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»Ein Akt der seelischen Gewalt«

Wie kommt es, dass bei der Islamdebatte statistische Evidenz und soziale Wahrnehmung derart weit auseinanderfallen? Sarrazins Buch ist voller fehlerhafter Ableitungen.

Sarrazin behauptet, sein Buch biete gar keine Thesen, nur Tatsachen. Wissenschaftstheoretisch ist das Quatsch. Aber ein Buch, das gar keine Hypothesen formuliert, kann auch nicht durch Empirie falsifiziert werden. Bei jedem Gegenbeispiel werden die Sarrazin-Gläubigen darauf beharren, das Gesamtbild sei aber unzweifelhaft wahr. Daher die vielen Appelle an den gesunden Menschenverstand, auch in Necla Keleks Plädoyer für das Buch. Und doch ist die Simulation von Wissenschaftlichkeit, der von Sarrazin getriebene Aufwand, für den Erfolg sehr wichtig. Die Lektüre ist anstrengend. Viele Leser bleiben stecken, sind aber stolz darauf, wie weit sie gekommen sind. Und sind erst recht zornig auf die Kanzlerin, die sich die Mühe gespart hat.

Der These der Islamkritiker, der Islam sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, halten Sie entgegen, dass die Islamkritik als präventiver Akt dem Grundgesetz schade. Wie ist das zu verstehen?

Das Grundgesetz bedarf der praktischen Aneignung, der belebenden Interpretation durch die Staatsbürger. Der eine oder andere konservative Staatsrechtslehrer bedauert, dass der Katalog der Grundrechte nicht sogleich durch eine Aufzählung der Grundpflichten relativiert wird. Ich halte es dagegen für die liberale Pointe der Verfassungsarchitektur, dass das Grundgesetz Spielräume eröffnet: Seine Wirklichkeit hat es im Streit und als Experiment. Es wäre voreilig, der Tradition einer Weltreligion zu bescheinigen, sie habe zur Ausdeutung des Grundgesetzes gar nichts beizutragen.

In Ihrem Buch kritisieren Sie die Einschränkung der Rechte der Muslime, ihre Religion auszuüben. Bestes Beispiel sei das Kopftuchverbot, das Sie als »Akt der seelischen Gewalt« gegenüber muslimischen Frauen bezeichnen.

Ein Kopftuchverbotsgesetz trifft diejenigen Frauen, die das Gebot der Bedeckung des Haupthaars als unbedingt verpflichtend empfinden. Sie käme sich nackt vor, wenn sie ohne Kopftuch das Haus verließe, hat die Beschwerdeführerin im Karlsruher Verfahren zu Protokoll gegeben. Betrachtet man das Gesetz vor dem Horizont der Lehrerin, nötigt es sie, sich entweder zu entkleiden oder auf ihren Beruf zu verzichten.

Verstößt es tatsächlich gegen das Grundgesetz, von Lehrerinnen und Lehrern das Ablegen sichtbarer religiöser Symbole im Rahmen ihres Dienstes zu verlangen?

Ich bin kein Jurist und möchte dem Bundesverfassungsgericht nicht widersprechen, das entschieden hat, dass ein solches Verbot nicht gegen das Grundgesetz verstoßen muss – sofern es Gesetzesform hat. Max Weber nennt den Typus des Asketen, der seine gesamte alltägliche Lebensführung nach Glaubensgesetzen ordnet, den Religionsvirtuosen. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Lebensmodell die Ausübung des einen oder anderen bürgerlichen Berufes unmöglich macht und dass dieser tatsächlichen Unmöglichkeit im Zweifel auch die rechtliche Unvereinbarkeit entsprechen muss. Die Orientierung am Überweltlichen hat eben weltliche Kosten. Wer etwa die fünf dem Muslim täglich vorgeschriebenen Gebete so fixiert, dass er keinen Stundenplan einhalten kann, ist für den Lehrerberuf und wahrscheinlich für jede Büroexistenz ungeeignet. Eine solche Beeinträchtigung ist allerdings mit dem Kopftuch nicht verbunden, hier geht es um das bloße Zeichen einer religiösen Verpflichtung. Meinem Verständnis von Demokratie widerstrebt es, allzu viele Gestaltungsverbote ins Grundgesetz hineinzulesen. Eher möchte ich von den praktischen Konsequenzen der konkurrierenden Verfassungsinterpretationen her argumentieren. Was bedeutet ein bestimmter Begriff von Beamtenpflichten oder Selbstdarstellungsrechten für unser Gesellschaftsideal und Menschenbild?

DSC_0754Die Frage »Was sagt das Grundgesetz?« kann man immer übersetzen in die Frage »In welchem Land wollen wir leben?« Für die Kopftuchfrage heißt das: Was bedeutet ein Kopftuchverbot für die Chancengleichheit muslimischer Frauen, für das Projekt der Emanzipation durch Bildung, für das Interesse der Gesellschaft an der Durchlässigkeit frommer Milieus? Und was bedeutet es für die Schule? Der Düsseldorfer Staatsrechtslehrer Martin Morlok hat in diesem Zusammenhang den Satz formuliert, der Lehrer erteile den Unterricht nicht nur in Person, sondern auch als Person. Er ist nicht die Verkörperung eines Staates, der über den Menschen schwebt. Unser Staat besteht aus Personen. Die Lehrerin mit Kopftuch zwischen Lehrerinnen ohne Kopftuch macht sichtbar, dass jeder Bürger seine Überzeugungen hat, die er nicht verleugnen muss, wenn er sie anderen nicht aufdrängt.

Verteidigen Sie das Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Dienst, weil sich andere Beamte auch mit christlichen Symbolen schmücken können?

Zunächst einmal geht es um Grundrechte. Die Grundrechte der Lehrerin, vorrangig aber – hier stimme ich dem Sondervotum der Richter Di Fabio, Jentsch und Mellinghoff zu: der Beamtendienst ist nicht um der Selbstverwirklichung willen da – die Grundrechte der Eltern und Schüler. Merkwürdigerweise wird im Karlsruher Urteil gar nicht angesprochen, welche Botschaft ein kopftuchlos uniformierter Lehrkörper den Kindern vermittelt, in deren Familien die erwachsenen Frauen Kopftücher tragen. Sollen sich die Kinder ihrer Mütter schämen, die Lehrerinnen ersichtlich nicht hätten werden können? Ist das Kopftuch ein böses Familiengeheimnis wie der Alkohol?

Inwiefern ist die Kopftuchdebatte eine heuchlerische Diskussion?

Andere Lehrer mit starken Überzeugungen werden nicht schon durch ihre Kleidung auffällig und können daher nicht schon an der Schultür abgewiesen werden. Das möchte ich aber noch nicht Heuchelei nennen, diese Ungleichbehandlung ergibt sich aus der Natur des Kopftuchs. Wohl aber wünsche ich mir eine Schule, in der der Sozialist nicht verhehlen muss, dass er an das Gemeineigentum glaubt, und in der die Vegetarierin ihren Schülern auf Nachfrage eröffnen darf, dass ihrer Überzeugung nach die Welt eine bessere wäre, wenn niemand mehr Fleisch äße. Eher schon erfüllt es den Tatbestand der Verlogenheit, dass das religiös motivierte Zurückbleiben hinter dem Ideal vollkommener Gleichberechtigung nur in der muslimischen Variante bekämpft wird. Darauf hat die heutige Verfassungsrichterin Gabriele Britz aufmerksam gemacht: Eine Lehrerin, die sich mit einer halben Stelle begnügt, um ihrem Mann nach christlich-patriarchalischer Sitte den Haushalt zu führen, muss keine Sanktionen fürchten.

Verlangt die moderne Zivilisation nicht auch das Überwinden religiöser Traditionen und Verhaltensweisen zugunsten einer aufgeklärten Weltsicht?

Das ist eine geschichtsphilosophische Maxime nicht ohne soziologische Plausibilität. Der Rechtsstaat kann sie allerdings nicht verbindlich machen. Überdies verwendet einen Parteibegriff von Aufklärung, wer sie in dieser Weise in Gegensatz zur Religion setzt.