Gesellschaft, Politik, Sachbuch

Europa out of the box

Ulrike Guérot gehörte zum Arbeitsstab von Lamers und arbeitete an diesem Papier mit. Die Sorge um Europa treibt sie seitdem um, die Verwirklichung einer »ever closer union«, wie sie in der Erklärung der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in Paris am 19. und 20. Oktober 1972 erstmals verkündet wurde, gehörte zu ihrem Arbeitsauftrag. Daran arbeitete sie auch als Mitarbeiterin von Jacques Delors, dem damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, für den sie zwischen 1995 und 1998 tätig war.

Nach dieser politisch-praktischen Dimension trieb sie ab 1998 ihre wissenschaftlichen Ambitionen voran. Bis 2000 lehrte und forschte Ulrike Guérot als Juniorprofessorin an der Paul H. Nitze School for Advanced International Studies an der Johns Hopkins University in Washington/DC. 2000 zog es sie nach Berlin, wo sie bis 2003 Leiterin der Programmgruppe Europa bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik war, zwischen 2004 und 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim German Marshall Fund und zwischen 2007 und 2013 Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations.

Mir ist die Aufzählung dieser Karriere so wichtig, weil sie deutlich macht, wie grundsätzlich Ulrike Guérot ihre Meinung geändert hat. Sie war Teil des europapolitischen Mainstreams der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Sie war ein Teil der pro-europäischen Maschine, die das Elitenprojekt EU progressiv vorantrieb. Die klug wie rhetorisch oftmals brillant und überzeugend über Finalität und Herausforderungen Europas dozieren konnte. Für die die EU bereits eine in Institutionen gegossene Utopie war. Und die nun festgestellt hat, dass diese Utopie ein Blendwerk ist, ein ungenügender, schief gegangener Versuch eines vereinten Europa.

Während das Politische in der EU nie entstanden ist, hat sich das Ökonomische in Europa verselbständigt, argumentiert Guérot in ihrem neuen Buch. Spätestens mit der Bankenkrise des Jahres 2008 sei offensichtlich geworden, dass die EU politisch nicht in der Lage sei, diese Krise zu meistern. Im Gegenteil, die Bankenkrise mutierte zu einer Eurokrise, die politisch mit dem fatalen Resultat gemanagt wurde, dass man »ein abgewirtschaftetes und pervertiertes Finanzsystem zu Lasten der Steuerzahler gerettet und im Nachgang Sparpolitiken inszeniert hat, um die Schulden zu begrenzen«. Die EU hatte die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliederstaaten an die globalen Finanzmärkte verkauft, lautet Guérots Anklage, und zwar mit verheerenden sozialen und ökonomischen Konsequenzen. Wie der europäische Kontinent angesichts der ökonomischen Brüche und Herausforderungen politisch zusammenwachsen soll im Sinne einer »ever closer union«, erscheint ihr zunehmend schleierhaft.

Die Aussage »Wir wissen alle, was zu tun ist, aber wir können es nicht tun«, die Jean-Claude Juncker mit Blick auf die Integrationsnotwendigkeit der Eurozone getroffen hat, möchte Ulrike Guérot nicht mehr hinnehmen. Sie denkt kühner als der im institutionellen Gefüge der EU verhafteten und in diesem »stahlharten Gehäuse« gefangenen Kommissionspräsidenten. Sie möchte ein Europa, das demokratischen Prinzipien folgt und das das Gemeinwesen in den Mittelpunkt stellt. Ein solches Europa könne sich nicht wie bisher in kleinen Trippelschritten entwickeln. Es bedarf einer Utopie, die die drei fundamentalen Prinzipien Europas vereint: Bürgerliche Gleichheit, politische Gleichheit und die Verpflichtung auf das Gemeinwohl. »Europa ist ein Projekt der europäischen Bürger, nicht der europäischen Völker«, schließt sie den ersten Teil ihres Buches.

Anschließend breitet sie, ausgehend vom römischen Staatstheoretiker Cicero, ihre Vision einer »Republik Europa« aus. »Es ist also das Gemeinwesen die Sache des Volkes, Volk aber ist nicht jede Vereinigung von Menschen, die auf irgendeine Weise zusammengewürfelt wurde, sondern die Vereinigung einer Menge, die sich aufgrund einer Übereinstimmung des Rechts und einer Gemeinsamkeit bezüglich des Nutzens verbunden hat.« Zwei Gedanken Ciceros sind für Guérot wesentlich: Erstens kann sich jeder zu dieser Republik bekennen, unabhängig von Herkunft, Ethnie, Klasse, Konfession, Religion. Damit bietet die Republik die ideale Gussform für eine europäische Verfassung. Zweitens kann eine Republik mit dieser sozial-gesellschaftlichen Intention nicht zu einer neoliberalen Umverteilungsmaschine werden, wie die Bürgerinnen und Bürger es in den letzten zwanzig Jahren und beschleunigt wie vertieft seit 2008 erleben mussten. Intendiert in Ciceros Zitat ist die Politisierung der Gesellschaft. Es ist den Bürgerinnen und Bürgern nicht egal, was mit ihrem Gemeinwesen geschieht, und sie finden die Möglichkeiten zur politischen Partizipation. Guérot geht es auch um die »Wiederentdeckung des Politischen in Europa!«