Zugegeben, derartige Kunst gefällt nicht jedem, manch einer wird das zu künstlerisch, zu gewollt, zu überkandidelt empfinden. Jenen sei empfohlen: bitte fällen Sie Ihr Urteil nicht zu eilfertig, geben Sie diesem Autoren eine weitere Chance. Das im besten Sinne normalste Comic aus seiner Feder ist die verrückte Geschichte Gott höchstselbst, eine ironische Parabel auf den Irrsinn der Moderne. Die Geschichte ist so einfach wie genial. Gott betritt als irdische Reinkarnation die Erde. Er löst einen medialen Massenhype aus, weshalb sich bald Historiker, Soziologen, Psychologen, Philosophen, Marketingexperten und Juristen mit dem Fall befassen. Die einen erklären den Wahn, der mit Gottes Erscheinung einhergeht, die anderen loten die Chancen aus, die ein solcher Medienstar eröffnet und die Juristen müssen am Ende die Frage klären, ob es einen menschlichen Gott geben kann und dieser für die Übel der Welt verantwortlich ist. Wer statt zu stöhnen mal wieder über die Gegenwart lachen möchte, der kann dies mit dieser grotesken Geschichte wunderbar tun.
Anlass zu Staunen bietet vor allem seine preisgekrönte Serie über den Ministerialbeamten Julius Corentin Acquefacques, ein kongeniales Werk der Neunten Kunst, dass sich einige erzählerische Motive bei Windsor McCays Lebenswerk Little Nemo in Slumberland geliehen und diese mit einem kafkaesken Humor in eine zeitlose Gegenwart gehoben hat. Acquefacques – ein akustisches Rückwärtspalindrom auf den Prager Ideengeber dieser surreal-überrealen Welten – lebt in einer winzigen Wohnung in einer überfüllten Metropole. Als Beamter im Ministerium für Humor ist er für gute Witze zuständig; eine Absurdität, denn in dieser Welt ist – zumindest für den Leser – entweder absolut nichts oder ausnahmslos alles zum Lachen.
Zum Meisterwerk macht diese Serie ihr unablässiges Spiel mit dem Medium. Im 1990 erschienen ersten Band Der Ursprung tauchen in der Geschichte einzelne Seiten auf, die dem Leser entweder bereits begegnet sind oder die ihm noch begegnen werden. Damit nicht genug, wundern sich die Figuren selbst darüber, was heißt, dass sie sich ihrer Abbildung nicht nur bewusst sein, sondern diese auch genau kennen müssen. Und so sucht der Titelheld nach dem Ursprung der Geschichte, die der Leser in den Händen hält, um schließlich das Ende nicht zu finden. Bloß gut, denn inzwischen liegen sechs Teile dieser famosen Serie vor, in der der Titelheld mal von einem Zeitstrudel aus der Erzählung getragen wird und über die Panelränder spaziert, dann wieder der Handlung atemlos hinterherlaufen muss oder aber nicht weiß, ob die Geschichte am »Anfang vom Ende« oder am »Ende vom Anfang« beginnt.
Gemeinsam mit Acquefacques sind wir Gefangene seiner surrealen Träume und fallen durch schwarze Löcher im Panelgitter, geraten auf die schiefe Bahn des sich entfaltenden Wirbels oder verirren uns irgendwo zwischen den Zerrspiegeln, die das Innere nach außen und das Äußere nach innen kehren. Der jüngste Band Die Verschiebung, der in diesen Tagen erscheint, überrascht mit einer neuen Spielart dieser künstlerischen Form des Comiccomics und weist einige Parallelen zu Richtung auf.
Marc-Antoine Mathieus schwarz-weiße Bilderwelten täuschen wie die Kunst von René Magritte und öffnen gleichermaßen Augen und Sinne wie Franz Kafkas Literatur. Seine Werke sind keine Comics, sondern große Kunst.
Marc-Antoine Mathieu ist derzeit auf Deutschland-Tournee und spricht am Mittwoch in Berlin über seine Werke.
Marc-Antoine Mathieu: Richtung
Reprodukt Verlag 2015
256 Seiten. 29,00 Euro
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Marc-Antoine Mathieu: Die Verschiebung
Aus dem Französischen von Martin Budde
Reprodukt Verlag 2015
56 Seiten. 18,00 Euro
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[…] zur Geltung. Auf dem Titel sieht man Zeichnungen des Franzosen Marc-Antoine Mathieu, der hierzulande erst jetzt entdeckt wird. So wie er ihn vor allen anderen entdeckt hat, feiert Kalka darin die Neunte Kunst weit vor ihrem […]