Die Krise ist auch, so Offe, eine Krise des Krisenmanagements. Ein politischer Ausweg wäre eine weitere Vertiefung, gerade in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Währungsunion flankieren könnte. Dafür gibt es aktuell keine Mehrheiten. Keine legitime Macht, keine legitimierte Macht stellt Forderungen in dieser Art. Gleichzeitig ist unter Politiker*innen auf nationaler Ebene kein Willen ersichtlich, nationale Souveränität abzugeben. Aktuell erschiene dies als politischer Selbstmord.
Die Einführung des Euro war ein großer Fehler. Ein noch größerer Fehler wäre es aber, den Euro nun wieder abzuschaffen. »Die Auflösung der Eurozone und, über kurz oder lang damit verbunden, auch der EU, wäre eine politische und ökonomische Katastrophe – und dazu eine moralische für diejenigen, die man im zukünftigen Rückblick dafür verantwortlich halten wird, dass sie dieses Ergebnis durch ihr Handeln bewirkt oder durch ihr Unterlassen in Kauf genommen haben.«
Welche Folgerungen zieht Offe aus dieser Malaise? Eine erstmals mutige: Er fordert, im Gegensatz zu seinem Schüler Wolfgang Streeck, kein Zurück zum Nationalstaat. Nach wie vor sieht Offe die EU als die supranationale politische Handlungsmacht, die tatsächlich in der Lage ist, die Finanzmärkte einzuhegen, terroristische Bedrohungen zu bekämpfen und vernünftige und nachhaltige Lösungen bei den Zukunftsthemen Klima und Energie zu entwickeln und diese auch durchzusetzen. Seien wir ehrlich: Soll dies in Zukunft Österreich alleine tun? Die Tschechische Republik? Bulgarien? Luxemburg? Selbst Großbritannien, Frankreich oder Deutschland werden als Einzelstaaten Mühe haben, international gehört zu werden, geschweige denn ihre Anliegen durchzusetzen. Großbritannien wird diese Erfahrung in Kürze machen.
Offe beschreibt in einem Kapitel die Motive für das politische Projekt der EU-Integration. Er nennt sieben Gründe beziehungsweise »Finalitäten«: Die Sicherung des internationalen Friedens, das Versprechen auf Wachstum, Wohlstand und soziale Inklusion im Rahmen eines Europäischen Sozialmodells, das Prinzip der repräsentativen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die EU als eigenständiger Akteur in der Arena der internationalen Politik mit einem spezifischen Methode der soft power, die Vielfalt von Kulturen, Traditionen, Künsten, Sprachen und urbanen Strukturen, die gegenseitige Beaufsichtigung und Kontrolle der Mitgliedstaaten sowie die Lösungsfähigkeit europaweiter Probleme, die gleichzeitig die Autonomie der Mitglieder der EU schont. Offe spart sich nicht einen gewissen akademischen Zynismus, wenn er diese Resultate und Errungenschaften zerredet. Er zeigt aber auch noch einmal auf, dass die EU schon immer mehr war als lediglich eine neoliberale Verteilungsmaschine. Eigentlich gilt es, sich nicht von den Realitäten und Zynismen leiten zu lassen, sondern die Finalitäten wieder zum Vorschein zu bringen. Sie geben Orientierung für ein funktionierendes, soziales Europa in einer globalisierten Welt.
Damit könnte die EU auch das leisten, was sie im Moment am dringendsten benötigt. Sie muss vor allem das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen, indem sie das Gleichgewicht zwischen politischer Demokratie und kapitalistischem Markt herstellt. Dies beginnt mit der Stärkung der Sozialpolitik, die eine Umverteilung von oben nach unten beinhaltet. Als konkrete Maßnahmen nennt Offe eine Europaweite Arbeitslosenversicherung und – als steter Kämpfer für ein Grundeinkommen – eine Minimalsicherung in Höhe von 200 Euro für Bürger*innen in den einzelnen Staaten der EU. Gleichermaßen muss sie dringend ihre Institutionen stärker demokratisieren.
Bei diesen Aufgaben sieht Claus Offe vor allem Deutschland in der Pflicht. Die Bundesrepublik war die große Gewinnerin bei der Einführung des Euros. Daher bestehe für sie eine Kompensationspflicht. »Die »richtige« Forderung wäre, Deutschland … zur Preisgabe von Teilen seiner wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung zugunsten der Stärkung von supranationaler europäischer Führungs- und Handlungskapazität; das würde allerdings bedeuten, dass die »unverzichtbare« Nation bereit wäre, sich in ihrer Führungsrolle ein Stück weit »verzichtbar« zu machen.« Ja, die Vergemeinschaftung von Risiken wird Deutschland teuer zu stehen kommen. Aber alle – auch und gerade die politische wie die ökonomische Elite Deutschlands – wissen, dass der Zusammenbruch des gemeinsamen Marktes und des politischen Projektes Europa noch viel teurer zu stehen kommt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Einhegung Deutschlands durch die Einführung des Euros, wie es sich Francois Mitterand geträumt hatte, zu einer deutschen Vorherrschaft geführt hat. Aus dieser Ironie sollte die Bundesrepublik Deutschland nicht länger Kapital schlagen, sondern daraus, wie Offe fordert, eine besondere Verantwortung für das europäische Projekt ableiten. Eine demütige Bundesrepublik Deutschland, bewusst ihrer Geschichte, ihrer Größe und ihrer speziellen Lage im Herzen Europas, eine Haltung, wie wir sie bis 1998 kannten, sollte Maßstab aktuellen Handelns sein.
Die Europäische Union garantiert in beispielsloser Weise die Grundrechte von 500 Millionen Bürger*innen, sie zivilisiert Politik und ist seit über fünf Dekaden lang das größte globale Friedensprojekt. Diese Leistungen gilt es zu wahren, deshalb benötigen die maßgeblichen aktuellen Probleme – sozialer Frieden und gerechte Wirtschaftspolitik in Europa – eine aufrichtige Antwort. »Man wird auf Dauer nicht mit weniger auskommen als mit der Gewährung sozialer Ansprüche, die den Bürgern der EU zukommen. Diese Mittel wären dann diesmal nicht der Rettung von Banken und Staaten gewidmet, sondern der von Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Jugendlichen, Rentnern und anderen Bürgern.«
Die Probleme sind gewaltig, und keiner analysiert sie so schonungslos wie Claus Offe. Noch gewaltiger werden die Probleme, wenn wir es beim Status Quo belassen oder uns in einen Status Quo ante flüchten. Nach wie vor schlägt Offes Herz für Europa. Das sollte uns ermutigen, uns für ein besseres Europa einzusetzen. Immer mit diesem klugen Buch Europa in der Falle in der Hand!
Claus Offe: Europa in der Falle
Suhrkamp 2016
160 Seiten. 16 Euro
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