Zwischen Larmoyanz und Melancholie liegt nur ein schmaler Grat. In seinem Roman »Verlangen und Melancholie« wandelt Schriftsteller Bodo Kirchhoff bisweilen daran entlang – und weiß dabei zum Glück, was er tut.
Alles beginnt mit einem Trauerbrief, den Hinrich, der Protagonist und Erzähler, unerwartet in seinem Briefkasten findet. Wie eine dunkle Vorahnung schwebt dieser schwarz umrandete Umschlag ungeöffnet über der Handlung und begleitet Hinrichs Erinnerungen an das Leben mit seiner Ehefrau Irene, die sich neun Jahre zuvor das Leben genommen hat. Ihr überraschender Selbstmord ist das zentrale Thema des Romans und gibt Hinrich immer wieder Anlass, über ihre potenziellen Gründe zu ruminieren und sich vagen Vermutungen hinzugeben. Seit seiner Pensionierung als Journalist bei einer großen Frankfurter Tageszeitung – dort war er für den regionalen Kulturteil zuständig – kreist Hinrichs Leben ausschließlich um sich und seine Erinnerungen an Irene, die Liebe und den Tod.
Kirchhoffs vielschichtiger und bisweilen etwas verworrener Roman umfasst lediglich wenige Wochen in Hinrichs gegenwärtigem Leben und nimmt gleichzeitig seine gesamte Vergangenheit in den Blick. Die Handlung ist ein dichtes Netz, in dem Erinnerung, Trauer, Vergangenheit und Gegenwart ineinander übergehen und in dem sich Hinrichs Erzählung literarisch mühelos zwischen den verschiedenen Ebenen hin und her bewegt.
Mitten in dessen Grübeln über Irenes Tod und seine Erinnerungen überredet Malte, Hinrichs Enkel, den Großvater dazu, ein noch von Irene stammendes Schwarzgeldkonto in der Schweiz aufzulösen. Zurück in Frankfurt, stellt sich für Hinrich die Frage, was er mit dem Geld anfangen soll. Im zweiten, dem erzählerisch und literarisch stärkeren Teil des Romans, reist er nach Warschau, um der Polin Zusan – einer Woolworth-Kassiererin, die ihm nach Irenes Tod in Frankfurt Trost gespendet hatte – einen Großteil von diesem Geld zu schenken.
In Warschau trifft Hinrich auch seinen ehemaligen Kollegen Jerzy Tannenbaum, eine Begegnung, die ein neues Licht auf Irene und deren Selbstmord wirft. Auf Jerzys Wunsch hin verlässt Hinrich Warschau und reist nach Pompeji, wo sich für ihn der Kreis aus Vergangenheit und Gegenwart schließt. Dass ausgerechnet Pompeji und dessen erotische Kunst zum Zukunftsmotiv für Hinrich avancieren, ist schon ein besonders gelungener Kunstgriff des Romans: Nicht nur war Pompeji Hinrichs und Irenes letztes gemeinsames Reiseziel, auch die Statuen und Bilder der Liebenden während des Vulkanausbruchs werden zum ultimativen Sinnbild für Liebe, körperliches Begehren und Melancholie.
Was sich hier fast lapidar auf wenige Zeilen herunterbrechen lässt, ist in Kirchhoffs Roman wesentlich komplexer. Allein die Figur Hinrich erscheint ausgesprochen ausdifferenziert – wenn auch vor allem im ersten Teil des Buches immer wieder hart an der Grenze zur Larmoyanz. Seine intensiven Gespräche mit Malte über die Literatur der deutschen Romantik zeigen, wie tief romantische Ideen der Melancholie in Hinrich verwurzelt sind – vor allem die Ideen von Erinnerung, Tod und Weltschmerz, also die Trauer über die Unzulänglichkeit des eigenen Selbst und der Welt. Gleichzeitig wird immer wieder deutlich, wie selbstbewusst (und mitunter selbstgerecht) sich der Bildungsbürger Hinrich gegenüber gesellschaftlicher Moralvorstellungen positioniert.
Beides – die Melancholie und Hinrichs zuweilen ausgesprochen liberale Haltung – sind wichtige Momente für das Verständnis seines Handelns. Denn es mutet schon etwas seltsam an, wie gelassen Hinrich auf Maltes Drängen hin das Schweizer Konto auflöst, um die eigentlich brisante Schwarzgeld-Affäre dann durch eine anonyme Spende an afrikanische Flüchtlinge und als Geschenk an Zusan ohne viel moralisches Aufheben zu rechtfertigen. Moralisch ganz einwandfrei ist das Verhältnis zu Zusan nämlich nicht: die alleinerziehende Mutter hatte in Frankfurt als Kassiererin gearbeitet, um ihre Familie in Polen zu unterstützen. Hinrich nutzte ihre finanzielle Not, um nach Irenes Tod seine eigene Bedürftigkeit nach Trost, Zuneigung und Sex – gegen ein geringes Entgelt – zu stillen. Thematisiert wird diese Art von Prostitution freilich nicht, und es ist eine Stärke dieses Romans, beim Leser große Empathie für Hinrich und dessen menschliche Unzulänglichkeiten sowie seine tiefe Melancholie zu evozieren – und über 450 Seiten zu erhalten.