Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
© by Herbert Debes & Kurt Otterbacher

 

Volk ohne Traum XVIII

 


Bella Leitfigura
Ein Statement von Uve Schmidt








Welchen Sinn macht es, wenn eine Frauenzeitschrift ein Ranking veranstaltete, um daraus eine Nummer mit Aufbewahrungswert zu gestalten: Deutschlands dööfste Damen, hm? Wahrscheinlich würde Claudia Roth eine einstweilige Verfügung erwirken, bevor die ersten weiblichen VIPs ihre Chauffeure zum Kiosk geschickt hätten. Schadenfreude setzt freilich voraus, dass sich hämische LeserInnen überhaupt für gesellschaftliche Platzierungen und echte Lebensleistungen interessieren, um ggf. festzustellen, dass eine von ihnen geschätzte, angehimmelte oder verabscheute Hauptperson in der öffentlichen Wertung genau so oder ganz anders rangiert, als frau vermutete. Man kann’s aber auch positiv anpacken: CICERO, das Magazin für politische Kultur, meldete am 28.3.06 im Internet „CICERO- Ranking: Grass ist Deutschlands Intellektueller Nummer 1!“

Solche Ermittlungen dienen offenbar der Inventur des Kulturbetriebs und ohne grosses Gestocher und Geschnüffel einer Geistesadelsanalyse wie Schraubenzählen im Teilelager: Fünfhundert (500 Stück) der „deutungsmächtigsten deutschsprachigen Zeitgenossen“, welche in den elektronischen Datenbanken der wichtigsten deutschsprachigen Tageszeitungen und Magazine (83 Stück) notiert wurden, bilden seither die intellektuelle Oberschicht deutscher Zunge, gleichsam Obers, Schlagrahm und Sahnehäubchen des deutschschreibenden Mitteleuropa, und natürlich werden mit solchen Erhebungen viele Leute angesprochen, die sich nicht dazu zählen, aber doch im geistigen Schulterschluß sich der einen oder anderen Persönlichkeit nahe fühlen; das macht bei 500 Auserwählten einige tausend, wenn nicht zehntausende KäuferInnen dieser Ausgabe und etliche hundert neue LeserInnen bis auf weiteres. Daß Harald Schmidts Patentante gleich zehn Exemplare bestellt hat, trägt kaum zur Rentendebatte bei, sollten jedoch die Stadt Lübeck und die Friedrich-Ebert-Stiftung einige hundert Nummern geordert haben, darf die Basis aufbrausen: Muß das denn sein?!

Immerhin führt Günter Grass die Top Ten mit Abstand an, ihm folgen Harald Schmidt, Reich- Ranicki, Walser, Handke, Habermas, Biermann, die Jelinek, die Schwarzer und Botho Strauß. Doch der Nobelpreisträger relativierte seinen 1. Platz: „Die Leute, die heute den Ton angeben, werden aus anderen Bereichen geholt (…), Leute wie der Kaiser Beckenbauer oder der Mann mit den Gummibärchen (…), das sind in der Realität die Leitfiguren. In den Talkshows sitzen keine Schriftsteller, da ist eine ganz andere Riege präsent, die sich den Ball zuwirft und eine Art von Vetternwirtschaft betreibt.“ Ja, wieso freut der Mann sich nicht? Zeugt es etwa von intellektuellem Spitzenformat, wenn er seine Abneigung gegen deutschsprachige Talkshowrunden wie ein pikierter Neidhammel ins weite Feld blökt, grad so, als würden die germanophonen Sender ihn als Quasselgast mobben und folglich um dringend benötigte Auftritte bringen? Natürlich hat unser Spitzenreiter recht, durchs Oskarokular gesehen, und  vermutlich hatte G.G. sich nur dem Ranking-Redakteur anvertraut, während das Mitschneidegerät lief, denn faktisch ist so ziemlich alles falsch, was der Praeceptor Germaniae wahrgenommen zu haben wähnt betreffs einer im Rotfunkbereich der Hansestädte etablierten, bundesweit klüngelnden Verschwörung ballspielender Geistfeinde in Zwirn und Glitter, welche überdies noch das Sagen und Leiten haben „in der Realität“. Natürlich ist G.G. sauer, dass die goldenen Zeiten seiner sozialdemokratischen Promiparaden passé sind und insbesondere das namentliche Engagement namhafter SPD-Wahlhelfer auf beinahe Null schrumpfte, vor allem aber, weil der weltpolitische Zug abgefahren ist, ohne dass ein historischer Ruf an ihn erging: Das Angebot eines angemessenen (sic) Amtes. Klar, dass ihm zuliebe nicht die Verfassung gebeugt oder umgeschneidert worden wäre, klar auch, dass G.G. keinen Vollzeitjob annehmen mochte, aber etwas Gewaltigeres als (z.B.) Nachhaltigkeitsratspräsident oder UNICEF-Sonderbotschafter hätte man für Seine orange Eminenz sehr wohl ersinnen können, nach Anhörung seiner diesbezüglichen Vorschläge. Wollte deshalb der CICERO- Verleger und Schröder-Gönner Ringier mit der Ranking-Krönung einen offiziösen Trosttitel verleihen?

Da bereits im Laufe dieses Jahres „ die 500 wichtigsten Intellektuellen“ durch altersbedingte Abtritte dezimiert werden dürften, besteht Veranlassung, das CICERO- Ranking alljährlich zu wiederholen, quasi als Ostergabe an das Volk der Bücher die Findung der Eierköpfe. Was aber, wenn mangels Konkurrenz in Zukunft CICERO unsere intellektuellen Kader aufstellt, zunächst mal nur zum namedropping  für das Oberstufenbewusstsein und die privaten Eitelkeiten („Mein Schulfreund Stupsi, CICERO-Ranking Nr.136!“), bald jedoch als Kandidatenliste für ein neues Deutsches Geistreich Europäischer Nation (DEGEN), womöglich in Nachfolge einer gewissen Gottbegnadetenliste? Steuerbefreiung und freie Damenwahl gehörten damals nicht zu den Privilegien, weil jeder einflussreiche Depp sich derlei leisten kann, wohl aber die Freistellung vom Militärdienst, vom Luftschutz und diversen Verboten, und selbstverständlich wird man in Katastrophenfällen sofort auf den Mond geflogen. Anders könnten wir mit dieser unserer ausgerechneten Elite angesichts eines aufziehenden Steppensturmes auch nicht verfahren, gesetzt, wir wollten es, denn die wenigsten Eggheads sind hübsch, qualifiziert oder vermögend genug, um einen Dschingiskhan gnädig zu stimmen, keiner von ihnen hat ein probates Pulver erfunden oder die rettende Formel, um unsere Besten zu schonen, geschweige das Schicksal von Sodom, Byzanz oder Brandenburg abzuwenden. Deutungsmacht eignet ihnen allen, in Wirklichkeit am wenigsten, denn die intellektuelle Tat besteht nicht allein im Konstrukt, in der befreienden Botschaft, sondern maßgeblich im Wagnis ihrer Veröffentlichung und Verbreitung durch Anpassung der Form, des Verteilerschlüssels und der Resonanzböden. Luthers 95 Thesen z.B. wurden keineswegs allen sichtbar und lesbar an die Schlosskirchtüre zu Wittenberg genagelt, sondern (in Latein abgefasst) einem ausgewählten Personenkreis zugestellt mit der Bitte um theologische Rückmeldung, das Manifest der Kommunistischen Partei wurde zunächst nur in begrenzter Auflage an die „Bundgenossen“ verteilt und erschien eh zu spät (1848), um auf die revolutionären Ereignisse noch Einfluss zu haben, und Hitlers Mein Kampf galt als schlimmer Schund, was seine Rezeption erheblich schmälerte, den internationalen Dauerbrenner aber nicht verhindern konnte, bis dato. Und die Belletristik? Hat Onkel Toms Hütte zur weltweiten Abschaffung der Sklaverei geführt?? Das Buch hat die Gemüter bewegt, aber keinen US-Politiker zum Sezessionskrieg veranlasst.

Romane, Novellen, Dramen und Gedichte wurden und werden benutzt, aber nicht unbedingt benötigt, indes benötig(t)en die Dichter und Schriftsteller die Erschütterungen der Erde, die Leiden der Menschheit vom Liebestod bis zum Krieg der Sterne, und selbstredend arbeiten sie (auf Honorarbasis) als Meinungsagenten für die Obrigkeiten bzw. deren aussichtsreichste Nachfolger, Rivalen oder Liquidatoren. Im Verlaufe solcher Veränderungen werden geeignete und geneigte Intellektuelle bisweilen Erziehungsminister, Senatspräsidenten oder Gesandte, doch niemals stehen sie an der Spitze des Staates, noch werden sie in höchster Not gerufen. Die Weltgeschichte wimmelt von Gewaltherrschern, Gesetzgebern und Generälen intellektuellen Typs, doch welcher gestandene Intellektuelle bürgerlichen Blutes wäre heutzutage bereit, sein Leben, sein Vermögen, sein Renommee zu riskieren bei einem politischen Piratenakt á la Fiume 1919? Waren Lenin und Mao, Mussolini und Atatürk, Churchill und Moshe Dayan keine Intellektuellen, weil sie militant waren, womöglich mordlustig? Der Weltgeist rekrutiert die Geistesarbeiter nur zu seinem Ruhme und gewöhnlich ganz nach Laune, sie selbst verkörpern ihn bestenfalls als schöpferische Jahrhundertgenies, mit denen wir zwar Staat machen, aber keinen Staatsbankrott aufhalten können. Und deshalb versuchen wir’s lieber gleich bei den cleveren Unterhaltungskünstlern mit Hochschulabschluss wie den Gebrüdern Gottschalk, Grönemeyer und Klitschko, oder beim FC Bayern und in Bios Bahnhofsklo, denn was Grass als „ganz andere Riege“ schmäht, ist oberste Liga, alter Tanzbär! Ansonsten empfiehlt sich dem Großmeister ein kühler Kopf und eine kalte Pfeife, denn hinter ihm steht Schmidt, bereit zur Übernahme. Jünger, stattlicher und wesentlich witziger, vor allem aber, man muß ihn nicht gelesen haben.


 
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