Ben Rawlence arbeitet seit zehn Jahren als Menschenrechtsbeobachter. Für die BBC und den Guardian hat er den Krieg im Kongo beobachtet und anschließend die Situation am Horn von Afrika beobachtet. Für sein Buch »Stadt der Verlorenen« hat er mehrere Monate in Dadaab verbracht und somalische Flüchtlinge in ihrem Alltag im größten Flüchtlingslager der Welt begleitet. Ein Gespräch über die Individualität von Flüchtlingsschicksalen, den Konflikt in Ostafrika und die perfide Politik der Europäischen Union.
Herr Rawlence, im Englischen trägt Ihr Buch den Titel »Stadt der Dornen«, in der deutschen Übersetzung »Stadt der Verlorenen«. Sagt der eine Titel etwas über Dadaab als Siedlung aus, spricht der andere von den Menschen, die hier wohnen. Welcher Titel gefällt Ihnen besser?
Mir wurde gesagt, dass der Titel »Stadt der Dornen« im Deutschen nach einem Science Fiction-Roman geklungen hätte und man daher einen anderen Titel gewählt hat. Wenn das so sein sollte, dann hätte ich auch den Originaltitel passend gefunden, denn Dadaab ist in meinen Augen eine Stadt wie von einem anderen Stern. Ich hatte »Stadt der Dornen« gewählt, um zu beschreiben, was ich gesehen habe. Alles in diesem Lager, jedes Haus, jeder Zaun, jedes Dach, ist aus Zweigen des kenianischen Dornenbusches gefertigt, der in der das Lager umgebenden Savanne wächst. Wo auch immer man hinschaut, alles ist aus diesem Dornenbusch. Dazu kommt noch der metaphorische Charakter dieses Baustoffs, der in Somalia sowohl für Gefahr als auch für Sicherheit steht. Das Lager ist von einem Zaun aus Dornen umgeben, deshalb wirkt Dadaab sowohl wie ein Gefängnis als auch wie eine Festung. Ich mochte diese Vielschichtigkeit des Begriffs, aber auch der deutsche Titel passt. Denn die Menschen in Dadaab sind auch verloren, und zwar im doppelten Sinne – zum einen für sich selbst und zum anderen, weil sie von der Weltgemeinschaft vergessen sind.
Was ist Dadaab in Ihren Augen? Ein Wirklichkeit gewordenes Dystopia? Letzte Zuflucht oder Hölle auf Erden?
Es ist all das. Dies in all seiner Ambivalenz zu zeigen, versuche ich in meinem Buch. Dadaab ist wie eine Stadt auf dem Mars, in der die Menschen das Leben auf der Erde nachahmen. Aber dieses Dystopia ist Wirklichkeit, deshalb habe ich das Buch geschrieben. Als ich das erste Mal da war, konnte ich es selbst kaum fassen, unter welchen Bedingungen die Menschen in dieser Stadt leben und wie diese Stadt funktioniert. Dadaab erinnert mich an einen Baum, der durch ein fest gespanntes Netz wächst. Überall gibt es Restriktionen und Einschränkungen, die das Leben aber nicht aufhalten können. Die Lebensumstände in dem Lager sind zwar überaus schockierend, die Menschen machen aber dennoch immer weiter. Es gibt Hotels, Restaurants, eine Fußball-Liga und nicht zuletzt saubere Wahlen – wahrscheinlich die saubersten Wahlen in ganz Afrika.
Sie beschreiben in dem Buch den Alltag von neun Flüchtlingen, die Sie begleitet haben. War es schwer, Menschen zu finden, die offen über ihr Schicksal sprachen und sich begleiten ließen?
Jeder Bewohner von Dadaab trägt eine ganz einzigartige Geschichte mit sich. Denn hier leben nur Flüchtlinge, sie alle haben Außergewöhnliches erlebt. Sowohl die Flucht als auch das Leben im Lager bieten außerordentliche Geschichten. Ich hätte also jeden nehmen können, der mir etwas erzählen wollte. Es kursieren im Camp auch viel sensationeller Geschichten, als die, die ich hier nacherzähle. Aber ich wollte mit den Menschen, die ich porträtiere, bestimmte Aspekte abdecken. Deshalb gibt es ein paar Frauen und ein paar Männer, jüngere und ältere Flüchtlinge, Menschen, die gerade im Lager angekommen sind neben Menschen, die schon seit Jahren in Dadaab leben oder sogar im Lager geboren sind. Begonnen habe ich mit etwa 100 Menschen, die ich interviewt habe. Etwa zwanzig habe ich dann eine Weile begleitet, um daraus dann mein Buch zu schreiben.
Jeder einzelne Flüchtling hat irgendwann in seinem Leben seine ganz persönliche Entscheidung – meist unter schwierigen Bedingungen – getroffen.
Wie fällt Ihr Resümee über Dadaab aus, nachdem Sie immer wieder Wochen und Monate dort verbracht haben? Was bedeutet es, in dieser in die Wüste gesetzten Stadt zu leben, die neben viel Staub auch Business-Distrikte, Marktplätze, Rotlichtviertel, eine Art Regierungsviertel, Krankenhäuser und Fußballplätze hat?
Es gibt so viele verschiedene Faktoren, die das Leben in Dadaab beeinflussen, so dass ich Ihnen darauf weder in diesem Gespräch noch im Buch die eine Antwort geben kann. Es ist ungefähr so, als würde ich Sie fragen, was es heißt, in Berlin zu leben. In »Stadt der Verlorenen« mache ich den Versuch, anhand der verschiedenen Lebensgeschichten einen Überblick über die einzelnen Lebensumstände zu geben. Die Individualität dieser Geschichten ist zentral, wenn man über das Leben im Lager spricht. Verallgemeinerungen und Generalisierungen wie »Alle wollen nach Europa« oder »Die Bewohner von Dadaab wollen alle zurück nach Somalia« sind ebenso wenig richtig wie die Aussage, dass alle Menschen in die Schule gehen wollen. Jeder einzelne Flüchtling hat irgendwann in seinem Leben seine ganz persönliche Entscheidung – meist unter schwierigen Bedingungen – getroffen. Diese prägt jeden Einzelnen.
Ich war übrigens etwas erstaunt, wie wenige Menschen in Ihrem Buch über Europa oder den Wunsch, nach Europa zu gelangen, sprechen.
Es sind tatsächlich nur wenige, was nicht an meiner Auswahl liegt, sondern daran, was die Menschen im Lager mit der internationalen Gemeinschaft und einem besseren Leben verbinden. Das sind vor allem die USA. Aber die Bedeutung von Europa wächst, was vor allem daran liegt, dass es wahrscheinlicher und billiger ist, nach Europa zu gelangen als in die USA. Mobiltelefone, WhatsApp, GoogleMaps – all das bringt Europa den Menschen näher, zumal die Lebensumstände in der Region immer härter werden. Es ist doch auch logisch, dass Europa immer stärker ins Bewusstsein der Menschen dringt, schon weil es geografisch näher liegt als die USA. Für eine illegale Einreise in die USA zahlen Flüchtlinge bis zu 25.000 US-$, während ihnen für 10.000 bis 15.000 US-$ eine Schleuserreise nach Europa versprochen wird. Deshalb wird die Bedeutung dieser Migrationsroute in den nächsten Jahren steigen.
Bei aller Vielfalt und Individualität, die Sie in den Geschichten abbilden, wird doch auch deutlich, dass die immer gleichen zentralen Fragen diskutiert werden. Im Kern geht es um Ängste, Hoffnung und Liebe. Wobei die Liebe in Dadaab besonderes schwierig scheint.
Die neun Geschichten von Flüchtlingen sind zugleich auch acht Beziehungsgeschichten. Denn die normalen romantischen Gefühle stehen in Dadaab unter einem enormen Druck. Da ist etwa Guled, der aus Mogadischu geflohen ist und seine Frau überzeugt, ebenfalls nach Dadaab zu fliehen, weil sie dort sicher sei. Doch sie findet das Lager schrecklich. Es ist heiß, es gibt kein Essen und es leben nur Flüchtlinge dort. So komisch es klingt, aber das hat sie sich so nicht vorgestellt. Zumal sie, als sie ankommt, schwanger ist. Ihr Körper verlangt nach Reis, Früchten, Fleisch, doch all das kann ihr ihr Mann nicht bieten. Diese Situation setzt die Beziehung einer enormen Belastungsprobe aus. Oder die Geschichte von Professor White Eyes, dessen Frau sich ohne sein Wissen Kontrazeptiva spritzen lässt, weil sie unter den Zuständen im Lager kein Kind bekommen will. Es sind solche Geschichten, die mir im Lager begegnet sind und die mir die Menschen sehr nahegebracht haben.
Die internationale Gemeinschaft hat das UN-System ins Leben gerufen. Es ist nicht perfekt und wird deshalb momentan viel reformiert, aber es ist das beste System, über das wir momentan verfügen.
In der Region laufen viele Konfliktlinien zusammen. Da geht es um Nationalismus, um den wahren Glauben, um traditionelle Clanstrukturen, wirtschaftliche Interessen und nicht zuletzt um den biblischen Mythos eines ewigen Krieges zwischen Hirten und Bauern. Wie wirken sich all diese Konflikte auf den Alltag der Menschen aus, denen Sie begegnet sind?
Wenn man erst einmal Flüchtling ist, dann ist man in so viele Situationen gezwungen, zunächst vor allem in die Situation, mit so vielen Menschen auf engstem Raum zusammenzuleben. Zur seltsamen Kultur im Flüchtlingslager gehört, dass es sich zu einem kosmopolitischen, multinationalen Raum entwickelt, der eine Mittelklasse hervorbringt, der es wiederum besser geht als der Mittelklasse in den Herkunftsländern. Diese Menschen profitieren von der UN-Blase, in der sie sich bewegt. Das ist einer der positiven Effekte im Lager.
Linda Polman hält von der »Mitleidsindustrie« der UN und den Hilfsorganisationen wenig. Wie denken Sie über die »UN-Blase«?
Ohne Zweifel, es gibt viele Probleme dabei, wie und unter welchen Umständen humanitäre Hilfe erfolgt. Aber ich bin kein Verschwörungstheoretiker, ich glaube nicht, dass humanitäre Hilfe für sich genommen etwas Schlechtes ist. Sie ist am Ende einfach nur Teil des Systems, das sie hervorgebracht hat. Wenn Flüchtlinge an unseren Grenzen stehen, wie das auch in Deutschland der Fall war, dann möchten die meisten Menschen helfen. Schwierig wird es dann, wenn dieser empathische Reflex an eine internationale Organisation weitergegeben wird. Die internationale Gemeinschaft hat das UN-System ins Leben gerufen. Es ist nicht perfekt und wird deshalb momentan viel reformiert, aber es ist das beste System, über das wir momentan verfügen. Die Flüchtlinge in Dadaab sind auf seine Existenz angewiesen. Sie brauchen die Krankenhäuser, das Essen und all die anderen Hilfen. Das bessere Szenario wäre natürlich, die Flüchtlinge könnten sich in die kenianische oder irgendeine andere Gesellschaft integrieren und dort zum Fortschritt beitragen. Aber weil der politische Prozess stillsteht, geschieht das nicht, und zurück bleibt die ineffiziente »Mitleidsindustrie«, die niemand mag, aber mit der man leben muss.