Timothy Snyder ermöglicht mit seiner Geschichte der Massenmorde in Osteuropa einen neuen Blick auf die blutige europäische Vergangenheit und denkt das Undenkbare.
»Ich habe Dich nicht vergessen, mich nicht beruhigt, nicht getröstet, die Zeit hat meine Wunden nicht geheilt. Du verkörperst für mich das Menschliche, und Dein furchtbares Schicksal ist das Schicksal des Menschen in unmenschlicher Zeit.« Diese Zeilen schrieb der russische Journalist und Schriftsteller Wassili Grossman seiner 1944 von deutschen Soldaten getöteten Mutter Jahre später ins Grab hinterher. Grossman ist einer der bedeutendsten Zeugen der Menschenvernichtung, die deutsche und sowjetische Soldaten zwischen 1933 bis 1945 durchgeführt haben. Über vierzehn Millionen Menschen sind allein im Gebiet zwischen Berlin und Moskau unter deutscher und sowjetischer Militärgewalt Massenmordkampagnen zum Opfer gefallen. Der britische Historiker Timothy Snyder bezeichnet diese Todeszone daher als Bloodlands.
Vierzehn Millionen Menschen, welch erschlagende Zahl. Darunter ist jedoch nicht ein einziger aktiver Soldat. Unter diesen vierzehn Millionen waren hauptsächlich Frauen, Kinder und Alte. Snyder hat mit seinem im vergangenen Jahr erschienenen Titel Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin eine monumentale Studie der geplanten Massenmordkampagnen zwischen Zentralpolen und Westrussland vorgelegt, die neue Maßstäbe setzt – weniger aufgrund der darin enthaltenen Zahlen, sondern vielmehr aufgrund der schonungslosen Analyse der Folgen, die die imperialen Pläne Hitlers und Stalins für die Menschen in dieser Region hatten. Denn für beide war dieses Gebiet nur wenig mehr als strategische Masse für ihre größenwahnsinnigen Pläne – als Kornkammer, Besiedlungszone und machtpolitischer Verhandlungsgegenstand.
Legt man eine aktuelle Karte über die Bloodlands, leuchten dort die Ländernamen Polen, Ukraine, Weißrussland, Litauen, Lettland und Estland sowie Russland auf. Zu sagen, dass hier deutsche und sowjetische Soldaten wüteten, ist keineswegs falsch. Die massenhaften Erschießungen durch deutsche und russische Soldaten erklären aber lediglich die Hälfte der Opfer der ideologischen Vernichtungspolitik Hitlers und Stalins. Denn mehr als sieben Millionen Menschen sind zwischen 1933 und 1945 in diesem Gebiet verhungert, weil weder Stalin noch Hitler von den ursprünglichen Plänen abweichen wollte.
Snyder schreibt in Bloodlands Geschichte neu, weil er aus den jeweiligen nationalen Geschichtsschreibungen wenn schon nicht eine gesamteuropäische, so dann doch aber zumindest eine osteuropäische Historie herausgearbeitet hat. Dabei ist seine grenzüberschreitende Perspektive nicht neu. Ein Novum ist jedoch der entideologisierte, fast nüchterne Blick auf die alle menschlichen Vorstellungen übersteigenden Massenmorde, der Konsequenz seines Ansatzes ist, »dass kein vergangenes Ereignis jenseits des historischen Verstehens oder Erforschens liegt«. Dieser Ansatz heraus ermöglicht ein Panorama auf die Ereignisse fernab der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs, in dessen Chronologie Ausschwitz nicht vorrangig den Höhepunkt, sondern – aller Grausamkeit zum Trotz – vor allem »die Coda der Todesfuge« darstellt. Eine Aussage, die nach der Lektüre der gut 400 eng bedruckten Seiten nachvollziehbar ist.
Snyders Analyse teilt sich mit der Konsolidierung der beiden Diktaturen (1933 – 1938), der gemeinsamen Besetzung Polens (1938 – 1941) und dem deutsch-sowjetischen Krieg (1941 – 1945) in drei große Zeitfenster, in der die alle Grenzen überschreitende Gewalt niemals abebbte, sondern immer nur ihr Gesicht veränderte. In der ersten dieser drei Phasen hat der Massenmord hauptsächlich in den von der Sowjetunion kontrollierten Gebieten stattgefunden. Stalins Kollektivierungskampagne in der Ukraine wuchs sich zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die ukrainische Bevölkerung aus, bei dem mindestens drei Millionen Menschen starben. Sämtliche Lebensmittel wurden eingesammelt und per Zug nach Russland gebracht, um die dortige Bevölkerung zu ernähren. Den Menschen in der Ukraine blieb nur der massenhafte Hungertod. Die Notiz eines Jungkommunisten macht die Ausmaße deutlich: »Kolchosenmitglieder gehen auf die Felder und verschwinden. Ein paar Tage später findet man ihre Leichen und ganz ohne Gefühle, als wäre es normal, begräbt man sie. Am nächsten Tag kann man schon die Leiche von einem finden, der gerade noch Gräber für andere gegraben hat.«
Kannibalismus war, wie schon vor Jahren von Nicolas Werth in seinem Buch Die Insel der Kannibalen beschrieben, eher Normalität als Seltenheit. Stalin hätte dies verhindern können, wollte es aber nicht, weil der paranoide Despot in der Hungersnot nicht das Resultat einer falschen Entscheidung seinerseits, sondern einen Sabotageakt lokaler Parteiaktivisten vermutete, wie Snyder belegt. Am Anfang der ukrainischen Hungersnot stand die kalkulierte Säuberung der ukrainischen Parteistrukturen, am Ende standen drei Millionen Tote. »Die Ukraine war stumm geworden.«
An dem Massenmord Stalins in der Ukraine schließt sich nahtlos das Konsolidieren und Einschüchtern der eigenen Strukturen an, der unter Stalin im Großen Terror von 1937 mündet. Nichts und niemand sollte sich sicher fühlen. »Wir werden gnadenlos jeden vernichten, der durch seine Taten oder seine Gedanken – jawohl seine Gedanken – die Einheit des sozialistischen Staates bedroht«, sagte Stalin zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution 1937, um anschließend sein Glas auf die »völlige Vernichtung aller Feinde und ihrer Familien« anzustoßen. Diese, unter dem Stichwort Kulakenaktion in die Geschichte eingegangene, totalitäre Säuberung am eigenen Volk – in ihren Details und individuellen Ausmaßen einzigartig von Orlando Figes in Die Flüsterer erfasst – forderte mehrere hunderttausend Opfer. Stalins NKWD-Schergen leisteten pflichtbewusst ihren Dienst nach Vorschrift. Während die Zentrale die Mordzahlen lieferte, wurden vor Ort die Massaker begangen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Team von zwölf NKWD-Männern erschoss 1937/38 fast 20.761 Menschen am Rande von Moskau. Zwanzigtausendsiebenhundertundeinundsechzig! Von diesen Killerkommandos gab es Unzählige. Dieser Terror hielt sich bis weit in die 1940er Jahre. Snyder beschreibt dessen Muster wie folgt: »Aus trivialen Einzelheiten des Alltagslebens wurde ein Bericht, dann ein Albumeintrag, eine Unterschrift, ein Urteil, ein Schuss, eine Leiche.« Ebenso einfach wie fatal.
Dabei rückten auch die nationalen Minderheiten in den besetzten Gebieten rechts und links von der Ribbentrop-Molotow-Linie in den Fokus der Verfolgungen. So forderte Stalin im »Interesse der Sowjetunion« die Vernichtung der sowjetischen Polen. Zehntausende wurden im Rahmen der Polenaktion hingerichtet. Für sowjetische Polen war es während des Großen Terrors vierzigmal wahrscheinlicher, im Großen Terror zu sterben als für andere Sowjetbürger.«
[…] und zum Holocaust gehören zu den viel und heißt diskutierten Werken der Geschichtsschreibung. Bloodlands oder Black Earth beschreiben und analysieren die menschenverachtenden Gräueltaten der sich […]