” Seit dem 11. September 2001 wird nun auch ‘Snail Mail’ auf Viren geprüft. Beruhigend oder seltsam – jedenfalls aber eine interessante Beobachtung, wenn eine Neuerscheinung ankommt, die sich die Frage stellt: “Welche Bedingungen erwartet die Literatur im digitalen Zeitalter?”

Ganglbauer über Johannes Fehr, Walter Grond (Hrsg.)
Schreiben am Netz. Literatur im digitalen Zeitalter.
Haymon Verlag, Innsbruck 2003

Literatur im digitalen Zeitalter

CoverDer Inhalt des Paketes: zwei schlichte weisse Bände im Schuber; mit zusammen rund 450 Seiten die Dokumentation eines Labor – Salon – Symposiums am Collegium Helveticum der ETH Zürich, sowie eine überarbeitete Chronik Walter Gronds, die in einer wöchentlichen NZZ-Kolumne veröffentlicht war. Grond, der seit dem Ausscheiden aus dem Grazer Forum Stadtpark in einem 400-Seelen-Dorf in Niederösterreich als Romancier und Essayist lebt, war von Fehr, dem stellvertretenden Leiter des Collegium Helveticum, im Frühjahr 2002 als ‘Writer in Residence’ nach Zürich geladen, “um gemeinsam mit anderen über das ‘Schreiben am Netz’ nachzudenken”.

Dieser literarische Salon im Internet versammelt einen Kreis, der dem Rezensenten (trotz fünfzehnjähriger Abwesenheit) real oder virtuell mehr oder weniger bekannt ist: Literaturwissenschafter, Autoren, Verleger, Kommunikationswissenschafter und Netzwerker von Susanne Berkenheger über Christian Eigner zu Klaus Zeyringer, um nur einige zu nennen. Der Rezensent hat ja, wie Grond, denselben Background: “Mitte der neunziger Jahre, als ich mit Dzevad Karahasan über Literatur zu diskutieren begann, rückten mit der Schaffung des World Wide Web die Kulturtechniken, die mit dem Computer verbunden sind, ins öffentliche Bewußtsein. […] Ich kommuniziere mit Menschen, nicht mit Maschinen. Und doch, die digitale Kommunikation bringt manches ins Wanken, was ich bisher für unzweifelhaft empfand.” Grond in: Die Chronik, S. 26-27.

Jene seit Jahren vertrauten Erfahrungen, die dem digitalen Zeitalter so eigen sind, bilden auch das Gerüst der Aufsätze, die eine interessante Dokumentation abgeben: “Wer viel Netzalltag erlebt, dem scheint nicht selten die Zumutung, die die Netzliteratur darstellt, die Zumutung des Netzalltages zu reflektieren. […] Der denkt: Ja genau, so ist es, das Leben im Netz – und er schaut in die Netzliteratur wie in einen Spiegel.” Berkenheger in: Das Symposium, S. 195-196. Andererseits: “Die Szene der digitalen Literatur und der Literaturbetrieb sind nach wie vor völlig getrennte Welten mit sehr wenigen Grenzgängern.” Beat Suter in: Das Symposium, S. 149. Alles in allem 24 Beiträge.

Und das Resümee? “Das Hinübergleiten – vom Labor und Salon im Internet zum Symposium in der Sternwarte zur Dokumentation im Buch – ist relativierendes Verfahren. Der Gewinn war vor allem Erfahrung. Konfusion auf einem höheren Level.” sagt Grond. Na ja, Fehr versichert: “Die im Rahmen von ‘Schreiben am Netz’ entstandenen Seiten bleiben zwar weiterhin über das Web zugänglich, aber in einer Form, in der nicht mehr daran weitergeschrieben werden kann: als Dokumentation und Archiv eines transdisziplinären Experiments”: http://www.collegium.ethz.ch/schreiben-am-netz/index.de.html

Für all jene, deren Alltag aus Schreiben besteht, ist ‘Schreiben am Netz’ wichtig, denn niemand kann sich dem Netz in unserem globalen Dorf heutzutage gänzlich entziehen.

Sydney, am 9. April 2003

William Ricketts

Zurück zur Natur – Back to Nature

Im subtropischen Regenwald Australiens lebte und arbeitete ein weißer Keramiker und Bildhauer, der sich vom Aborigine-Stamm der Pitjantjatjara adoptiert fühlte, ganz allein für die Rückbesinnung auf die Natur. Ich habe ihn 1989, im ersten Jahr in meiner neuen Heimat, in seiner Einsiedelei besucht.

Es ist so dunkel unter dem Blätterdach,
dass ein Kodachrome 64 der falsche Film ist.

The William Ricketts Sanctuary | © 1989 Gerald Ganglbauer

Unser Holden parkt als einziges Fahrzeug auf einem kleinen Parkplatz abseits der Seitenstraße, die Luft ist kühl und feucht im australischen Herbst, überhaupt hier im Süden Victorias, am 633 Meter hohen Mount Dandenong, knapp eine Autostunde von Melbourne entfernt. Freunde haben mich hierher gebracht, ohne mir viel über jenen Einsiedler zu erzählen, der hier unter meterhohen dunkelgrünen Farnen lebt: William Ricketts. Ein Bildhauer sei er, und ein Philosoph – du wirst schon sehen.

Über eine schmale Treppe gelangen wir wieder zur Mount Dandenong Tourist Road. Dort steht nur eine schlichte Tafel: The William Ricketts Sanctuary. Trotz des Wochenendes sind wir die einzigen Besucher, die Tickets bei der älteren Dame im Sales Office hinter dem Tor lösen.

Einige Farbpostkarten und ein Katalog zeigen verblasste Arbeiten des Künstlers, aber ich vertraue lieber meinen Kameraobjektiven und steige den dunkelgrün umwachsenen Weg zu seiner Zufluchtsstätte zügig bergan.

Es ist sehr düster unter den Eukalyptusbäumen und Farnen, ohne Blitzgerät ist mit dem lichtschwachen Film wenig zu machen, als nach wenigen Metern der Weg von zwei Felsbrocken verengt wird. Doch nein, näher betrachtet wachsen daraus Menschengestalten hervor, auf geheimnisvolle Weise verbunden mit dem Gestein, weise Gesichter von Aborigines, jenen Stone-Age-People, die schon vor 40.000 Jahren diesen Kontinent bewohnten. Faszinierend lebensecht wirken diese Gestalten, eins mit der sie umgebenden Natur. Er hat zwar keine Kunstakademie besucht, aber das handwerkliche Können dieses Mannes beeindruckt. Und das mit über 90 verstreuten Skulpturen.

Dann folgt eine Entdeckung auf die andere. Das Auge erfasst im grünlichen Zwielicht immer neue, in die Natur eingearbeitete Skulpturen, Wesen, die ihr zugehören, aber Realität und Fantasie vermischen. Der Körper eines Kängurus mit den Beinen eines Emus und dem Kopf eines weißen Mannes. Oder ein alter Aborigine mit Engelsflügeln, oder eine Kreuzigungsgruppe, die sicherlich keiner biblischen Vorlage entspricht. Auf den wenigen hundert Meter langen Wegen wähnt man sich in einer Jahrtausende alten Fabellandschaft, die Materialien Stein und Holz vereinigen sich derart mit der lebendigen Umwelt und dem Wasser, dass man meint, sie müssten schon seit ewigen Zeiten hier stehen. Eine starke Kraft geht aus von diesem Waldstück.

Und das ist es auch, worauf es Ricketts ankommt, den ich später im Innersten seiner Klause treffe, gerade in ein Gespräch mit einem japanischen Gast über den brasilianischen Regenwald vertieft.

Ein spröder alter Mann, aus dessen Augen es funkelt, wenn es um seine, nein, unsere Welt geht. Er hat viel gelernt in seinem Leben, was er auch in seine Arbeit einbringt: Spiritualität. „Einem Aborigine würde es nie eingefallen sein, die Erde auf und von der er lebt, zu zerstören“ sagt er, „der weiße Mann tut es. Damit er sich wieder seiner Natur besinnt, dafür arbeite ich.“ Er sagt nicht, dafür kämpfe ich, aber es hat dieselbe Stärke. Er muss wohl in den siebziger Jahren, als er drei Jahre in Indien im Sri Aurobindo Ashram in Pondicherry arbeitete, tief beindruckt gewesen sein von der heiligen Spiritualität und der Weisheit der Veden. Prime Minister Mrs. Gandhi hat ihm persönlich von dieser größten und mit 35.000 Jahren beinahe schon ewigen Weisheit erzählt.

In William Ricketts haben sich diese Stränge verknüpft mit der Geschichte der Aborigines, den Weisen seines Landes. „Als der weiße Mann vor 200 Jahren in Australien gelandet ist, hätte dies der Zeitpunkt sein können, in Verbindung mit Aborigines sowohl spirituelle Evolution als auch kulturellen Fortschritt zu erfahren … aber zu diesem Zeitpunkt haben denkende und sprechende Kreaturen Australien mit Gewehren überrannt.“

Mögen seine Aussagen auch von einer für Menschen aus der westlichen Kultur nicht immer leicht nachvollziehbaren Vergeistigung sein, so hat sein grüner Aktivismus doch einen glasklaren politischen Charakter: Er verfasste zahlreiche Aufrufe und Petitionen, die weit über die Küstenlinie Australiens hinausreichten, nämlich mit dem Wahnsinn aufzuhören, der an unserer Umwelt verbrochen wird. Er rief dazu auf, die Verbindung zur Erde wieder zu suchen, auf der wir alle Leben, und „in deren heiligen Boden wahre Religion tief gesät ist.“ Jener ganz einfache Glaube, der Geist, Mensch und Natur als Gesamtheit sieht. Eine Einsicht, nach der menschliches Wissen immer schon gesucht hat und wohl auch noch lange wird suchen müssen, im „Königreich der Natur, Pmara Kutata“. Der zum Zeitpunkt meines Besuchs bereits 91-jährige Künstler ging zwar am Stock, machte aber keinen gebrechlichen Eindruck.

Wenngleich die Stimme William Ricketts vier Jahre später verstummte, so ist garantiert, dass seine Arbeit der Nachwelt erhalten bleibt. Der Victorian Conservation Trust hat sich dieser heiligen Stätte verpflichtet.

Melbourne, am 16. Mai 1989 (Text und Fotos)
Diapositive publiziert in Graz, am 8. Jänner 2013