Und dann ist da noch Jessica, genannt »Decca« (1917-1996), die Protagonistin in Kippenbergers Buch und das titelgebende »rote Schaf« der Familie Mitford. Mit 19 Jahren brennt sie mit ihrem Cousin zweiten Grades und Neffen Winston Churchills, dem berüchtigten Esmond Romilly, durch, um im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco zu kämpfen. Sie geht mit ihm nach Amerika, schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch und wird 1941 zur Kriegswitwe. Jessica bleibt im fernen Amerika, tritt der kommunistischen Partei bei, heiratet – zum Entsetzen einiger ihrer Schwestern – einen jüdischen Rechtsanwalt und engagiert sich für die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Sie wird vom FBI überwacht und während der Hexenjagd auf Kommunisten vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe geladen. Ohne jegliche formale Ausbildung wird sie eine der ersten investigativen Journalistinnen, als Buchautorin legt sie ihre Finger in jede Wunde, die sich ihr in der amerikanischen Gesellschaft und im Staat auftut. Ihr Buch über das US-amerikanische Bestattungs(un)wesen, The American Way of Death (1963), wird ein Bestseller und bringt die gesamte Bestatterbranche gegen sie auf – was die Autorin jedoch kaum beeindruckt. Jessica bleibt zeitlebens ein Mitglied der englischen Oberschicht, eine in Amerika lebende Kommunistin und Bürgerrechtlerin, eine kettenrauchende Hausfrau in der kalifornischen Provinzstadt Oakland und Mutter von drei Red Diaper Babies, wie die Kinder von Mitgliedern der Kommunistischen Partei genannt wurden. Sie ist eine obsessive Brief-, später Faxschreiberin, eine Revolutionärin, aber vor allem ist sie eine Mitford.
Susanne Kippenberger ist ein Glücksfall für die Mitfords – und für die Leser_innen. Als erfahrene Journalistin, Tagesspiegel-Redakteurin und Buchautorin weiß sie, wie man auch bei langen Texten die Leserschaft im Bann halten kann. Sie ist eine vorsichtige und genaue Biografin, die eine professionelle Distanz zu ihrem biografischen Gegenstand hält. Ihre Recherchen sind extensiv und – dank des umfangreichen, aber unaufdringlich am Ende des Buches platzierten Anmerkungsteils – eine wahre Fundgrube für interessierte Lesende. Aufgrund der Fülle an erwähnten Personen und Persönlichkeiten wäre ein Register eine sinnvolle Ergänzung des Anmerkungsteils.
Zu den großen Vorzügen von Das rote Schaf der Familie gehört die breite Kontextualisierung der Mitfordschen Lebensläufe. Kippenberger gelingt es nicht nur, kulturelle und historische Querverbindung über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg sichtbar zu machen, sondern die Biografien der Schwestern kongenial darin einzubetten. Dabei verliert sie die komplexen Familienbande und politischen Verstrickungen nie aus den Augen, und auch nach längeren Exkursen kommt sie immer wieder zu ihrer eigentlichen Protagonistin Jessica zurück. Die zahlreichen Illustrationen ergänzen und bereichern die Lebensgeschichte ganz ohne Frage, allerdings hätten sie durchaus auf höherwertigerem Papier gedruckt werden dürfen.
Trotz aller sprachlicher Versiertheit wird Kippenbergers Ton zuweilen zu flapsig und sie schießt mit ihren Wortkreationen über das Ziel hinaus. Dann wird aus Jessica Mitford eine »Stiff-Upper-Lipperin« oder die »Freifrau Miss Billig-Beerdigung«. Selbst wenn Jessica keineswegs »Eididei-Tutzitutzi-Oma« war, sind solche Wortschöpfungen mehr als überflüssig: sie verzerren Kippenbergers ansonsten kluges, authentisches und liebevolles Porträt von Jessica Mitford und ihren exzentrischen Schwestern und bringen keinerlei Mehrwert.
Die Diskussion um Faschismus und das politische Erbe des Nationalsozialismus – in Deutschland in den derzeitigen Debatten um Asylpolitik und brennende Flüchtlingsunterkünfte präsent – ist auch in England ein politisch brisantes und gesellschaftlich pikantes Thema. Brisant, weil auch rechte Parteien wie die British National Party von dem Boom um ein nostalgisches England (das dem Empire hinterhertrauert) profitieren, und weil auch die englische Asylpolitik mehr als kritisch zu diskutieren ist, wie das Flüchtlingsdrama in Calais Ende Juli eindringlich demonstriert. Dass es auch gesellschaftlich pikant bleibt, wurde deutlich, als im Juli in den Tageszeitungen Bilder erschienen, die Queen Elizabeth II als kleines Mädchen beim Hitlergruß zeigen. Der Hof erwägt nun rechtliche Schritte. Allein diese wenigen Beispiele machen deutlich, warum Kippenbergers Buch Das rote Schaf der Familie nicht nur als Lebensgeschichte absolut lesenswert und lehrreich ist: es verbindet Biografie mit historischen und aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten, und dies auf höchst amüsante Art und Weise.
Unterstützend sei dafür ein Beispiel angeführt. Als die minderjährige Decca mit Esmond Romilly durchbrennt, um in den spanischen Bürgerkrieg zu ziehen, beschreibt Kippenberger in ihrem eignen Ton treffsicher die familiäre Krise so: »Der Vater tobte vor Wut, die Mutter war zu Tode betrübt, Debo fühlte sich betrogen, Unity rannte mit den Neuigkeiten zu Hitler, der angesichts des Familiendramas auch ganz traurig war, aber – ‚er ist ein Engel’ – Trost spendete. Tom, diplomatisch wie immer, trat als Vermittler auf, Diana tröstete die Mutter, Nanny Blor weinte sich die Augen aus und sorgte sich, weil Deccas Kleidung doch nicht zum Kämpfen taugte; Mutters Schwester Aunt Weenie, der Oberdrache unter den Tanten, meinte, Decca wäre besser tot; Onkel Jack wollte sie auspeitschen.«
Was für eine Familie! Kein bisschen wie die Manns – und doch wie diese unvergleichlich.
Susanne Kippenberger: Das rote Schaf der Familie. Jessica Mitford und ihre Schwestern.
Hanser Berlin 2014
624 Seiten. 26,- Euro
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