Fotografie

Dinge, die niemand sehen würde

Es existiert aber auch ein Widerspruch in den Fotografien von Diane Arbus. Auf der einen Seite sind es allesamt Bilder einer vorübergehenden Befreiung vom puritanischen Amerika, wie es uns heute teilweise wieder begegnet. Ihre Aufnahmen aus dem Milieu der Freaks und Abweichler, der Dragkünstler und Transvestiten, der Nudisten und anderer Minderheiten sind Bilder der Befreiung aus dem gesellschaftlichen Abseits hinein in die Mitte. Die Abgebildeten werden durch die Fotografie zum Teil des »vertikalen« Amerikas, das Arbus Ende der 1950er bereiste. Zugleich strahlen die Porträtierten nicht selten eine tiefe Müdigkeit und Resignation aus. An ihre gesellschaftspolitische Befreiung möchten sie scheinbar noch nicht (oder nicht mehr) glauben. Es ist das Können, diesen Widerspruch zu erkennen und abzubilden, was Arbus auszeichnete: »Irgendwie glaube ich schon, dass ich ein besonderes Gespür für Sachen habe. Das ist schwer greifbar und ist mir auch ein bisschen peinlich, aber ich glaube, es gibt Dinge, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografiert hätte.«

Möglicherweise kam die ehemalige Schülerin einer Privatschule für ethische Kultur, die in den 40ern bei keiner geringeren als Berenice Abbott das Fotografiehandwerk gelernt hat, gar nicht umhin, sich einen zutiefst menschlichen Ansatz des eigenen Fotografierens zu suchen. Wie dem auch sei, die Resultate ihres kurzen Schaffens, die nun nach Paris und Winterthur auch in Berlin in Auszügen zu sehen sind und anschließend nach Amsterdam weiterreisen, sind beeindruckend.

Arbus_Trio_03_fullWeniger beeindruckend, vielmehr erschreckend ist die unsystematische Sortierung der Fotografien im Gropius-Bau, wobei bereits die Verwendung des Begriffs Sortierung eine Erwartung weckt, die nicht erfüllt wird. Die Fotografien wurden weder chronologisch noch thematisch gehangen, die Ordnung entzieht sich auch einem wissenschaftlichen Ansatz. »Stattdessen sollen die Werke selbst das Auge der Zuschauerinnen und Zuschauer leiten«, liest der Besucher eingangs und wird sich selbst in diesem ebenso grandiosen wie vielfältigen Werk überlassen. Und je weiter man durch die Räume schreitet, umso mehr zweifelt man an den Machern dieser Schau, denn Ansätze, diese 200 Fotografien in eine Grundstruktur zu gießen, hätte es genug gegeben. Von einer lapidaren Chronologie mal abgesehen hätte man etwa Arbus’ Exkursionen in die Szene der Dragkünstler, Transvestiten und Hermaphroditen ebenso versammeln können wie ihre Bilder aus den amerikanischen FKK-Camps. Auch die Porträts mit Prominenten und Vertretern der High Society, darunter Susan Sontag, Helene Weigel, Marcel Duchamp, Norman Mailer, Luis Borges und James Brown, sind im Gropius-Bau auf mehrere Räume verteilt. Man fragt sich, warum. Maskeraden, Jahrmarkt, Kinder, junge Liebe – all dies wären mögliche thematische Ansätze gewesen.

Ohne Titel (6) 1970–71 | © The Estate of Diane Arbus

Ohne Titel (6) 1970–71 | © The Estate of Diane Arbus

Das größte Ärgernis dieser Schau ist jedoch, dass am Ende der Ausstellung dann doch einige Fotografien in einen Raum gezwängt und damit aus dem Konzept des Nicht-Konzepts ausgesondert wurden. Es sind die Fotos, die Diane Arbus in den letzten Jahren ihrer Karriere in Behindertenheimen aufgenommen hat. Warum dieses in höchst würdevollen Fotografien eingefangene Sujet nicht schon wie alle anderen quer in die Schau gestreut wurde, bleibt rätselhaft. Man will hier nicht von kuratorischer Diskriminierung sprechen, aber dass ausgerechnet diese Bilder gesondert behandelt wurden, entspricht nicht dem Ansinnen von Diane Arbus, diese als Teil der amerikanischen Normalität bewusst zu machen. Dies hätte unter dem hier erprobten Ansatz erfordert, sie in den wilden Bilderkanon einzureihen.

Zum Konzept fehlt der Ausstellung übrigens auch ein eigener Katalog. Daher hat man darauf zurückgegriffen, was von Arbus bereits vorlag und teilweise vergriffen war. Offiziell dient der englischsprachige, chronologisch aufgebaute und erstmals 2003 publizierte Revelations-Bildband mit 500 Abbildungen (davon 200 großformatige Duotone-Tafeln) und drei äußerst lesenswerten Aufsätzen als Katalog zur Ausstellung. Günstiger und nicht weniger vollkommen ist der Monografie-Band diane arbus., das eines der meistverkauften Bücher der Fotografiegeschichte ist und 2011 neu aufgelegt wurde. Und wer sich besonders für Arbus’ Aufnahmen in amerikanischen Behinderteneinrichtungen in ihren letzten Lebensjahren interessiert, dem sei der Band Untitled empfohlen.

Arbus_Revelations_Cover_fullDiane Arbus: Revelations / Enthüllungen. Englische Originalausgabe

Mit Texten von Sandra Phillips, Neil Selkirk, Jeff L. Rosenheim, Elisabeth Sussmann und Doon Arbus

Schirmer/Mosel 2012

336 Seiten. 200 Duotone-Tafeln, 300 Farbabbildungen. 58,- Euro

Hier bestellen

Arbus_Monographie_Cover_fullDiane Arbus: Die Monographie

Zusammengestellt von Doon Arbus und Marvin Israel. Mit Texten der Photographin

Schirmer/Mosel 2011

184 Seiten. 81 Duotone-Tafeln. 29,80 Euro

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Arbus_Untitled_Cover_fullDoon Arbus u. Yolanda Cumo (Hrsg.): DIANE ARBUS: Untitled

Nachwort von Doon Arbus

Schirmer/Mosel 2011

112 Seiten. 51 Duotone-Tafeln. 49,80 Euro

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