Granularität ist das Maß für die Feinkörnigkeit eines Systems. Man kennt diesen Begriff vor allem aus der Fotografie. Christoph Kucklick geht es in »Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst« aber nicht um die Körnigkeit eines Bildes, sondern um die Auflösung, um die Zerlegbarkeit des Individuums und der Gesellschaft durch das Digitale. Sein sensationelles Buch ist eine Erzählung des digitalen Sozialen, an der sich die an der Digitalisierung Interessierten abarbeiten müssen. Ein Standardwerk, ein Must-Read für die kommenden Jahre.
Christoph Kucklick, geboren 1963, ist von Hause aus Soziologe und hat 2006 über Das unmoralische Geschlecht – Zur Genese der Negativen Andrologie promoviert. Beruflich ist er Journalist, Absolvent der renommierten Henri-Nannen-Schule. Über Die Zeit, Brand eins und Capital ist er zu Geo gekommen, deren Chefredakteur er seit dem 1. Juli 2014 ist. Kucklicks gute Schreibe macht seine Erklärung der granularen Gesellschaft nicht nur zu einem intellektuellen Vergnügen, sondern auch zu einem Lesespaß.
Um den Begriff »granular« adäquat für das Thema Digitalisierung zu benutzen, wählt Kucklick das Bild von Billardkugeln. Mit diesen stellt er die Moderne und ihre Gesellschaften dar. Jede Kugel repräsentiert dabei eine Schicht, eine Klasse, ein Milieu. Übersichtlich und klar, etwas grobkörnig vielleicht. Heute lässt sich dank der Digitalisierung und der Unmengen an Daten die Gesellschaft viel detaillierter darstellen. Jede Billardkugel zerfällt in klitzekleine Partikel. Unsere neue Gesellschaft ist hoch auflösend, weil wir über dichte, detaillierte Erkenntnisse verfügen. Es sind nicht mehr nur soziale Gruppen zu erkennen, sondern Individuen. Und auch dieser Begriff passt nicht mehr, es geht nicht um Individuen, sondern um Singularien. Menschen, »von denen wir nicht nur behaupten, dass sie einzigartig und unverwechselbar sind, sondern die wir als solche auch vermessen können.«
Wesentlich ist dabei das neue Menschenbild, das die digitale Welt kreiert. Digitalisierung löst die Grenze Mensch-Maschine auf, sie löst aber auch die Grenzen unseres Verständnisses von Mensch und Welt auf. Wir befinden uns in einem Zustand eines Homo Rationalis hin zu einem Homo Granularis. Es geht um eine neue Selbstbeschreibung des Menschen, es geht um neue Weltbilder, die unsere Verankerung in der Welt adäquat beschreiben können. Wir müssen, so Kucklick, diese Wege beschreiten, um eine stabile individuelle und gesellschaftliche Ordnung hervorzubringen. Die Moderne ist endgültig vorbei.
Unter der neuen Auflösung durch die digitale Hochauflösung versteht Kucklick auch die Auflösung von Institutionen. Die Institutionen in unserem gesellschaftspolitischen und sozioökonomischen Umfeld halten den Veränderungen nicht mehr stand. Auch sie befinden sich in einem Zustand der Auflösung. Was an ihrer Stelle stehen wird, ist eine der herausragenden politischen Fragen der Zukunft.
Die Granulare Gesellschaft ist drei parallel verlaufenden, immer wieder ineinander verschränkten Revolutionen ausgesetzt: Der Differenz-, der Intelligenz- sowie der Kontroll-Revolution. Was Kucklick unter Differenz-Revolution genau versteht, erläutert er anhand eines Beispiels aus der Arbeitswelt. Während Boston Consulting, McKinsey und die anderen Beratungsagenturen Durchschnittswerte produzieren und für alle reproduzieren, bieten Ben Waber und Tamie Kim mit »Sociometric Solutions« und »Meeting Mediator« veränderte Methoden an, wie die Arbeitsleistung individueller beurteilt werden können. Sie interessiert nicht nur, was die Mitarbeiter sagen, sondern wie viel sie reden und wie sie sprechen. »Mehr Quatschen ist wichtiger als mehr Arbeit.« In den Blick gerät dabei zum Beispiel die Leistung jener angeblich sonst so unproduktiven Personen, die durch ihre Gespräche und Anregungen Kollegen motivieren. Leistung zeigt sich oft nicht direkt, sondern über Umwege. Hinzu kommt der Faktor Zeit. Die Differenz-Revolution schafft durch Feedback in Echtzeit große Ambivalenzen. Manch einer begreift dies als enormen Druck, permanente Beobachtung als irritierende Zumutung. Es gibt sie leider auch, die Paradoxien der digitalen Differenzierung.
Deutlich wird diese auch in der politischen Dimension der Differenz-Revolution, ablesbar in der Art und Weise, wie Barack Obama seinen Wahlkampf organisieren ließ. Dank der Daten, die ihm und seinem Team zur Verfügung standen, haben sie aus einem Volk von Individuen ein Volk von Singularien gemacht. Für jeden der 166 Millionen Wähler hatten sie etwa zehn- bis zwanzigtausend Datenpunkte. Aus diesen Datensätzen errechneten sie Algorithmen, die ihnen verrieten, ob dieser oder jene Wähler Obama potentiell wählen würde und wie man ihn am besten ansprechen sollte. Digitale Macht, so Kucklick, besteht darin, einzelne Bürger zu singularisieren und sie dann gezielt zu beeinflussen. Obama und sein Team konnten den Anschein erwecken, mit den Wählenden privat zu kommunizieren. Ist es also so: Die Hightech-Wahl führt zurück ins Dorf, die Algorithmen spenden menschliche Wärme.
Im Gegenteil, diese Form eines granularen Wahlkampfs bedroht die demokratische Gleichheit. Die Kehrseite dieser Strategie eines Wahlkampfs lautet, »je höher die Auflösung des Wahlvolks, desto weniger wird das ganze Volk angesprochen.« Intransparenz war Teil der bisherigen Demokratie, je mehr diese schwindet, umso mehr wandelt sich unser Gemeinwesen. Anschaulich wird dies im Sozialbereich. Dort schafft gerade eine gewisse Intransparenz die Voraussetzung für soziale Solidarität. Mit anderen Worten: Unwissenheit vereint. Wenn diese Daten nun da sind und sie auch genutzt werden, lautet die wesentliche politische Frage, die sich aus der Differenz-Revolution ableitet: Wie schaffen wir Gleichheit trotz Granularität?