Die beiden wichtigsten Personen in Hinrichs intrikatem Netz aus Erinnerung, Liebe und Melancholie sind Irene sowie Jerzy Tannenbaum. Stets präsenter Erinnerungsfluchtpunkt ist Irene, die »Sammlerin alles Schweren«. Immer wieder erinnert sich Hinrich an Irene nicht nur als Ehefrau und Geliebte, sondern vor allem als jemand, der permanent scheiterte – zum Beispiel als Übersetzerin von italienischen literarischen Texten, denen sie unentwegt eine neue Bedeutungsebene hinzuzufügen versuchte. Letztlich verzweifelte sie an ihrem Scheitern, dem Alter und der Vergänglichkeit und stürzte sich – ausgerechnet! – vom Frankfurter Goetheturm. Goethe, der große Italien-Reisende des frühen 19. Jahrhunderts und literarischer Opponent Heinrich von Kleists (dem »Rasenden der Liebe«), den Irene und Hinrich eigentlich bevorzugt hatten und dem Hinrich mit seinem Vornamen – explizit ohne den entscheidenden Vokal – ungewollt Tribut zollt, wofür ihn Irene als »amputierten Heinrich« verspottet.
Während Hinrich Irenes Scheitern klar fassen kann, bleibt Jerzy Tannenbaum für ihn eine undurchschaubare Leerstelle, wenn auch eine zentrale, wie im zweiten Teil des Romans deutlich wird. Während Hinrich über die Gründe für Irenes Selbstmord nur spekulieren kann, entpuppt sich Jerzy während Hinrichs Warschau-Aufenthalt als Geheimnisträger. Doch so sehr Hinrich auch herauszubekommen versucht, was Jerzy über Irene weiß und welche Beziehung die beiden miteinander verband, so sehr vermeidet er es, Jerzy direkt nach diesem Verhältnis zu fragen. Schließlich drängt er ihn dazu, den immer noch ungeöffneten Trauerbrief zu lesen und macht ihn so zu seinem Mitwisser. Der geheimnisvolle Pole ist nicht nur als Wissensträger ungreifbar: Als Nachkriegskind deutsch-polnischer Eltern mit jüdischer Abstammung bewegt sich Jerzy zwischen allen Welten, ohne eine eigene nationale oder kulturelle Identität finden zu können. Seine Melancholie liegt in der tragischen Suche nach Identität und Liebe – woran er letztlich zu Tode verzweifelt.
Hinrich selbst ist schon beinahe ein Zerrbild eines Melancholikers. Voll süßlichem Wehmut leidet er nicht nur an seiner eigenen Unzulänglichkeit, sondern vor allem an der Liebe und an der Trauer um Irene. Doch betrauert Hinrich auch sich selbst und suhlt sich zuweilen mit großem Genuss in seinem Schmerz. Gebrochen wird dieses Bild des bürgerlichen Melancholikers durch die ironische Verwendung melancholischer Symbole. So ist Hinrich zwar höchst gebildet, aber nicht genial. Auch der Hund, der dem Melancholiker traditionell zur Seite gestellt wird oder – wie in Albrecht Dürers Melencolia I – schlafend zu Füßen liegt, ist in Kirchhoffs Roman zu Anfang lediglich der Nachbarshund. Gegen Ende des Romans läuft dem Melancholiker Hinrich dann in den Ruinen Pompejis ein Straßenköter zu. Wunderbar auch die »falschen Zypressen«, deren der gebildete Hinrich während Irenes Begräbnis auf dem Friedhof ansichtig wird. Diese Momente, in denen die klassischen Topoi der Melancholie unterlaufen werden, verleihen dem Roman nicht nur eine feine ironische Note, sondern sie sind auch nötig, um Hinrich nicht allzu selbstmitleidig erscheinen zu lassen.
Verlangen und Melancholie ist ein vielschichtiges, wortmächtiges und kluges Buch, das den schmalen Grat des Melancholischen gekonnt entlang wandelt. Der Roman verortet sich dabei immer wieder in den Diskurs der Melancholie. Nicht zufällig erinnert bereits der Titel an verschiedene Klassiker der einschlägigen Literatur wie Sigmund Freuds Trauer und Melancholie, der dem Roman neben Søren Kierkegaards berühmtem Text Krankheit zum Tode auch inhaltlich als Referenz dient.
Es ist aber nicht allein die hohe Kunst der Melancholie, auf die sich Kirchhoff in seinem Schreiben versteht. Nach Die Liebe in groben Zügen ist Verlangen und Melancholie ein weiterer Roman, in dem er die großen Themen wie die Liebe, zwischenmenschliche Beziehungen, Tod, körperliches Begehren und das Scheitern an all den Raum stellt. Bisweilen neigt Hinrich zu Selbstmitleid und Weinerlichkeit, aber der Roman, der voll kluger Einsichten und wundervoll geschmiedeter Sätze über die Liebe und das Leben, ist, gleicht diese Schwermut mit hoher Kunst aus.
Bodo Kirchhoff: Verlangen und Melancholie
Frankfurter Verlagsanstalt 2014
444 Seiten. 24,90 Euro
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