Die Vereinigten Staaten sind Wolffsohns Vorbild, nicht zufällig ist dem Buch der Satz »We all are Federalists« vorangestellt, der aus der Antrittsrede von Thomas Jefferson als dritter Präsident der USA stammt. Für Jefferson als den Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und als einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der USA versprachen föderative Strukturen ein System von Kontrolle und Gleichgewicht. Vielleicht war in den Staaten kein anderes Modell vorstellbar, da sie von Anfang an kein Nationalstaat, sondern immer ein Nationalitäten-Staat waren. Die Bundesrepublik Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg sehr bewusst weder das französisch-zentralistische noch das britisch-zentralistische Modell verordnet bekommen, sondern eben das amerikanisch-föderative: Das föderalistische Erbe Deutschlands vieler Jahrhunderte mag ein wichtiger Grund gewesen sein, es sollte zudem eine politische Struktur für einen inneren und äußeren Frieden sowie für eine innere und äußere Begrenzung geben.
Wolffsohn breitet sein Konzept von Föderalismus in territorialer wie personaler Dimension sowohl in innerstaatlichen Realitäten wie in zwischenstaatlichen Konstellationen aus und erläutert, was er unter territorialer und personaler Selbstbestimmung versteht. Wieder verweist er auf politische Mythen, die gerne geglaubt wurden, die aber dennoch sehr unrealistisch seien, so etwa die Annahme von homogen-nationalen Bevölkerungsstrukturen. Die Inselstaaten Island und Japan sind Ausnahmen, nicht die Regel. Wer aufmerksam durch die Großstädte Deutschlands läuft, sieht auch in diesem Land, wie multinational, multiethnisch, multikulturell und multikonfessionell es geworden ist.
Intensiv beschäftigt sich Wolffsohn mit der Frage des Zusammenlebens von Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland und Westeuropa. Eine bittere Feststellung: »Zwischen beiden und in jeder gibt es weniger Wir als vielmehr Ihr-Wir.« Wolffsohn hat keine Angst vor Parallelgesellschaften. Für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Minderheiten in offenen, pluralen und vielschichtigen Gesellschaften Selbstbestimmung grundsätzlich gewährt wird. Religiöse Gemeinschaften können ihr Innenleben weitgehend selbst bestimmen, zum Teil sogar im Rechtswesen. Aber: »Voraussetzung ist, dass eine solche personale, gruppen-bezogene Autonomie das Wir einer Gesamtgesellschaft, einer staatlichen Gemeinschaft, stärkt und nicht verhindert.« Freiheit nicht als gesellschaftliche Beliebigkeit, sondern als Voraussetzung für ein positives Selbstbild der Gesellschaft, der man angehört. Freiheit als Voraussetzung für eine inkludierende und inklusive Gesellschaft.
Mit Positionen wie dieser zeigt er sich einmal mehr als unbequem, der gerade benannte Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Navid Kermani ist da grundsätzlicher. Die Selbstbestimmung einer Gemeinschaft sieht er nicht als Belohnung für ihren Integrationsbeitrag, sondern als grundsätzliche Basis einer demokratischen Gesellschaft. Als die Schweizer zur Abstimmung über das so genannte Minarettverbot schritten, sagte Kermani, dass mit diesem Vorgang die »Grundrechte, noch dazu die Grundrechte einer Minderheit, in einer demokratischen Abstimmung zur Disposition gestellt werden und damit keine Grundrechte mehr sind.« Wolffsohn sieht das anders und scheut nicht die Auseinandersetzung.
So quer Wolffsohn in innerstaatlichen Konstellationen denkt, so mutig denkt er auch bei zwischenstaatlichen Beziehungen. So stellt er sich die Frage, wie Kommunikationsgemeinschaften, also Völker, gesellschaftlich, politisch und kulturell miteinander verbunden bleiben können, wenn sie über mehrere Staaten verteilt sind. Das gängigste Beispiel sind die Kurden, die auf den Iran, den Irak, Syrien und die Türkei verteilt sind. Wolffsohn schlägt eine Kombination von bundesstaatlichen Elementen in und einen Staatenbund zwischen diesen Staaten vor. Eine komplizierter Vorschlag, Bundesstaat und Staatenbund miteinander zu verschränken, allerdings, so entgegnet Wolffsohn, sind die aktuellen, de facto bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse noch komplizierter und sie kosten zudem Menschen das Leben. Ähnlich argumentiert er auch beim Verhältnis zwischen Israel, Palästina und Jordanien.
Dem unbequemen Denker Wolffsohn gelingt ein überraschend mutiges und immer wieder auch visionäres Buch. Endlich mal einer, der Alternativen entwirft, der Visionen entwickelt, der sich nicht der normativen Kraft des Faktischen verschreibt. Von »politischem Klein-Klein«, von Alternativlosigkeiten haben wir in den letzten Jahren oft genug zu hören bekommen. Wir bräuchten mehr Querdenker wie Wolffsohn.
Zum Weltfrieden ist zunächst aber nur ein Entwurf, wie es der Untertitel angibt. Es gäbe wohl bei allen Konstellationen, denen Wolffsohn sein föderales Modell von personaler sowie territorialer Selbstbestimmung als Rezept verschreibt, etliche Fragen, die man gerne im Beipackzettel beantwortet finden möchte. Als Leser hätte man zudem zu gerne erfahren, wie er die aktuellen Krisen der Europäischen Union, an ihren östlichen Rändern und im Süden am Mittelmeer begreift, und welche Vorschläge er diesem föderalen Verbund von Staaten machen würde. Dafür braucht es aber wohl ein ganz eigenes Buch.
Michael Wolffsohn: Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf
Deutscher Taschenbuch Verlag 2015
216 Seiten. 14,95 Euro
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[…] progressiv bezeichnen möchte. Seine Worte zur Migration sind klar und unmissverständlich, seine Vorschläge, die er in seinem Buch »Zum Weltfrieden« ausgebreitet hat, weisen weit in die Zukunft. Schade nur, dass er den demographischen Verschiebungen so wenig Raum […]