Dorrigo Evans’ Leben mit einer Kindheit und Jugend in Tasmanien, dem Medizinstudium und dem Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung, seine Zeit als verantwortlicher Offizier im Gefangenenlager und als Held nach dem Krieg bildet den erzählerischen Rahmen des Romans. Flanagan geht es um mehr als das Schreiben einer (lediglich) fiktionalisierten Biographie seines Vaters. Er möchte die essentiellen und traumatischen Erfahrungen des Krieges, der Gefangenschaft und der sinnlosen Gewalt erzählerisch spürbar machen.
Es ist unter anderem der Erzählweise des Romans zu verdanken, dass dies gelingt. Die generell stringent erzählten Handlungsstränge werden durch einzelne Erinnerungen Dorrigos aufgebrochen. In ihrem Verlauf lösen sich diese Erinnerungen zunehmend von denen des Protagonisten und können Erfahrungen anderer Figuren aufnehmen. Das macht den Text erzählerisch und inhaltlich interessanter, weil die Handlung weit über Dorrigos eigenen Horizont hinausgeht und die Essenz verschiedener Erfahrungen einfängt.
Gerade die Schilderungen vom Bau der Bahnlinie, dem Lagerleben und der sinnlos wütenden Gewalt, lassen an Eindrücklichkeit nichts aus, ohne dabei jedoch sinnlos detailliert zu werden. Die Brutalität und Gewalt, der die australischen Kriegsgefangenen im Lager und beim Bau der Trassen ausgesetzt sind und die beispielhaft am Tod des Gefangenen Darky Gardiner erzählt werden, werden mit großer Differenziertheit und Unmittelbarkeit wiedergegeben, ohne zu urteilen.
Diese Differenziertheit ist wohl die größte Stärke dieses Romans. Egal ob einzelne Ereignisse physischer oder psychischer Gewalt, Opfer und Täter – alles wird differenziert und dadurch mit einer tiefen Menschlichkeit betrachtet, die der Roman der sinnlosen Gewalt der Krieges entgegensetzt. Besonders eindrücklich gelingt dies in der Zeichnung der beiden Figuren Dorrigo Evans und des japanischen Lagerkommandanten Major Nakamura. Beide sind oberflächlich gesehen Antagonisten, doch teilen sie auch eine ausgeprägte Liebe zur Lyrik. Sie sind in sich völlig runde Charaktere mit individuellen charakterlichen Schwächen, denen der Roman mit großem Wohlwollen begegnet.
Den von dem drogensüchtigen und exzentrischen Major Nakamura angeordneten oder selbst verübten Gräueltaten an den Gefangenen und des ihm unterstellten Lagerpersonals stellt der Roman dessen Leben nach dem Krieg als flüchtiger, Angst geschüttelter Kriegsverbrecher und später als liebevoller Ehemann und Vater gegenüber. Dabei stehen jedoch seine Kriegsverbrechen nicht im Widerspruch zu seinem späteren Leben, vielmehr sind diese systemimmanent und entspringen nicht dem vermeintlich Bösen in der Person Nakamura.
So wie Nakamura nicht zum per se Bösen gemacht wird, so wird auch Dorrigo Evans nicht zum Gutmenschen. Als Chirurg ist er nur mäßig erfolgreich, seiner Rolle als umjubelter Kriegsheld und den damit verbundenen Tugenden steht er sehr ambivalent gegenüber. Als Ehemann und Vater scheitert Dorrigo grandios. Seine Ehe mit der pragmatischen Ella erweist sich als weitgehend freudlos, und Dorrigo Evans, der notorische Frauenheld, flüchtet sich in immer weitere Affären. Diese lassen ihn allerdings nicht vergessen, wonach er eigentlich sucht: die wahre Liebe in Gestalt von Amy.
Die Liebesgeschichte mit Amy, der Frau seines Onkels, ist vielleicht das größte Manko dieses ansonsten herausragenden Romans. Die klischeehafte Idee von einer einzig wahren (und unglücklichen) Liebe, auf die kein Liebes- und Lebensglück mehr folgen kann, ist allzu zu stereotyp und widerspricht deutlich der Differenziertheit, die den Roman auszeichnet.
Flanagans Roman The Narrow Road to the Deep North schont seine Leserinnen und Leser nicht. Die großen und existenziellen Erfahrungen von Leben und Überleben, Liebe und Schicksal vereint dieses Buch erzählerisch sowie inhaltlich gekonnt miteinander. Ein sehr persönliches und kulturell wichtiges Buch gerade mit Blick auf den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs im kommenden Jahr.
Ein Wort noch zur englischen Hörbuchausgabe: Das circa 15-stündige Hörbuch hat Flanagan selbst eingesprochen. Obwohl er sicherlich nicht zu den besten Vorlesern zählt, verleihen seine Stimme und der tasmanische Akzent dem Text eine große Authentizität, die in der deutschen Übersetzung verloren gehen dürfte. Reinhören lohnt sich.
Richard Flanagan: The Narrow Road to the Deep North
Chatto & Windus 2014
448 Seiten. 14,95 Euro
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Richard Flanagan: The Narrow Road to the Deep North
ABC Audio 2014
15:04 Stunden. 29,10 Euro
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