Wie ein Koloss lag und liegt Deutschland in der Mitte Europas. Wie ein ausgebreitetes Ungetüm löst es Beklemmungen, Begierden, Träume und Traumata aus. Was diese über Jahrhunderte mit den Deutschen und seinen Nachbarn machten, beschreibt Brendan Simms in seinem Buch »Kampf um Vorherrschaft«. Der aktuellen politischen Bedeutung spürt Herfried Münkler in seinem Essay »Macht in der Mitte« nach. Zwei Bücher aus verschiedenen Perspektiven, die sich intellektuell und politisch wunderbar ergänzen.
»Von der Maas bis an die Memel – Von der Etsch bis an den Belt«, so dichtete August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Sommer 1841 auf der damalig britischen Insel Helgoland. Fallersleben beschrieb damit den geografischen Raum, den Deutschland zu jener Zeit einnahm.
Vielleicht muss man wie Brendan Simms von der Peripherie des europäischen Kontinents stammen, um das große Ganze in den Blick zu bekommen. Simms stammt aus Irland und ist derzeit Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen am Centre of International Studies der University of Cambridge. Seine Schwerpunktthemen sind die Geschichte Europas, insbesondere der Deutschlands im europäischen Kontext, sowie die der europäischen Außenpolitik. Der Untertitel seines fulminanten Buches »Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute« verweist darauf, dass Simms sich nicht mit politischen Moden beschäftigt, sondern mit der longue durée von Strukturen, wie sie eben durch geografische Räume gegeben sind. Die Kategorie Raum wird der Kategorie Zeit wieder ebenbürtig. Endlich, denn zu lange und zu apodiktisch verharrten Politik- wie Geschichtswissenschaft in atemlosen, zeitlichen Takten. Selbst in diesen Wissenschaften gewann das Event über die Struktur, die Hektik über die Dauer, der Bluff über die Reflektion. Etliche britische Historikerinnen und Historiker wie Christopher Bayly, Jane Burbank, Frederick Cooper oder John Darwin drehen diesen Trend. Wie gut! Auch wenn Brendan Simms natürlich kein Brite ist, sondern Ire, und diese Unterscheidung wird an anderer Stelle sehr wichtig.
Simms beginnt seine deutsche Geschichte Europas mit dem Jahr 1453, dem Jahr, als mit dem Fall von Konstantinopel das Byzantinische Reich von den Türken erobert wurde und kurz danach die Franzosen im Hundertjährigen Krieg gegen die Engländer gewannen. Mit diesen beiden Ereignissen beginnt die moderne europäische Geopolitik. Dreh- und Angelpunkt der modernen europäischen Geopolitik ist stets der Raum, der lange Zeit Deutsches Reich hieß und den wir heute Deutschland nennen. Er ist kein Raum mit festen Grenzen, sondern er variiert politisch etwa bei der Frage, inwieweit die Habsburger Lande zu Deutschland gehören, und historisch. Grenzverschiebungen im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden sind Konstanten deutscher Geschichte. Auch die scheinbar statische Grenzziehung von Hoffmann von Fallersleben ist punktuell, ist zeitlich verortbar. Stets ging es um die Frage, wie stark die Macht in der Mitte Europas ist. Die große Katastrophe, das deutsche Trauma entwickelt sich aus den Ereignissen, die mit dem Jahr 1453 verbunden sind. Sie verstärken die politische Schwäche des Deutschen Reiches und führen zum Dreißigjährigen Krieg. Die Erfahrungen dieses Krieges traumatisierte die Deutschen nachhaltig. Spanische, dänische, schwedische und französische Heere zogen nach Belieben durch die Lande des Deutschen Reiches. Die Bevölkerung schrumpfte von 21 auf etwas mehr als 13 Millionen Menschen. Kein weiterer Krieg in Deutschland hat je wieder einen so großen Verlust verursacht. »Die Lage mitten in der Mitte Europas hatte sich für Deutschland beinahe als Todesurteil herausgestellt.« Deutschland als Transitstrecke fremder Mächte: Die Kriege Napoleons sollten diese Erfahrungen wiederholen.
Nun sind diese Fakten und Bewertungen nicht neu, interessant ist jedoch, wie Simms diesen Fakten eine neue, stets außenpolitische Wendung gibt. Dies zeigt sich etwa darin, wie er den Westfälischen Frieden interpretiert. Im Gegensatz zu üblichen Interpretationen sieht er den Friedensschluss von Münster, Osnabrück und Nürnberg nicht als Durchsetzung des Prinzips der Souveränität und der Gleichberechtigung der Staaten, sondern als »Interventionscharta«. Der Westfälische Frieden sei ein »Hebel für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Reiches und seiner Territorien« gewesen. Ziel war es, einen weiteren Bürgerkrieg zu verhindern, der sich erneut zu einem europäischen Flächenbrand hätte entwickeln können.
Deutschland, um das sich maßgeblich die Außenpolitik aller Nachbarn dreht, weil es als wirtschaftliche, militärische, demografische und ideologische Ressource verstanden wird, wird genötigt, sich selbst über sein Verhältnis zu seinen Nachbarn zu definieren. Nicht innenpolitische Ereignisse bestimmen die Außenpolitik, nein, die Außenpolitik wirkt sich auf die inneren Verhältnisse – auf konkrete Politiken, auf Reformbemühungen, auf Mentalitäten – aus. So konsequent hat dies wohl noch niemand wie Brendan Simms zu Ende gedacht.
Der Dreißigjährige Krieg wie der Fortgang des Französisch-Spanischen Krieges lehrte etwa Friedrich Wilhelm, dass nur eine Reform der inneren Struktur eine Verteidigung seines Landes ermöglichte. Brandenburg-Preußen war eingezwängt zwischen Polen, Schweden und Habsburg und einige Körperschaften des Staates unterhielten eigenständige diplomatische Vertretungen in den Hauptstädten der Nachbarländer. Um die Sicherheit des Landes zu garantieren, beschränkte der Große Kurfürst die Rechte und Privilegien der Stände. Der preußische Absolutismus, der stets work in progress blieb, entwickelte sich aus der Notwendigkeit, für die Sicherheit des Staates zu sorgen. Im Notfall mussten eben finanzielle und militärische Ressourcen rasch organisiert werden und ihre Bereitstellung sollte nicht zwischen den Ständen zerredet werden. Auch Schweden ging diesen Weg: Es stellt die monarchische Macht wieder her und verringerte den Einfluss des Rijkstag.
In dieser Perspektive analysiert Simms die Jahrhunderte, bis er schließlich eben auch in das 20. und in die Anfänge des 21. Jahrhunderts gelangt. Dabei steht das 20. Jahrhundert unter den Überschriften »Utopien, 1917-1944«, »Teilungen, 1945-1973« und »Demokratien, 1974-2011«. Allein die Chronologie dieser Zeitspannen deutet an, dass Simms out of the box denkt. So beginnen die Ereignisse, die den Fall des Eisernen Vorhangs auslösen, eben bereits Mitte der 70er Jahre, auch ausgelöst durch die Entspannungspolitik der Deutschen, aber vielmehr durch die politischen Ereignisse in Portugal, auf Zypern, in Griechenland und in Spanien. Die Südflanke der NATO war Ende 1975 in Aufruhr und löste eine strategische Instabilität des Westens hervor. Und dies in einem Moment, als auch die USA nach dem Sturz Nixons und der Niederlage im Vietnamkrieg keineswegs gut aufgestellt waren. In dieser Zeit hatte die Sowjetunion allen Grund, zufrieden zu sein und optimistisch in die Zukunft zu schauen.
Drei Elemente veränderten über kurz oder lang das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West. Zum einen nennt Simms den Jackson-Vanik-Zusatz, den Senator Henry »Scoop« Jackson 1974 bei einem Handelsgesetzentwurf durchsetzte. Dieser beinhaltete ein demokratie-optimistisches Moment, das den »Einsatz der Vereinigten Staaten für die grundlegenden Menschenrechte« bekräftigte. Die realpolitische Sicht der Dinge auf die Welt (oder anders gesagt: die Sicht Henry Kissingers auf die Außenpolitik) wurde vehement zurückgestoßen, die USA brach mit dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Das zweite Element war die KSZE-Schlussakte von 1975, die neben dem konservierenden Aspekt, die Unverletzlichkeit der Grenzen zu achten, eben auch eine subkutan-subversive Klausel beinhaltete, die das Recht auf Ausreise garantierte. Das dritte Element war die Demokratisierungswelle, die durch Südeuropa rollte und die die westlichen Bündnisse von NATO und Europäischer Gemeinschaft wider Erwarten stärkte und nicht schwächte. Mit anderen Worten: Demokratische Werte und Prinzipien sowie die Empirie, dass sie erfolgreich wirken wie in Südeuropa, ließen die Mauern und Vorhänge, die quer durch Europa standen und hingen, brüchig und durchlässig werden.
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[…] der Einhegung des Zufalls durch Gesetze. Darauf hat Brendan Simms in seiner großen Studie Kampf um Vorherrschaft (hier unsere Besprechung) über die deutsche Geschichte seit 1453 bis heute verwiesen. Middelaar verweist aber zurecht […]