Bei aller Kritik am Dogmatismus, ob religiös oder atheistisch, hält Rousseau in seinen Briefen seine religiöse Fundierung nie zurück. Die Welt und ihre Entstehung erklärt er sich auf die ihm am ehesten begreifbare Art: Als Schöpfung. Alles andere überstieg seinen Verstand.
Damit war er nicht der Einzige. Schon Philipp Blom präsentierte in seiner Studie Böse Philosophen einen verzweifelten Enzyklopädisten, Thiry Holbach, der vor den Zeichnungen für die botanischen Enzyklopädie-Artikel weinend zusammengebrochen sein soll: »All diese Schönheit, begann der Baron [Holbach; A.d.A.] wieder und zeigte auf die detailgetreu wiedergegebenen Blumen, Blätter, Blüten und Fruchtknoten, all diese Schönheit muss doch der Beweis einer höheren Intelligenz sein! Diderot sah ihn einfach an, ohne zu antworten, woraufhin Holbach weinend zusammenbrach.«
Die an das Ende der Zusammenstellung gestellten Briefe an David Hume, den Marquis de Mirabeau und Laurent-Aymon de Franquières machen deutlich, dass Jean-Jacques Rousseau mitnichten Atheist war. Vielmehr verurteilte er alles, was sich bewusst von Göttlichen abwendete; weil er diese Abwendung für einen rechtschaffenen Bürger als völlig unnötig ansah.
An den Vorsteher der Pariser Zensurbehörde, Guillaume Lamoignon de Malesherbes, der sehr aufmerksam die Aktivitäten der Enzyklopädisten verfolgte, zu denen Rousseau gehörte, schreibt er nach seiner Flucht aus Genf nach Paris: »Ein Wort, das ich sagen, ein Brief, den ich schreiben, ein Besuch, den ich abstatten soll, all dies ist für mich, sobald ich es tun muss, eine wahre Pein. Deswegen ist mir die vertraute Freundschaft so wichtig, obwohl mir der übliche Umgang mit Menschen höchst zuwider ist.«
Hier deutet sich bereits an, was Herzig von Croÿ später bei seinem Buch feststellen musste. Das in Rousseau zwar ein stets wacher und unermüdlich arbeitender Geist steckt, der sich aber nicht mehr öffentlich mit der Welt konfrontieren möchte. Dies macht auch die Tatsache deutlich, dass der letzte der von Henning Ritter versammelten Briefe vom Februar 1770 stammt, acht Jahre vor seinem Tod. Der Brief an seinen späteren Vertrauten, den Grafen Claude Anglancier de Saint-Germain, kommt als eine Art Selbstbefragung daher, trägt erste Grundzüge seiner autobiografischen Gespräche. Rousseau urteilt über Jean-Jacques – natürlich als Dialog angelegt.
Am Ende blieb Rousseau nur der Rückzug, der ihm aber, man mag es kaum glauben, durchaus zuträglich war. Wenig Schriftliches ist noch entstanden, darunter sein letztes großes Werk, die Träumereien des einsam Schweifenden, die nun in einer neuen kommentierten Edition erscheinen. Durch die Natur flanierend und sich an ihrer Schönheit weidend (wir erinnern uns an den verzweifelten Thiry d’Holbach, der an der Nicht-Existenz eines Schöpfers verzweifelte), kommen Rousseau verschiedene Gedanken und Erinnerungen – sein Leben, den Sinn des Daseins, die Logik des Denkens und die Bedeutung des Fühlens betreffend, die er auf Spielkarten notierte und später zu Texten ausarbeitete. Das assoziative Denken, heute ontologische Grundkonstante, wird hier von Rousseau praktiziert, wenn nicht sogar erfunden. Stefan Zweifel wurde für seine Neuübertragung der Rêveries, die oft als Fortsetzung seiner Bekenntnisse bezeichnet werden, mit dem Zuger Übersetzungspreis ausgezeichnet, weil er den Leser in die besondere Musikalität dieses Werkes einführe. Vor allem präsentiert er uns den späten Rousseau, offenbar ausgeglichen und mit sich im Reinen: »Für mich ist auf Erden alles zu Ende. Man kann mir kein Wohl mehr zufügen und kein Weh. Ich habe hienieden nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu fürchten, und so stehe ich daselbst, ganz klanglos in der Tiefe des Abgrundes, ein armer, unglücklicher Sterblicher zwar, aber unerschütterlich wie nur Gott.«
Jean-Jacques Rousseau war ein Tausendsassa: radikaler Aufklärer, demokratischer Vordenker, gläubiger Moralisten, toleranter Gesprächspartner und naturverbundenen Flaneur auf einmal.
Henning Ritter (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau. Ich sah eine andere Welt. Philosophische Briefe.
Hanser-Verlag 2012
400 Seiten. 27,90 Euro
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Stefan Zweifel (Hrsg.): Träumereien eines einsam Schweifenden
Verlag Matthes & Seitz 2012
250 Seiten. 19,90 Euro.
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[…] dabei stets keine unwesentliche Rolle, egal ob es sich um Casanovas Geschichte meines Lebens, Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse oder Catherine Millets Beichte Das sexuelle Leben der Catherine M. handelt. Jan […]
[…] nachts durch die Straßen und über Friedhöfe (parallel dazu liest er nun Jean-Jacques Rousseaus Träumereien eines einsam Schweifenden). Dabei stößt er auf seltsame Botschaften (»Die Gesellschaft existiert nicht«, »Frankreich ist […]