Der Roman setzt in der nordfranzösischen Küstenstadt Saint Malo ein (das Titelbild zeigt nicht Saint Malo, sondern Saint-Servan, Umschlagplatz und Fischhafen der Kommunen Saint-Malo, Paramé, Saint-Servan im Jahr 1944), als sich dort der Krieg im August 1944 zuspitzt. Die Stadt wird von den deutschen Bombern stark zerstört werden. Während Marie-Laure den Bombenhagel allein im Haus ihres inzwischen verschwundenen Onkels erlebt, irren Werner und Feldwebel von Rumpel auf der Suche nach dem Diamanten durch die zerbombten Straßen. Was folgt sind die erwähnten Vor- und Zurückblenden inklusive Ortswechsel, bei denen die lineare Erzählung vollständig in ihre Bestandteile aufgelöst und das Chaos des Krieges auf die Erzählstruktur übertragen wird.
Dabei schafft Doerr Platz, um in Miniaturen seine Figuren und ihr Innenleben zu beschreiben und beispielsweise erklärt, was die Erblindung für das junge Mädchen ganz unabhängig vom heranrückenden Krieg bedeutet. »Was ist Blindheit? Wo eine Mauer sein sollte, greifen ihre Hände ins Leere. Wo nichts sein sollte, läuft sie gegen einen Tisch. Autos brummen durch die Straßen, Blättern flüstern am Himmel, Blut rauscht durchs Innenohr.« Die Beschränkung der Erzählperspektive der Marie-Laure-Kapitel auf die sinnliche Wahrnehmung, die Übernahme dieser Beschränkung durch den allwissenden Erzähler, gibt diesem Roman eine besondere erzählerische Kraft.
Diese sinnlichen Ausführungen überträgt Doerr auch auf die Handlung rund um Werner, der mit seiner Schwester als Waisenkind in einem Kinderheim des Zeche Zollvereins aufwächst und dort Zeuge der keimenden »Blut und Boden«-Ideologie der Nationalsozialisten wird. Auch hier arbeitet er ausführlich mit zahlreichen akustischen, sensorischen und olfaktorische Signalen, die in konventionellen Romanen oft ausbleiben. Die Bilder, die dabei entstehen, sind jedoch nicht immer überzeugend. »Aus den Lautsprechern überall auf dem Gelände der Zeche Zollverein wächst die Stakkatostimme des Reichs wie ein unerschütterlicher Baum, und die Untertanen beugen sich zu seinen Ästen hin, als wären es die Lippen Gottes.« Wer beugt sich schon zu Ästen, um Lippen zu küssen?
Faszinierend ist aber, mit welcher Leichtigkeit Doerr diese Erzählung auch in der Dunkelheit des Krieges zum Leuchten bringt. Dies gelingt ihm auch deshalb, weil er im Gegensatz zu vielen anderen Romanen, die im Krieg verortet sind, das normale Leben inmitten des tobenden Krieges nicht vergisst. Denn es sind die stillen, unspektakulären Momente, in denen die anfangs gestellte Frage nach der Bedeutung des Lebens aufkommt. Inmitten des Krieges brennt sich in Werners Gedächtnis ein Bild ein, das er bis zum Schluss nicht vergessen wird. Es ist das eines schaukelnden Mädchens, dessen Anblick »ein Ventil in Werners Seele« öffnet. »Das ist das Leben, denkt er, das ist es, warum wir leben, an einem Tag wie diesem, wenn der Winter seinen Griff lockert, so zu spielen.«
Natürlich kann es bei dieser Schönheit des Moments nicht bleiben, das Leben wird auch in dieser Situation jäh aus seinen Angeln gerissen und der Junge hineingeschleudert in den apokalyptischen Reigen des Nationalsozialismus. Das Schicksal spült ihn aus dem Kinderheim direkt in die Arme der Napola, für deren Drill Doerr eindrucksvolle Metaphern findet. »Sie alle sind ein Haufen Ton, und der Töpfer, der füllige Anstaltsleiter mit dem glänzenden Gesicht, formt daraus vierhundert identische Gefäße.« In diese Gefäße schüttet der Nazistaat Drill, Gehorsam und Ideologie, bis sie überschwappen, zu stumpfen Kampfmaschinen werden und »in einem Geist [agieren], der sie benommen macht und blendet: Als wollten sie eine mächtige, alles erfassende Flutwelle des Zorns abwenden, indem sie sich fortwährend an Härte, Drill und glänzendem Stiefelleder berauschen.« Werner steht diesem Kadavergehorsam kritisch gegenüber, längst hat er begriffen, dass er und seine Kameraden nicht mehr sind als notwendiges Kanonenfutter für den Führer sind. Sie sind diejenigen, »die ans Förderband treten und hinaufsteigen«, den Todesfall für seinen Wahn zahlen.
Auch wenn nicht alle Sprachbilder überzeugen (hier finden Sie eine auf dem Original basierende Rezension des Buches von unserer Autorin Dr. Sabine Blackmore), finden sich einige starke Metaphern in dem Roman. Etwa wenn Werner die Züge nach Osten an der Erziehungsanstalt vorbeifahren hört und es dann heißt, »die Katapulte der Geschichte poltern vorbei«. Oder wenn Marie-Laures Onkel Étienne ihr nahezubringen versucht, dass er sich nicht im Widerstand engagieren will, weil dieser das Morden nur fortsetze und der zweite Weltkrieg schon zu viele Opfer gekostet habe. »Wenn all die Toten in einer Reihe gingen, würden sie elf Tage und elf Nächte lang an unserer Tür vorbeigehen.«
Doerr lässt in seinem Roman aber auch den Keim Hoffnung, den es braucht, um diese Dunkelheit zu ertragen. Dieser kommt auf den leisen Sohlen der Weltliteratur daher, die Marie-Laure mit den Büchern von Jules Verne oder Alexandre Dumas verschlingt. Diese Geschichten tragen sie hinaus aus der Enge dieses Krieges und hinein in eine weite Welt, in der es noch Luft zu atmen und Entdeckungen zu machen gibt. Und wo sich das blinde Mädchen in die Weltliteratur flieht, sucht Werner Zerstreuung in den Radiohörspielen, die er als Kind mit Jutta auf dem selbstgebauten Kurzwellenempfänger gehört hat. Die Erinnerung an und die Suche nach diesen Geschichten geben ihm einen Rahmen, »auf dem man seine Träume weben konnte«, wie es im Roman heißt.
In diesen Hörspielen begegnet man auch erstmals der Erzählung vom »Licht, das wir nicht sehen«, die dem Buch seinen Titel gibt. Sie handelt von der Verwandlung von flüchtigen Sonnenstrahlen in gespeicherte Energie durch Pflanzen und ihrer anschließenden Carbonisierung unter dem Druck der Jahrmillionen. Diese Geschichte ist zugleich These und Antithese für das nationalsozialistische Deutschland, weil sie zum einen viel größer ist als die des tausendjährigen Reiches, zum anderen aber von der Grundlage der deutschen Kriegsindustrie handelt, mit der der Zweite Weltkrieg geführt wurde und ganze Völker in die Dunkelheit stürzten. So faszinierend schön dieser Schnipsel Erdgeschichte klingt, so verheerend sind seine Konsequenzen. Anthony Doerr erzählt in einer besonderen Weise davon.
Sein Roman ist zweifellos eines der eindrucksvollsten und berührendsten Bücher, das von der Unmenschlichkeit des Krieges und dem Kampf ums Überleben auf beiden Seiten erzählt.
Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
C. H. Beck 2015
528 Seiten. 19,95 Euro
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Diese Rezension erscheint als Teil einer Doppel-Kritik, in Erinnerung an das Autor-Leser-Konzept zur Gedichtanalyse der Lyrikerin Hilde Domin, deren Gegenstück zeitgleich auf dem Literaturblog www.litdocs.de veröffentlicht ist. Hier geht es direkt zum hervorragenden Text von Sabine Blackmore.
[…] Kritik: Ob mit Setz/Sobooks, Genius oder eine gerade gestarteten Doppelrezensionsreihe der Blogs intellectures und litdocs; das digitale „Gespräch“ gesellt sich zur althergebrachten […]
[…] Die Hauptfigur in Spruyts Album ist Ludwig, der jüngere Spross des Freiherrn von Schlitt, einem ehemaligen Kavallerieoffizier, der für den preußischen König auf einer der unzähligen Schlachten, in die er für ihn gezogen ist, ein halbes Bein gelassen hat. Seine beiden Söhne – neben dem naiv-gehorsamen Ludwig der widerspenstige Oswald – genießen deshalb eine kostenfreie Ausbildung an der königlichen Militärakademie in Köslin, während ihre Mutter ihre Depression in Davos zu kurieren sucht. Während Oswalds militärische Karriere wie erwartet seinen Lauf nimmt und er als Kavallerist in die Fußstapfen seines Vaters tritt, überrascht vor allem der sensible Ludwig mit seinem sicheren Umgang mit so ziemlich jeder Schusswaffe. Diese Figur erinnert an den technikbegeisterten Napola-Schüler Werner in Anthony Doerrs Pulitzerpreis-Roman Alles Licht das wir nicht sehen. […]
[…] französischen und internationalen Geistesgrößten wie Georges Dumézil, Claude Lévi-Strauss oder Ernst H. Gombrich machte er sich einen Namen, international bekannt wurde er mit einer beeindruckenden Biographie zu […]