Die Politikwissenschaftlerin und Europäerin Ulrike Guérot hat ein flammendes Plädoyer für ein demokratischeres Europa geschrieben. Ihre politische Utopie beweist, dass intellektuelle Bewegung möglich und nötig ist. Ein wichtiges Buch für die Zukunft Europas, wenngleich einige wesentliche Fragen unbeantwortet bleiben.
Die Europäische Union ist in einer Krise. Jüngst schien CETA, das Freihandelsabkommen mit Kanada, aufgrund des »Wallonischen Wald- und Wiesenparlaments« zu scheitern. Die Wahrscheinlichkeit, dass nach diesen Erfahrungen rund um CETA das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP realisiert wird, tendiert gegen null. Es ist nicht das einzige Projekt, das ein zweifelhaftes Bild auf die Europäische Union wirft. In den Wochen und Monaten zuvor war es nicht gelungen, sich auf eine Verteilung von Flüchtlingen auf die EU-Mitgliedstaaten zu einigen. Davor hatte ein Referendum in den Niederlanden dem EU-Vertrag mit der Ukraine Steine in den Weg gelegt. Nur drei Beispiele des Gerangels innerhalb des europäischen Staatenbunds.
Während in Europa die Anzahl der Vetoplayer steigt und die innere Zerrissenheit an den Tag tritt, stehen ringsum rivalisierende Mächte mit zynischem Kalkül und neo-imperialem Überlegenheitsgefühl bereit, die sich diese Schwäche und Zerrissenheit Europas zunutze machen. So sehr Kritiker von links und rechts auch das Gegenteil behaupten mögen: Nicht die Allmacht der EU ist eines der aktuellen Hauptprobleme, sondern ihre Ohnmacht. Diese EU muss reformiert sowie flexibler und zukunftsorientierter aufgestellt werden. Folgt man der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, dann wird dies nicht ausreichen. Die EU, diese supranationale Vereinigung von Nationalstaaten in Europa, muss ganz anders werden. Europa muss sich zu einer Republik wandeln, so lautet der Aufruf ihrer politischen Utopie.
Ulrike Guérot gehört zum Inventar der Berliner Republik. Als Direktorin des European Democracy Lab ist sie stets eine der meinungsprägenden Stimmen bei außen- und europapolitischen Debatten in der Hauptstadt. Sie ist firm, was die unterschiedlichen Positionen der Europapolitik der deutschen Parteien angeht, fähig, die Schwachstellen der jeweiligen Argumente aufzuzeigen, und in der Lage, alternative Lösungswege zu skizzieren. Sie kennt die US-amerikanischen und transatlantischen Positionen zu diesen Themen und ist eng vertraut mit der französischen Perspektive auf Europa und die Europäische Union. Für mich als Frankreich-Kenner gehört sie zu den nicht einmal eine Handvoll zählenden Experten, die die französische Politik nicht nur aus deutschen Zeitungen kennen, sondern in der Lage sind, auch Le Monde oder Le Figaro im Original zu lesen. So viel Internationalität gibt es nur selten in der heimlichen Hauptstadt der EU. Wie ich jüngst im Cicero-Magazin aufzeigen konnte, endet der intellektuelle Horizont vieler politischer »Mover and Shaker« rasch an den Rändern der Berliner Mitte.

(c) Yanko Tsvetkov
Seit kurzem ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Und man fragt sich, warum keine renommiertere Universität in einer etwas zentraler gelegenen Stadt Europas auf die Idee kam, sie als Lehrende und Forscherin zu gewinnen. Selten bündelt sich wissenschaftliche Expertise mit politischer Praxis so in einer Person. Gleichzeitig nahm sie die politisch-praktischen Dimension ihres Wirkens als Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab auf, das sich das Ziel gegeben hat, ein Europa auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit aller europäischen Bürger zu verwirklichen und eine europäische Demokratie mit dem Prinzip der Gewaltenteilung auszugestalten. Grundlage dieser Arbeit ist das Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik, das sie im März 2013 gemeinsam mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse veröffentlichte. Dieses Manifest ist Grundlage ihres aktuellen Buches Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie.
Dieses beginnt mit einer ebenso lapidaren wie radikalen Feststellung: »Die EU ist kaputt.« Sie genüge in ihrer derzeitigen Verfassung und Verfasstheit fundamentalen demokratischen Ansprüchen nicht. Vor allem der Fortbestand der Nationalstaaten verstelle den Weg zu einer transnationalen europäischen Demokratie. Zugleich entspreche die EU nicht dem demokratischen Prinzip der Gewaltenteilung. »EU-Europa«, schreibt Guérot, »ist mithin parlamentarisch entkernt und mutiert zum exekutiven und judikativen Raum.« Gerade deswegen verlässt sie den Weg bisheriger Reformschritte um mehr Integration, den sie in ihrem Buch schildert.
Guérot stammt ursprünglich aus Nordrhein-Westfalen, sie studierte Politikwissenschaft und promovierte im Jahr 1995 an der Universität Münster über die Geschichte des französischen Parti Socialiste. Zwischen 1992 und 1995 arbeitete sie im Bundestagsbüro von Karl Lamers, damaliger Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, vor allem bekannt als Mitverfasser des Papiers Überlegungen zur europäischen Politik. Es ist als Schäuble-Lamers-Papier bekannt geworden und skizzierte im September 1994 die Idee eines Kerneuropas. Bereits damals war der europäische Integrationsprozess an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt. »Wenn es nicht gelingt, in den nächsten zwei bis vier Jahren eine Lösung für die Ursachen dieser gefährlichen Entwicklung zu finden, dann wird die Union sich entgegen der im Maastrichter Vertrag beschworenen Zielsetzung eines immer engeren Zusammenwachsens unaufhaltsam zu einer lockeren, im Wesentlichen auf einige wirtschaftliche Aspekte beschränkten Formation mit verschiedenen Untergruppierungen entwickeln.« Ein Kerneuropa, bestehend aus »integrationsorientierten und kooperationswilligen Ländern« habe »die Aufgabe, den zentrifugalen Kräften in der immer größer werdenden Union ein starkes Zentrum entgegenzustellen und damit die Auseinanderentwicklung zwischen einer eher Protektionismus-anfälligen Süd-West-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Frankreich und einer stärker dem Welthandel verpflichtenden Nord-Ost-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Deutschland zu verhindern.«