Geschichte, Sachbuch

Zwei Regime, eine verbrannte Erde

Wenngleich der Naziterror Deutschland umgehend nach Hitlers Machtergreifung erfasste, mündete er meist in Haftstrafen und nur selten in Hinrichtungsaktionen. Bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1938, konstatiert Snyder, führte die Konsequenz der Gewaltausübung unter Stalins Diktatur mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit zum Tod, als unter Hitler.

Dies änderte sich mit dem Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin und der Aufteilung Polens nach Geschmack der beiden Despoten. Schon bald ermordeten deutsche und sowjetische Soldaten in gleichem Maße polnische Zivilisten. Während Stalin im von der Sowjetunion besetzten Teil Polens zehntausende Ärzte, Professoren, Anwälte und Wissenschaftler nach Sibirien verschleppen und die militärische Elite Polens erschießen ließ, legte Hitler den Schwerpunkt seiner Politik darauf, sich der 20 Millionen Polen, sechs Millionen Tschechen und zwei Millionen Juden, um die das Territorium unter deutscher Kontrolle angewachsen war, zu entledigen. Deportationen, Ghettoisierung und systematische Erschießungen prägten auch den Alltag in Westpolen. Die polnischen Juden rückten bei beiden Besatzungsmächten in den Fokus und kamen in besonders großer Zahl ums Leben, weil sie sich als loyale polnische Bürger erwiesen.

In der Betrachtung dieser Phase liegt womöglich die größte Schwäche von Snyders Analyse, weil sie inhaltlich zwischen Stalins Massenmorden in der ersten und Hitlers Vernichtungsfeldzügen in der dritten Phase des Krieges nahezu untergeht – und damit auch der direkte Vergleich von Hitlers und Stalins Motiven. Ob ihrem Handeln eher Nationalismus, Antisemitismus oder die imperiale Kriegsstrategie zugrunde lag, wird nicht ausreichend deutlich. So schwankt Snyders Einschätzung hinsichtlich der Frage, ob den deutschen Massenmorden eher die hoch gesteckten Ziele des Generalplans Ost zugrunde lagen, demzufolge in den Bloodlands 31-45 Millionen Menschen vernichtet werden sollten, um dort eine gigantische deutsche Agrarkolonie zu errichten oder vielmehr das nationalistische und antisemitische Wüten der deutschen Soldaten und ihrer Verbündeten. Dies liegt auch daran, dass diese beiden Motive schwer voneinander zu trennen sind. Denn das Scheitern der Eroberung Westrusslands und das Zurückdrängen der deutschen Soldaten durch die sowjetischen Truppen steigerte das massenhafte Morden, weil eine Deportation oder Umsiedlung nicht-arischer Völker damit unmöglich wurde.

Bemerkenswert an Snyders Analyse ist hingegen, dass es ihm gelingt, in der chronologischen Darstellung der mörderischen Entscheidungen Stalins und Hitlers die Ähnlichkeiten der Ziele herauszuarbeiten – nicht indem er von Schlachtfeld zu Schlachtfeld springt, sondern indem er einen Blick auf die gesamte Region wirft und die Vorkommnisse in ihnen beschreibt. Wenn die Entscheidungen der beiden Despoten und ihrer Adepten auch zeitlich versetzt getroffen wurden, erscheinen sie doch wie zwei Seiten ein und derselben Münze. Einer Münze, die, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz, einmal in Drehung gebracht nicht langsamer, sondern immer schneller wird. Die sich aufschaukelt zu einem System sich gegenseitig ansteckender Gewaltregime. So ließ etwa auch Hitler die Agrargüter der Ukraine für die Versorgung der Bevölkerung in seinem westeuropäischen Imperium einsammeln und verursachte die nächste Hungersnot in den Bloodlands. Allerdings war diese nicht Folge einer noch korrigierbaren Fehlplanung, sondern kalkuliertes Mittel zum Zweck. Auf Kosten des Hungertodes von Millionen führte Deutschland seinen Feldzug in Osteuropa fort, ohne die eigene Bevölkerung über die Maße zu belasten. Nahrungsmittel gingen erst an deutsche Soldaten, dann an deutsche Zivilisten, dann an sowjetische Zivilisten und wenn dann noch etwas blieb, auch an sowjetische Kriegsgefangene.

Deren Zahl war bis Ende 1941 immerhin auf etwa drei Millionen Personen angewachsen. An ihnen wurde der erste Versuch eines Lagernetzwerks unternommen. Die Lager waren dabei meist nicht mehr als ein mit Stacheldraht umzäuntes Feld, ohne Registratur, Krankenhäuser oder Latrinen. Diese »Kriegsgefangenenlager im Osten waren weit mörderischer als die deutschen Konzentrationslager«, schreibt Snyder. Inwiefern dieses Urteil auf den nackten Zahlen beruht oder tatsächlich auf einer Bewertung der Zweckausrichtung kann nicht abschließend beurteilt werden. Dass er zu dieser Einschätzung kommt, liegt letztlich daran, dass Snyder eine Differenz zwischen Konzentrationslager und »Todesfabriken« einführt und sich dabei durchaus auf einen schmalen Grad begibt – insbesondere weil diese, wie in Ausschwitz, an einem Ort zusammengefasst und Übergänge fließend waren.

Mit dem absehbaren Scheitern des Unternehmens Barbarossa wurde die Vernichtung des europäischen Judentums zur Priorität der deutschen Kriegspolitik. Nicht nur wurden die deutschen Einsatzgruppen entsprechend verstärkt, um systematisch die jüdischen Bevölkerung in der osteuropäischen Besatzungszone zu vernichten, sondern es wurden auch einheimische Polizisten und Helfer rekrutiert, da die eigenen Truppen nicht ausreichten. Diese führten ab 1942 die Erschießungen nahezu selbständig auf deutschen Befehl aus. Snyder arbeitet in seiner Studie detailliert heraus, welche Befehle dem zugrunde lagen und wie viele Juden von deutschen Soldaten und den Zivilverwaltungen in welchem Gebiet ermordet wurden. Bei der Betrachtung der Situation in Weißrussland betont er die besondere Verbindung der Judenvernichtung mit den deutschen Antipartisanenaktionen. Hier tat sich unter den Massenmördern vor allem das SS-Sonderkommando Dirlewanger hervor, das ab 1942 in Weißrussland mindestens 30.000 Zivilisten tötete. Dirlewangers Lieblingsmethode war es, Zivilisten in eine Scheune zu treiben, diese anzuzünden und auf alle zu schießen, die zu entkommen versuchten.

Es sind diese Details der alltäglichen Gewalt, die Snyder den unzähligen Quellen entnommen hat und die die abstrakten Zahlen in ebenso Konkretes wie Beklemmendes übersetzen. Sie liefern die Basis für das Verständnis von Aussagen wie der Folgenden: »Etwa 5,4 Millionen Juden starben unter deutscher Besatzung. Fast die Hälfte von ihnen wurde östlich der Molotow-Ribbentrop-Linie ermordet, meist durch Kugeln, seltener durch Gas. Der Rest starb westlich der Molotow-Ribbentrop-Linie, meist durch Gas, seltener durch Kugeln.« Ziemlich genau auf der Linie befanden sich die Vernichtungslager Treblinka, Sobibór, Majdanek und Belzec, wo 1942 bei der Aktion Reinhardt 1,3 Millionen polnische Juden vergast wurden. Diese Mordstätten hatten keinen anderen Zweck, als die umgehende Ermordung derjenigen, die dort ankamen.

Hitlers Endlösung ist in Snyders Argumentation die zwanghafte Folge der militärischen Niederlage an der Ostfront. »Der Massenmord war weniger ein Zeichen des Triumphs als ein Ersatz dafür.« Mit der absehbaren Niederlage setzte die Politik des Verbrannten Bodens ein. Nichts und niemand wurde geschont, die erst eroberten Ostgebiete waren der Zerstörung und die Menschen der Gewalt durch deutsche Truppen anheimgegeben. Zugleich kamen mit den sowjetischen Truppen nicht die großen Befreier, sondern die Besatzer und Massenmörder von einst, die neben der aus Frustration geborenen Gewalt auch einen kommunistischen Antisemitismus mitbrachte, der die europäische Vergangenheit, wie Snyder belegt, verfälschte. Wen die »befreiten« Menschen erwarteten, machen die Zeilen eines die sowjetischen Truppen erwartenden, weißrussischen Soldat deutlich: »Wir erwarten dich, rote Pest,/Damit du uns vom schwarzen Tod erlöst.«

Dass der Stopp der Roten Armee an der Weichsel hunderttausende Tote westlich davon verursachte, darunter hauptsächlich Juden, ist nicht neu, passt aber in Snyders Bild zweier Diktatoren, denen es niemals um Menschen, sondern immer nur um Ideologie ging. Eine Ideologie, die 14 Millionen Tote Zivilisten forderte und das Gebiet zwischen Ostpolen und Westrussland in den Schauplatz des größten Mordens der Menschheitsgeschichte verwandelte. »Die Bloodlands waren einfach der Schauplatz, wo Europas brutalste Regime ihre Morde verübten«

»Was auch passiert, kommt nicht her. Hier sterben wir. Versteckt euch oder sterbt lieber dort, aber kommt auf keinen Fall her.« Zeilen wie diese drangen zu Beginn der 1930er Jahre aus der Ukraine hinaus. Nach der Lektüre von Snyders monumentaler Studie weiß der Leser um die Bedeutung dieser Zeilen, die die Grenzen von Zeit und Raum überwunden haben und allgemeine Gültigkeit für die Bloodlands von 1933 bis 1945 erlangt haben. »Was auch passiert, kommt nicht her.«

9783406621840_coverTimothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin

Aus dem Englischen von Martin Richter

Verlag C.H.Beck 2011

523 Seiten. 29,95 Euro

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