Ab Mitte der dreißiger Jahre vollzog sich in Stalins Russland ein Prozess, der die bewusste Verfolgung und Vernichtung »antisowjetischer« Bevölkerungsteile nur mehr ins Extreme steigerte. Im Zentrum dieser Politik standen nicht mehr offensichtliche »Verfehlungen« im Sinne der Partei, sondern reale beziehungsweise empfundene oppositionelle Positionen zu Stalins Politik und Führungsstil. Dies zeigte sich an den mutwilligen Massenverhaftungen, den Schauprozessen und unzähligen Exekutionen in den Jahren 1937 und 1938. Figes führt die Ziffer von 681.692 wegen angeblicher Staatsverbrechen Erschossener an, vermutlich sind es noch wesentlich mehr. Die Zahlen der im Gulag Inhaftierten schwollen auf fast zwei Millionen an. Was sich hinter dem Synonym des »Großen Terrors« verbirgt, ist nichts Anderes, als die verheerende Auswirkung der persönlichen Wahnvorstellungen des Despoten Josef Stalin, in jedem kritischen Unterton und jedem Stirnenrunzeln eine Gefahr für sich zu erkennen.
Das System des nun einsetzenden Terrors war simpel. Jeder Inhaftierte musste Bekannte und Verwandte denunzieren, tat er es nicht, wurden er oder nahe Verwandte solange gefoltert, bis Namen fielen. Dies war gleichbedeutend mit dem Todesurteil für den gefangenen Denunzianten und der Auftakt für weitere Verhaftungen, Verhöre und Exekutionen. Eine Welle des Terrors schwappte durch das Land, die von der Parteiführung auf deren Basis, die staatlichen Behörden und die gesamte Gesellschaft übergriff. Stalin nahm tausende Opfer geflissentlich in Kauf, wenn damit auch nur ein »Spion« vernichtet werden konnte. Ein auf die kollektive Vernichtung ausgerichtetes System, wie die totalitären Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts zeigen. Es wurde oft kopiert und bewies immer wieder seine schreckliche Effizienz, egal ob in Kambodscha, Ruanda oder auf dem Balkan.
Der generelle Spionageverdacht gegen ein ganzes Volk führte dazu, dass man in den Familien Sprachregelungen und Kodes entwickelte. Über Politik wurde meist gar nicht mehr, über Sorgen, Nöte und Probleme nur noch mit gedämpfter Stimme und hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Selbst Privatangelegenheiten wurden meist nur noch unter einer schützenden Decke ausgetauscht. Es entstand eine »Gesellschaft der Flüsterer«.
Als wäre dies nicht schon ausreichend genug, um eine Gesellschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern, wurden deren Mitglieder durch die Maßnahmen der Verfolgung, Verbannung und Vernichtung immer stärker auseinander gerissen. Fast eine ganze Kindergeneration wuchs getrennt von den eigenen Eltern in sowjetischen Kinderheimen und Kinderarbeitskolonien auf. Die Indoktrination des sowjetischen Wertekanons in diesen Einrichtungen hatte zur Folge, dass die »Pflicht gegenüber dem Staat« zur obersten Maxime einer Generation wurde. Mit den Heimen entwickelte sich ein ideales Becken für die militärischen und geheimdienstlichen Organe des Staates. Die einmalige Chance, sich derart wieder in den Staat einzugliedern – vom »Kind eines Volksfeindes« zu einem nützlichen Element im sowjetischen System »aufzusteigen« – nutzten viele, um sich ein neues (zweifelhaftes) Leben aufzubauen.
Auch der Zweite Weltkrieg eröffnete ungeahnte Aufstiegschancen. Einer, der diese zu nutzen wusste, war der Journalist und Schriftsteller Konstantin Simonow. Seine verherrlichende Kriegsberichterstattung mache es ihm möglich, zu »Stalins Liebling« unter den Schreiberlingen aufzusteigen. Vom Kriegsreporter zum überzeugten Stalinisten und Nationalautoren, um nach dessen Tod eine geheimnisvolle Wandlung zum Verleger kritischer Literatur zu vollziehen – eine seltsame Karriere, die Figes aus den Seiten seiner einzigartigen Arbeit aufsteigen lässt. Die Karriere Simonows und ihr symbiotisches Verhältnis zu Stalins Herrschaft, aber auch der andauernde Einfluss Simonows auf die russische Literaturwelt nach Stalins Tod macht Figes im Rahmen einer familienbiografischen Darstellung deutlich, der es auf beeindruckende Weise gelingt, die familiären Opfer dieser Karriere in den Vordergrund zu stellen.
Im letzten Drittel des Buches hebt Figes hervor, wie schwierig, ja geradezu unmöglich es war, die durch das Regime zerrütteten Familien wieder zusammenzuführen. Eltern legten nach ihren Entlassungen aus den Arbeitslagern oft mehrere tausend Kilometer zu Fuß zurück, um ihre Kinder nach jahrelanger Trennung aus den Heimen zu holen oder bei Verwandten aufzusuchen. Nicht selten erkannten weder die Kinder die eigenen Eltern, noch die Eltern ihre Kinder. Die romantischen Bilder, die sich die Zurückgebliebenen von den Wiederkehrern machten, wurden in den seltensten Fällen erfüllt, fielen oft erbarmungslos zusammen. Meist rückte früher oder später eine herbe Enttäuschung zwischen die Überlebenden der Lager und die Überlebenden des stalinistischen Alltags. »Eigentlich hatte ich ihm nichts zu sagen. Ich verspürte nicht mehr den Drang, ihm mein Herz zu öffnen … Ich hatte den Vater meiner Träume verloren«, gestand Galina Stein dem Autoren über ihr Verhältnis zu ihrem Vater nach dessen Entlassung aus dem Gulag. Es kam auch vor, dass längst tot Geglaubte auf einmal wieder auftauchten und die neue Ordnung durcheinander brachten. Manch Partner musste erfahren, dass der geliebte Mensch, den er vor Jahren zurückgelassen hatte, inzwischen erneut geheiratet hatte. Die Zurückgelassenen gingen oft davon aus (und hatten auch jeden Anlass dazu), dass ihre verhafteten Partner längst ermordet worden seien. Darüber hinaus standen nun oftmals die Denunzianten denjenigen gegenüber, die sie vor Jahren verraten und diskreditiert hatten. »Nun werden die Inhaftierten zurückkehren, und zwei Russlands werden einander in die Augen sehen: das eine, das diese Menschen in ein Lager geschickt hat, und das andere, das zurückgekommen ist.«, formulierte die Schriftstellerin Anna Achmatowa und beschrieb damit treffend die unheimliche Atmosphäre der Rückkehr, die die allgegenwärtige Begleitmusik der Massenentlassungen nach dem Krieg spielte.
Zugleich fiel das Land nach Kriegsende in die alte Angststarre »wie das Kaninchen vor der Schlange« zurück. Die Angst vor der Verfolgung hatte die Menschen wieder im Griff. Der Schriftsteller Alexander Borschtschagowski führte dies auf die Haupteigenschaft der Unterwürfigkeit der Anhänger des Stalinismus zurück, die »sich nicht einmal den halboffiziellen Anweisungen der Bürokraten auf der untersten Ebene zu widersetzen vermochten.« Der alles erfassende Staatsterror ließ erst nach Stalins Tod am 5. März 1953 nach. Tatsächlich spürbar war die sich verbreitende »Tauwetter«-Atmosphäre jedoch erst nach der auf dem XX. Parteitag der KPdSU verkündeten Entstalinisierung durch Nikita Chruschtschow.
Der Personenkult um Stalin fand ein Ende, die innere Repression, das Gefühl, beschädigt und belastet zu sein, dauert bei den Überlebenden der Stalinzeit und deren Nachkommen bis heute an. Erinnerung oder gar Wiedergutmachung, Entschuldigung oder Restitution – zu große, fast zu hohle Worte für all das, was der britische Historiker Orlando Figes recherchiert und auf mehr als eintausend Seiten versammelt hat. Das Schicksal des Einzelnen, das gesammelte Leid und die erfahrene Ungerechtigkeit kann Nichts ungeschehen machen. Die Angst davor, noch einmal Leidtragender des längst vergangenen Regimes zu werden, hämmert weiter tief in den Herzen der Opfer. Das schlichte Maß der körperlichen und seelischen Erschöpfung, welches das Dasein der Überlebenden des Stalinismus bis heute bestimmt, kann nicht mehr getilgt werden. »Die Machthaber wechseln, der Archipel bleibt«, wie Solschenizyn treffend schrieb. Dies gilt auch für die physischen und psychischen Schmerzen von Millionen Russen, die unverrückbar existent sind, jedoch bis heute ignoriert und ins Dunkle verbannt werden. Diese Leiden können, nein, sie müssen aber gehört, anerkannt und respektiert werden. Figes beweist mit diesem Werk den Mut, den Terminus des Opfers umzudeuten. Nicht nur die Millionen Toten sind Opfer des stalinistischen Terrors, sondern auch die Überlebenden, die Davongekommenen, sind in gleichem Maße die Leidtragenden dieses Gewaltregimes. Orlando Figes gibt in Die Flüsterer den Millionen anonymen Opfern Stimme und Name zurück und lässt sie ihre »kleinen« Geschichten erzählen, die die große Geschichte erst greifbar machen.
Bleibt die Frage, ob man das überhaupt will, diese Geschichte des Grauens greifen können? Dies ist wohl die falsche Frage. Die richtige Frage wäre vielmehr, ob man dem Einzelnen ebenso gleichgültig begegnen möchte, wie dies die Maschinerie des Stalinismus getan hat! Ob man die Systematik des Umdeutens der Nachbarn und Freunde in Objekte von Folter und Massenmord und damit die finstere Seite der menschlichen Natur tatsächlich ewig ignorieren und akzeptieren kann? Ob man dem Warum tatsächlich aus dem Weg gehen möchte? Nun, dies soll jeder selbst entscheiden, aber ohne die Antwort auf diese Frage, so die amerikanische Historikerin Anne Applebaum, »werden wir eines Tages aufwachen und feststellen, dass wir nicht wissen, wer wir sind.«
Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Mit 133 S/W-Abbildungen und Karten
Berlin-Verlag 2008
1.040 Seiten. 34,- Euro (ePub: 15,99 Euro)
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[…] am eigenen Volk – in ihren Details und individuellen Ausmaßen einzigartig von Orlando Figes in Die Flüsterer erfasst – forderte mehrere hunderttausend Opfer. Stalins NKWD-Schergen leisteten pflichtbewusst […]