Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
© by Herbert Debes & Kurt Otterbacher

 

Volk ohne Traum VII

 


Traumatamtam
Ein Statement von Uve  Schmidt








Seit in Florida eine erbarmenswerte Wachkomapatientin zum Politikum geworden ist, höre und lese ich unverbesserlich Wachkompanie und denke, daß dieses moraltheologische Arztdrama und der Zweite Weltkrieg interredaktionell als WK-Story I und II abgearbeitet werden; soweit sind wir im 60. Lenz des Sieges über uns, bzw. die Streitkräfte des Großdeutschen Reiches. Fragt sich nur, warum gerade dies Jahr, da die Kriegsgewinner und ihre Veteranen eh jedes Jahr jubeln? Hätte man nicht abwarten können, bis auch die Türken mitfeiern als förmliche Feinde Deutschlands (seit Februar 1945) und Europäer im Gesprächsstatus, und bis wir selbst dabei sind als Mitglied des Weltsicherheitsrates, während Joschkas Peacemaker in Kaschmir und im Südsudan stehen und unsere U-Boot-Casinos vor Beirut liegen?? Nun, es ist die politische Party von Bush und Putin, zu der unsere Regierenden ihren goldnen Senf abdrücken, gut so und basta.

Aber wessen gedenken die FAZ und der Spiegel in einer gemeinsamen Interview- Offensive ihrer Blattchefs unter der Spitzmarke HUNDERT JAHRE DEUTSCHLAND? Zwar war 1905 jede Menge los, aber was davon ist gemeint? Etwa Einsteins  Jahrhundertformel? Aber wieso dann Deutschland, da die Relativitätstheorie ja nicht nur zur Herstellung von Kartoffelsalat mit Schnitzel und Starkbier dient? Im „Sekretariat Doktor Schirrmacher“(wo ein Anrufer landen kann, wenn er mit einem Vertreter der Feuilletonredaktion zu sprechen wünscht) hat frau noch nichts davon gehört recte gelesen und die Hauptfrau angeblich gelesen, aber nackte Erklärungsnot, d.h. keine Ahnung und keinerlei Humor, „aber Niveau“ als soziale Wahnvorstellung. Nun muß man zur gewinnreichen Rezeption der unter HUNDERT JAHRE DEUTSCHLAND publizierten Betrachtungen (und für den Erwerb der zwölfteiligen DVD-Dokumentation selben Titels zum Gesamtpreis von 169,- € ) nicht unbedingt wissen, wer sich was dabei gedacht hat, als der Titel beschlossen wurde. Meine Frage, ob die FAZ vielleicht einen hundertjährigen Spritzenwagen der Betriebsfeuerwehr und DER SPIEGEL einen Ausflugsdampfer gleichen Alters besäße und beide Vehikel auf den Namen DEUTSCHLAND getauft seien, führte zum empörten Abbruch des Gespräches.

Darf nun vermutet werden, daß wohlmeinendes Leserinteresse und konstruktive Kritik an einer verwirrenden Etikettierung (man meint einen Zeitabschnitt von hundert Jahren deutscher Geschichte, verkauft das aber wie ein Wirtshausjubiläum) unerwünscht sind? Daß die Frankfurter Feuilletonisten in ihrem Hang zur Sophistikation selbstverliebt in die Klappfalle der Kommunikation tappen, sollte einem über 100 Jahre alten Tageblatt – meine Zeitrechnung  reicht zu den Anfängen der Frankfurter Zeitung vor ihrer Neugründung als Allgemeine (1949) zurück – nicht zur Gewohnheit werden. Und: Vielleicht wollte die im gehobenen Arbeitsdienst ergraute Büroleiterin sich einfach nur schützend vor Deutschland stellen? Ein ehrenwerter Impuls, der einer Lili Marleen freilich besser anstünde. Im Ernst: Wer schützt Deutschland vor den Deutschen?

Hundert Jahre Deutschland suggeriert auch, daß heuer ein Schicksalsjahr sei. Da in unserem Kulturraum keine astrologisch geleiteten Seher nach markanten Neugeborenen fahnden und es selbst dem messianischen Axel Springer nicht eingefallen war, einen bei BILD abgelieferten kleinen Heiland als solchen vorzustellen, kann das laufende 2005 bis zur Sylvesternummer der FAZ die große historische Überraschung bevorraten. Doch selbst wenn es sich nur um einen Insiderjoke handelt (2x50jähriges Berufsjubiläum der volksdeutschen Vorzimmerdamen), kann man schwerlich bestreiten: Es liegt was in der Luft, außer Feinstaub und Angstschweiß. Im Gegensatz zu den Stimmungen und Schimären, welche den Schüssen in Sarajewo 1914 und den Schüssen im Reichssender Gleiwitz 1939 vorauswaberten, sind heute selbst Schwarzseher sich einig: Vom Boden der Bundesrepublik Deutschland wird kein Krieg mehr ausgehen! Hingegen werden wir das Opfer einer Agression sein, welche mit handelsüblichen Waffen und asymmetrischen Kombattanten vorgetragen wird, und diesen Angriffen werden wir nichts entgegenzusetzen haben, da wir die ewigen Schuldigen selbst sind. Wie auch sollten wir beweisen, am Südpol nicht den Tag X vorzubereiten, in deutschen Gebirgsbäuchen keine Wunderwaffen zu horten, in hochgeheimen Labors weder Killerameisen, noch einen gigantischen Allesfresser in Bereitschaft zu halten, Schrecken, die sich überdies der totalen Tarnung erfreuen. Natürlich kann ein solches Szenario sehr viel seriöser ausgedacht werden, aber würden es dann die internationalen Comixleser und Naziseriengucker glauben? Paul Spiegel glaubt sogar, daß in Deutschland täglich ein jüdischer Friedhof geschändet wird (SPIEGEL,  Nr.12/05).

Irgendetwas – des unsichtbaren Zeitgeistes Kammerdiener? – zwinkert mir zu, daß alle diese memorialen und/oder jubilösen Jahreszahlen bzw. Veranstaltungen, die öffentlichen Befragungen, Anmerkungen und allerneuesten Nachträge zum Dauerthema (nie waren das deutsche Fernsehen und die Meinungspresse voller davon, der Bild- und Hörfunk vor allem mit künstlerischen Bewältigungen!) keineswegs nur kommerziell veranlasst sind, solang sich Hitler rentiert, sondern von Opfern und Gegnern des Faschismus als Drohkulissen dringend benötigt werden, soweit sie als Staaten, Volksgruppen und halbamtliche Organisationen ihre Politik rechtfertigen müssen. Waren nicht die Balten, Ukrainer, Kaukasier u.a. zu großen Teilen Kollaborateure, kann Putin fragen, lieben wir nicht unsere Juden und Neger (ein russischer Kosename für Tschetschenen)? Bush weiß, was ihm der Mossad über die alten und neueren deutsch-arabischen Beziehungen erzählt hat, diskret zu behandeln, denn niemand ist seinerseits mehr von Archiven und Erinnerungen bedroht, als ein gerechter Sieger, der die Fackel der Freiheit weiterträgt als Flammenwerfer. Und unsere diversen Ex-Verbündeten? Japan ist ein fernes Land des Lächelns, Mussolini und die anderen Staatsfaschisten waren nur Hitlers Marionetten, Geiseln oder naive Fanclubführer, ihre Völker gefangen, exiliert, in die Wälder geflohen, und wenn sie nicht gestorben sind, beziehen sie ggf. SS-Renten. Wir allein sitzen in der archäologischen Scheiße. In einer solchen Situation geht es nicht um unser Davonkommen, sondern um unsere Selbstaufrichtung an Ort und Stelle: Jawohl, wir alle sind ULTIMA THULE III. Oder Rübezahl mit der Keule -  was guckst Du?!

Jedes Nachdenken über Deutschland meint es angeblich gut mit dem Vaterland, doch dieses staatsbürgerliche Gebaren ist selbstgefällig. Ein Deutschland, das um sein ökonomisches und biologisches Überleben ringt, darf keine Sekunde und keinen Cent verschwenden an die Vergangenheit als Sammelbüchse der Pandora. Wann die Nacht um ist, bestimmt Gott, dann der Schläfer, wenn die FAZ pünktlich in meinen Postkasten plumpst, kann die Nation getrost frühstücken...


 
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