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Slavoj
Žižek fragt: »Was ist ein Ereignis?« |
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Die Fülle der heute global aus allen Richtungen und allen Wissensgebieten auf uns einprasselnden Nachrichten über reale Geschehnisse und kulturelle Events überfordert unsere Aufmerksamkeit und Einordnungsfähigkeit ins Alltagsleben. Wir befinden uns mitten im Big-Data-Gebirge, im Kampf der Ent- und Re-Kontextualisierung eines Lebens, das sich der eigenen Narration immer wieder beraubt sieht und dringend nach ihr verlangt. Wie mag es gelingen, den Life-Schwung wieder zu erlangen? Mit der Frage »Was ist ein Ereignis?« konzentriert sich Slavoj Žižek phantasievoll und erhellend auf den chaotischen Vorgangs- und Wirkungscharakter von Begebenheiten. Auf ihren aktuellen oder historischen Impuls als Eindruck, Struktur, Ergänzung, Widerpart, Zwischenfall und Störung im jeweiligen narrativen und erlebnisförmigen Dispositiv menschlicher Subjekte, die in ihrem biographischen und historischen Zeiterleben mit dem »Aufprall« und »Einschlag« des neuen Vorgangs in ihre Situation und mit der Übersetzung der noch undurchschauten Bedeutung zurechtkommen müssen. Dabei ist die Frage nach der Kategorie und dem Kriterium der Plausibilität und der Priorität für Žižek von besonderem Belang. Mit der Wahl des Wortes »Ereignis« setzt sich der Autor von der Statik standardisierter News und digitalisierter Informationen ab. Ihm geht es um Real Life, Turbulenz und Dynamik, um psychologisches Gespür für Phantasie und Irrtumsanfälligkeit, aber auch um denkerische Reflexion und Skepsis.
Ein »Ereignis« sei eine
scheinbar schlichte und doch effektive Markierung, um Meldungen über
Geschehnisse zu kennzeichnen und bestimmten Vorkommnissen unter ihnen subjektive
oder sogar objektive Relevanz und Bedeutsamkeit zu verleihen. Allerdings sei das
Wort »Ereignis« in seinem Gebrauch ein »amphibischer Begriff«. Damit beginnt
Žižeks unterhaltsame Bastelstunde, die akademisch anmutende Ausführungen fast
vermeidet – durch eine kurzweilige Vermischung der Beispiele, Ebenen und
Begrifflichkeiten, die so selbst zu einem ereignishaften Panorama werden.
Naturkatastrophen, Liebesaffären, ein Agatha-Christie-Mord im vorbeifahrenden
Zug und die Komposition von Beethovens letzter Klaviersonate, die politischen
Proteste auf dem Tahrir-Platz und die Entstehung des Film Noir – Žižek wundert
sich bei dieser breiten Themenpalette darüber, wie ein realer, natürlicher
Vorgang, eine politische Bewegung oder ein künstlerisches Werk oder eine gesamte
Gattung zur Existenz und ins Dasein gelangen und wie sie den Erlebenden oder
Nachdenkenden in seinem Hier und Jetzt beschäftigen und beeinflussen: Das
Ereignis erscheint als ein überraschendes, außerordentliches oder auch
wunderbares Phänomen, laut Žižek als ein »Effekt, der seine Gründe zu
übersteigen scheint«. Žižek kreist die Logik und Alogik des Ereignisses aus
einer Doppelperspektive ein: »transzendental« als
erkenntnistheoretisch-philosophische Reflexion auf das jeweilige Subjekt und
sein Verhalten zum Sein (u.a. nach Heidegger) und »ontologisch«-einzelwissenschaftlich
mit Blick auf den Verlauf der Dinge selbst (mit den aktuellen
Hintergrundannahmen der kosmologisch erweiterten Quantentheorie, der
Hirnforschung und Evolutionstheorie (nach dem Muster von Stephen Hawking). 1
In einem ersten Anlauf
genießt Žižek die angestiftete Verwirrung. Er fordert den Leser auf, darüber
nachzudenken, dass ein wirkungsvolles Ereignis sogleich eine Veränderung des
Bisherigen mit sich bringt, und zwar entweder in der »Weise, wie die Realität
uns erscheint« oder aber in einer »Transformation der Realität selbst«. Žižek
geht es darum, sich nicht an einzelnen Beispielen festzurennen, sondern
allgemein die Überraschung, das Happening, den Auftritt des Neuen, den Charakter
der eher leisen und behutsamen Novella (und nicht der plakativen Breaking News)
in voller Breite und in einem gleitenden Verfahren vergleichend-analytisch »zu
streifen« und der fast schon kinematographischen Bewegungs- und
Vergänglichkeits-Dynamik der Ereignisse als gleichwohl wichtigen Impulsen
»nahezukommen«. Im ersten der Exkurse wird das Verhältnis von Ereignis und
Veränderung/Neujustierung des Rahmens der Weltwahrnehmung oder der realen
Weltbewegung erörtert. Auch diese Überlegung ist nicht statisch, sondern
dynamisch gemeint, das Ereignis gibt dem Rahmen einen Stupser oder erschüttert
und sprengt ihn sogar. Žižek schont uns dabei keineswegs mit seinen weit
gestreuten, hoch oder niedrig situierten Beispielen, er springt von Station zu
Station: von der Simulation der angeblich noch intakten Vichy-Regierung, die
nach der Invasion der Alliierten 1944 nach Sigmaringen in Süddeutschland verlegt
wurde, über Donald Rumsfelds hölzern-dummdreiste Definition des Unbekannten
(»bekanntes Bekannte und bekanntes Unbekanntes«) 2002, also kurz vor dem
illegitimen Einmarsch in den Irak, über den fiktiv-realen Bühnenflirt der jungen
Protagonisten in Janes Austens »Mansfield Park«, und der irrealen Beziehung
Kelvins mit der phantasmatischen Wiedergängerin seiner verstorbenen Frau Harey
in der Raumstation über dem superintelligenten, aber für Menschen
erkenntnismäßig unzugänglichen Ozean von »Solaris« (Lem, Tarkowski) sowie der
apokalyptischen Hochzeitsfest-Stimmungs-Verwirrung von Lars von Triers »Melancholia«,
in der zu Wagners hypnotischen »Tristan«-Vorspielen ein wirklicher tödlicher
Irrläuferplanet mit der Erde zu kollidieren droht und damit die depressive
Stimmung der Braut zur einzig angemessenen Haltung angesichts der unabwendbaren
Katastrophe macht. Žižek verdeutlicht, inwiefern Ereignis und Rahmen zueinander
heterogen bleiben oder (kommerziell) versöhnlich aufeinander abgestimmt werden:
so in Abrams (nicht Spielbergs) Sci-Fi-Thriller und Teenager-Liebesgeschichte
»Super 8«, oder in Terence Malicks »The Tree of Life«, als Rückzug einer
Familie, nicht nur angesichts der Hiobsbotschaft vom Tod ihres Sohnes, in eine
kosmisch-religiöse »Pseudospiritualität«. In Neil Jordans »The Crying Game« und
David Cronenbergs »M. Butterfly« schlägt das Liebesglück in Liebesirrtum um oder
vereint sich mit ihm gar, wenn auf dem Höhe- und Wendepunkt die Liebe eines
Mannes zu der jeweiligen Frau sich als Liebe zu einem als Frau verkleideten Mann
erweist. Insgesamt wird für Žižek deutlich, wie komplex und differenziert die
Verbindung und Trennung von Realem, Imaginärem und dem Symbolischem als
Dimensionierung von Ereignis und Rahmung zwischen subjektiver, sozialer und
objektiver Erwartung und Erfüllung, Hoffnung und Enttäuschung, Hingabe und
Widerstand ausfallen kann. 2
Im zweiten Kapitel »Felix
Culpa« entgleitet Žižek stellenweise das Niveau, wenn er die Frage des
vermeintlichen Erst- und Uranfangs von Ereignissen mit den
Rechtfertigungs-Arabesken des genuin Bösen verbindet. Das Böse erscheint in
Žižeks deftiger psychoanalytischer Theatergeste als Perversion des Guten und als
ursprünglichere Quelle und Anlass der Erlösung, unter Bezug auf Platon,
Tertullian, Wagners »Parsifal« und Kierkegaard. Der Autor lässt seine Exkurse
unter anderem in der kalauernden Misogynie eines australischen muslimischen
Geistlichen gipfeln, der 2006 modern auftretende Frauen mit einer fauligen
Metapher als »unverhülltes Fleisch« und Katzenfutter bezeichnete, das Männer zu
»hilflosen« Vergewaltigern mache. Die genüssliche Art, den Sündenfall
(wie den Urknall und die Austauschbeziehungen zwischen Teilchenexistenz,
geliehener Energie und Übergang aus dem Nichts) als (psycho-) religiöses
Phantasma von allen Seiten zu beschnuppern, steht hier im Widerspruch zu der
distanzierten intellektuellen Behauptung, das solche Ur-, Grenz- und
Extrem-Ereignisse nur »rückwirkende Illusion« seien. Diese Ansicht würde aber
dafür sprechen, dass weder das Böse noch das Gute als Urpole zu betrachten sind,
sondern dass einzig die Wechselwirkung ein logisches Primat hat. 3
Cleverer verfährt Žižek in
Kapitel Drei, wenn er die aktuelle Neuroforschung, massiv vom Militär
unterstützt, kritisch als einen »naturalisierten Buddhismus«
charakterisiert, deren Experimente nur scheinbar auf der Jagd nach einer
Erleuchtung sind, in Wahrheit aber von einer Ich-losen Struktur und der
Entleerbarkeit und Manipulierbarkeit des Bewusstseins ausgehen (allerdings
mit dem Ziel der belieben Um- und Neuprogrammierung). Der Autor schlägt hier
zwei Fliegen mit einer Klappe: Modewissenschaft und Modereligion konvergieren in
psychologischem Quietismus und sozialtechnologischer Kontrolle. Dagegen plädiert
Žižek nicht nur psychoanalytisch sondern auch philosophisch-ethisch für die
Stärkung eines für sein Erleben und Tun verantwortlichen Subjekts. Nur in dieser
Art von aktivierender Wechselwirkung sei auch ein Ereignis eben ein solches,
eine Bezugsgröße für ein real wahrnehmendes und reaktionsfähiges Individuum und
ein Anstoß für die biographische Veränderung seines bisherigen Erlebnis- und
Handlungskreises. 4
Orthodoxer mutet das
vierte Kapitel an, wenn es Platon, Descartes und Hegel als die drei
Hauptphilosophen eines nicht zuendegedachten Ereignisses firmieren: Žižek
weiß, dass er mit ihnen fast apokryph gewordene Denker und Feindbilder der
Marxisten, Liberalen, Existentialisten, Empiristen, Hirnforscher,
Sprachphilosophen, Dekonstruktivisten wie Schießbudenfiguren aufstellt. Alle
drei Philosophen seien immer noch ein Ereignis und Ärgernis in Form eines
in die Jetztzeit hineinragenden unaufgearbeiteten rationalistischen Wahnsinns,
der Wahn der sokratisch-dämonischen Ideen-Liebe (wobei die Ideen letztlich keine
Jenseitsgebilde sondern nur Strukturierungen der Realität sein), das radikale
cartesische Cogito im Dunkel des Weltzweifels und als authentische
Zurückgezogenheit des intuitiv-existentiellen Denkens auf sich selbst, sowie
Hegels absoluter Idealismus als letztlich ereignishafte Gesamtbewegung des
Subjekts und seines dialektischen Denkens im konkreten Prozess des
geschichtlichen Werdens, hinter den es auch für die modellhaft
abstrahierende dialektische Dynamik kein Zurück gebe, wenn sie nicht in
mechanischen Dogmatismus zurückfallen wolle. 5
Im fünften Kapitel widmet
sich Žižek zwischen wilden und zahmen Filmen, Themen und Formen: Moses’
vorsichtige Politik gegenüber dem brennenden Dornbusch, die pubertäre
Found-Footage-Katastrophenkomödie »Project X«, Catherine Breillats didaktisches
Sex-Liebes-Entzugs-Lehrstück »Romance XXX«, Hitchcock und Haiku einmal mehr der
struppigen und von Täuschungen durchzogenen Lacanschen Trias des Realen,
Symbolischen und Imaginären und der delikaten Balance von real aufscheinendem
Objekt, strukturbildenden, regelsetzenden, narrativen Aussagen und der
distanzierten Ereignis-Wahrnehmung und Interpretation. 6 Das Ungeschehen- und Rückgängigmachen von Ereignissen in Kapitel Sechs enthält mannigfaltigen sozial-politischem Sprengstoff: Während zuvor bereits der poröse, dynamische und zeitgebundene Charakter von Ereignissen deutlich wurde, geht es nun darum, wie massiv auch epochal prägende Geschehnisse in ihrer Grundlage und Bedeutung zurückgedreht oder annulliert werden können. Rossinis Entpolitisierung von »heißen« Opern-Libretti durch Verlegung der Handlung in vorrevolutionäre Tage aufgrund der Zensur der nachnapoleonischen Restauration; die Unterstellung niederträchtiger Motive bei Interaktionen im öffentlichen oder im unbeobachteten Raum (am Beispiel von Alltagssituationen, bei Brecht: »Die Ausnahme und die Regel« und in einem verzerrten Rechtsprechungsfall in China), die Billigung von Folter (sogenannten erweiterten Verhörmethoden) als psychologisch differenzierter Hollywood-Mainstream (Kathryn Bigelows »Zero Dark Thirty«), politischer Mord als Applaus-Objekt in einer öffentlichen Talkshow in Indonesien (vgl. Joshua Oppenheimers und Christine Cynns Dokumentarfilm »The Act of Killing« 2012), die Demontage der europäischen Demokratie im EU-Mitgliedsland Ungarn unter Orbán. Fazit: Die Einschätzung der Ereignishaftigkeit von Ereignissen ist eine heikle Angelegenheit, sie ist an deren Inhalt und Struktur, an den weiteren und engeren Kontext und die jeweilige korrespondierende Situation und Kondition der eventuell betroffenen Subjekte gebunden, an ihre Anschlussbereitschaft, Wahrnehmungsfähigkeit und Tatkraft, an die Zurückhaltung oder das beherzte Eingreifen, an das glückliche Gelingen oder den tragischen Irrtum im Verstehen, Reagieren und Erinnern unabhängiger, zeitsensibler und dialektisch denkender Subjekte, in der Liebe, in der Politik und im gewaltfreien Leben und Sterben. Die derzeitige krisenhaft verfahrene Situation des Spätkapitalismus vereitele die Dynamik subtil weiterführender Ereignisse, sie fördere den Kreislauf einer horizontlosen Gegenwart und betreibe die Regression und Annullierung bestimmter übergreifender Ereignisqualitäten, die gestern noch zeitlose Geltung zu haben schienen. Žižeks Buch stellt eine Fundgrube der polychronologischen und polypolitischen Anschauung dar, die sich nicht auf die üblichen Schienenwege und Einbahnstraßen automatischer Revolutionen, die keine sind, festlegen lässt. Nur die durchgeschmuggelten Ereignisse sprengen das heutige System im Kopf und in der Wirklichkeit auf.
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Slavoj Žižek
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