Allgemein, Erzählungen, Klassiker, Literatur, Lyrik, Roman

Literatur im Großformat

Luchterhand Verlag. 700 Seiten. 22,99 Euro.
Luchterhand Verlag. 700 Seiten. 22,99 Euro.

Norwegens »bedeutendster Gegenwartsautor« Karl Ove Knausgård – den die New York Times jüngst auf Reisen schickte, um das Amerika der Gegenwart einzufangen – ist »Literaturhype« und zeigt uns als »der Entschleuniger«, »wie wir lieben, kämpfen, sterben«. Dies sind nur einige der begeisterten Stimmen der deutschsprachigen Literaturkritik, zusammengewürfelt zu einem Superlativ, der am Ende doch nicht ausreicht, um die international gefeierte revolutionäre Form der autobiografischen Literatur zu beschreiben, die sein sechsbändiges Romanprojekt Mein Kampf darstellt. Nach der Aufarbeitung des schwierigen Vaterverhältnisses in Sterben, der Suche nach der idealen Balance zwischen Nähe und Distanz, Selbstbestimmung und Selbstaufgabe in Lieben, dem Rückblick auf die eigene Kindheit im Norwegen der siebziger Jahre in Spielen und der Eroberung der Welt durch den jungen Erwachsenen in Leben folgt nun Träumen (Aus dem Norwegischen von Paul Berf), Knausgårds Erinnerungen an seine Jahre in Bergen. Übrig geblieben von diesen Jahren sind zwölf Fotos, die Erinnerung an ein verbranntes Tagesbuch und ein lebendiges Gefühl. »Ich wusste so wenig, wollte so viel, brachte nichts zustande. Aber in welch einer Stimmung ich damals war, als ich dort ankam!« In diesen 14 Jahren zerbrechen viele Träume, seine erste Ehe scheitert und sein Traum, Schriftsteller zu werden, rückt immer wieder in weite Ferne. Es sind Jahre, »in denen sich Momente kurzer Glückgefühle mit jenen tiefster Selbstverachtung die Hand gaben, in denen sich Demütigungen und Höhenräusche ebenso schnell abwechselten wie selbstzerstörerische Alkoholexzesse und erste künstlerische Erfolge«. Diese Jahre rekonstruiert der Norweger im fünften und vorletzten Teil seines Romanprojekts.

Dumont Buchverlage. 672 Seiten. 24,99 Euro.

Josh Weil ist einer der jungen Wilden des US-amerikanischen Literaturbetriebes. 2009 wurde der damals 33-Jährige von der Jury des National Book Award zu den 5 Under 35 gezählt, im Jahr darauf erhielt er für seine Novellensammlung Herdentiere und Das neue Tal den Sue-Kaufman-Debütpreis. In seinem Roman Das gläserne Meer (Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner) entwirft er nun eine mit russischer Mythologie aufgefüllte Zukunftsvision über die moderne Agrargesellschaft. Im Mittelpunkt stehen die Zwillinge Jarik und Dima, die nach dem Tod des Vaters auf dem Bauernhof ihres Onkels inmitten der Kornkammer Osteuropas aufwachsen. Während sie sich als Kinder noch in den Bann der mythischen Geschichten aus dem russischen Sagenschatz ziehen lassen, ergreift sie als erwachsene Männer eine bittere Realität. Sie werden Arbeiter in der Oranzeria, einem gigantischen Gewächshaus, das sich bis in die Unendlichkeit ausdehnt, wie man es vom spanischen Alméria kennt. Es wird »das gläserne Meer« genannt und von im Weltall schwebenden Spiegeln beleuchtet, die das Sonnenlicht rund um die Uhr auf das Treibhaus werfen. Unter den Bedingungen dieses ewigen Tages soll die Produktivität der Region verdoppelt werden. Der verantwortungsbewusste Familienvater Jarik und der träumende Dima werden von den Verhältnissen der Oranzeria in entgegengesetzte Richtungen mitgerissen und stehen sich schließlich als erbitterte Kontrahenten gegenüber. Das gläserne Meer sei keine Alternativgeschichte, sondern eine Fantasie, inspiriert von Versatzstücken der russischen Sprache, Geschichte und Kultur, schrieb die New York Times nach der Lektüre des Romans, der hierzulande sicher stärker als gesellschaftspolitische Dystopie gelesen werden wird.

Piper Verlag. 640 Seiten. 24,- Euro.
Piper Verlag. 640 Seiten. 24,- Euro.

François Roux macht eigentlich Filme, und das recht erfolgreich, mit dem in Frankreich begeistert aufgenommenen Roman Die Summe unseres Glücks (Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke) legt er sein literarisches Debüt vor. Darin fragt er nach dem Preis, den jeder für sein Leben zu zahlen hat. Im Mai 1981 liegen sich auf der Place de la Bastille in Paris Tausende in den Armen, nachdem François Mitterrand die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat. Der siebzehnjährige Rodolphe ist im Zentrum des Freudentaumels, er hofft auf eine bessere Politik und möchte selbst als Akteur seine Ideale verwirklichen. Auch seine drei Freunde Paul, Benoît und Tanguy haben große Pläne. Als sie sich 2012 erneut treffen, hat Rodolphe es ins Parlament geschafft, eine kluge Frau, einen einflussreichen Schwiegervater. Doch wie seine drei Freunde hat er Opfer gebracht, um sein Ziel zu erreichen – war der Preis zu hoch? Was ist übrig von den Träumen ihrer Jugend, nachdem die Vorstädte explodiert, das soziale Projekt Mitterands gescheitert, die französische Gesellschaft in Arm und Reich auseinandergebrochen und der Kern des Geistes der Grande Nation verloren gegangen ist? Vor dem Hintergrund der französischen Gesellschaftsgeschichte erzählt Roux von der Suche nach dem Glück eines jeden einzelnen von uns, fragt nach Idealen und dem Preis, für den wir sie zu opfern bereit sind. Fraglich bleibt bei Roux’ Roman, ob er in seiner spezifisch französischen Ausrichtung auch eine größere deutsche Leserschaft finden wird. Karine Tuil ist das mit ihrem unfranzösischen Generationsroman Die Gierigen besser gelungen als Pierre Lemaitre mit seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Weltkriegsepos Wir sehen uns dort oben, das ebenfalls stark die französische Perspektive spiegelt.

Ullstein Buchverlage. 672 Seiten. 24,- Euro.
Ullstein Buchverlage. 672 Seiten. 24,- Euro.

Indonesien ist das Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse 2015, mit Laksmi Pamuntjaks historischem Roman Alle Farben Rot (Aus dem Indonesischen von Martina Heinschke) hat der Berliner Ullstein-Verlag den großen indonesischen Gegenwartsroman im Programm. Er setzt ein im Jahr 1965, als sich in Indonesien, abseits der Weltöffentlichkeit, General Suharto blutig an die Macht putschte. Seither war das Land geteilt in Freund und Feind der neuen Herrschenden, verfolgt wurden alle, die als Kommunisten verdächtigt wurden. Tausende Menschen kamen unter dem Suharto-Regime ums Leben, zehntausende sind spurlos verschwunden. Jahre nach Suhartos Sturz im Jahre 1998 sucht eine Frau auf der Gefangeneninsel Buru nach den Spuren des Mannes, den sie in jenen Tagen geliebt und dann verloren hat. »In den Wirren einer Straßenschlacht wurden Amba und Bhisma damals auseinandergerissen, und Amba wusste all die Jahre nichts über das Schicksal ihrer großen Liebe. Bis sie eines Tages eine anonyme Mail erhält…« In Alle Farben Rot webt die indonesische Autorin und Journalistin Laksmi Pamuntjak entlang der Linien des indonesischen Nationalepos’ Mahabharata das Panorama der jungen indonesischen Nation, die immer noch zwischen Kolonialzeit und Unabhängigkeit, Diktatur und Demokratie gefangen ist. Ein Roman, an dem man in diesem Herbst nicht vorbeikommt, von einer Autorin, die neben Andrea Hirata, Okky Madasari und Leila Chudori zur jungen und noch zu entdeckenden Genration der indonesischen Literatur gehört.

S. Fischer. 658 Seiten. 24,99 Euro.
S. Fischer. 658 Seiten. 24,99 Euro.

Wer könnte uns Ägypten besser erklären, wenn nicht seine eigenen Intellektuellen. Alaa al-Aswani gehört zu ihnen, er ist einer der wichtigsten Autoren Ägyptens. Sein neuer Roman Der Automobilclub von Kairo (Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich) scheut auf den ersten Blick allerdings die Gegenwart. Das ist angesichts seiner nicht vollkommen unstrittigen politischen Haltung vielleicht aber auch nicht das Schlechteste, wenngleich man al-Aswani zugute halten muss, dass es kaum noch unbelastete politische Stimmen in einem Land geben kann, in dem sich inzwischen jede politische Kraft eigener Vergehen schuldig gemacht hat. Sein Roman spielt in den 1940er Jahren, im extravaganten und dekadenten Automobilclub von Kairo. Unter dessen surrenden Ventilatoren finden sich allabendlich Paschas, Monarchen und Diplomaten ein, auch der König zählt zu den Stammgästen. Sie frönen hier dem Glücksspiel und suchen sich die schönsten Frauen für die nächtlichen Liebesdienste aus. Ein Heer von schlecht bezahlten und missbilligend behandelten Dienern, Kellnern und Köchen sieht zu, bis sie eines Tages den Aufstand proben. In seinem neuen Roman erzählt der mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch sowie dem Johann-Philipp-Palm-Preis für Presse und Meinungsfreiheit ausgezeichnete Ägypter von Herrschaft und Diktatur. Er lasse »einen Mikrokosmos lebendig werden, der für die Zerrissenheit eines ganzen Landes, seiner Heimat Ägypten, steht«, sein sprachgewaltiger Roman sei »verblüffend nah an unserer Gegenwart«, schreibt sein Verlag. Vielleicht findet sich im neuen Roman von Alaa al-Aswani also doch etwas Lehrreiches über das Ägypten dieser Tage.

Klett Cotta. 640 Seiten. 26,95 Euro.
Klett Cotta. 640 Seiten. 26,95 Euro.

Mit Die Elenden von Lódz hat der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg einen gleichermaßen erschütternden wie bewegenden sowie mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Roman vorgelegt, der auf der Basis der zuvor erschienenen Chroniken die Geschichte des Gettos von Lódz erzählt. Nun folgt mit Die Erwählten (Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek) die fiktionalisierte Form der nationalsozialistischen Eugenik, die seine Hauptfigur Adrian Ziegler am eigenen Leib erfahren muss. Er kommt aus einem sozial und erbbiologisch »minderwertigen« Elternhaus und wird als Kind nach Steinhof gebracht, einem Lager für organische Forschungen und Menschenexperimente an Kindern. Seine Aufsässigkeit führt dazu, dass er alle Stationen dieser »Hölle des Nazi-Systems« durchlaufen muss. Er kommt als Anschauungsobjekt in den Vorlesungssaal und schließlich als menschliche Experimentiermasse auf die Krankenstation. Dort arbeitet Anna Katschenka, die aus blinder Loyalität und ideologischer Treue die Experimente an den Kindern unterstützt und sich so am Leiden und Tod zahlreicher Heranswachsender mitschuldig macht. Zuletzt hatte Götz Aly die nationalsozialistischen Euthanasiemorde innerhalb Deutschlands in Die Belasteten in bemerkenswerter Manier aufgearbeitet. Sandberg bedient sich dieses Themas und wirft mit seinem neuen Roman einmal mehr die Frage auf, ob man solche Stoffe fiktionalisieren darf. Die deutschsprachige Kritik war bei Die Elenden von Lódz nahezu einhellig der Meinung, wenn es auf diesem Niveau geschehe, dürfe man. Nun lobt kein geringerer als Håkan Nesser Sem-Sandbergs neuen Roman als »literarisches Meisterwerk«, man darf also scheinbar auch hier.

Kiepenheuer & Witsch. 544 Seiten. 39,99 Euro.

Jeffrey Jacob Abrams ist als literarischer Autor ein weißes Blatt, als Regisseur und Produzent hingegen einer der ganz Großen. Bei Serien wie Felicity, Lost, Super 8 und dem siebenten Teil der Star-Wars-Reihe hat er Regie geführt. In den letzten zwei Jahren hat er sich ganz nebenbei noch mit dem Autor Doug Dorst zusammengetan, um einen »hochraffiniert komponierten Roman« zu schreiben, »der zeigt, was ein Buch anrichten kann«, wie es in der Ankündigung des Verlags heißt. Mit einem Buchtrailer, der als solcher nicht erkennbar war, hatte Abrams bereits vor zwei Jahren für wilde Spekulationen um diesen Roman gesorgt. Zu sehen ist dort eine im Wasser knieende Person, die sich im Mondlicht die Fesseln von den Händen wickelt und gen Strand geht, während ein Erzähler aus dem Off spricht: »Denn was auf dem Wasser begonnen hat, soll dort enden. Und was dort endet, soll noch einmal beginnen. … Der Mensch verschwindet, der Mensch wird ausgelöscht, der Mensch wird wiedergeboren.« S. ­– Das Schiff des Theseus (Aus dem amerikanischen Englisch von Tobias Schnettler und Bert Schröder) erzählt von den zwei Studenten Jen und Eric, die von dem Buch eines unter dem Pseudonym V. M. Straka schreibenden Autors fasziniert sind und versuchen, ihm auf die Spur zu kommen. Zwischen den Zeilen seines Romans »Das Schiff des Theseus« und den eigenen Notizen versuchen sie Hinweise auszumachen, die Rückschlüsse auf die wahre Identität des mysteriösen Autors zulassen. Ihre Notizen werden ergänzt durch die des unbekannten Übersetzers, in denen sie einen geheimen Code erkennen. Ein Vexierspiel der Sprache und des Mediums beginnt, ähnlich wie man es von Mark Z. Danielewski, Reif Larsen oder Salvador Plascencia kennt. Dabei geraten Jen und Eric in Lebensgefahr, weil der Autor nicht gefunden werden will. Abrams und Dorst gehen aber noch weiter als die oben Genannten, denn während man den Roman liest, fallen im wahrsten Sinne des Wortes Puzzleteile aus dem Roman (hier im Video zu sehen); Notizzettel, Exposes, Zeitungsartikel, Post- und Landkarten oder ein Kompass, über deren Verwendung der lernende Leser selbst eine Entscheidung treffen muss. Joshua Rothman lobte den Roman im The New Yorker als »Das schönste Buch, das ich je gesehen habe.« Nun kommt es als Schmuckstück im Leinenschuber auf den deutschen Markt.

Hier finden Sie die gewichtigen Titel in den Kategorien Sachbuch und Übersetzung.

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