--------------------------------------------------------------------------------------
Tats
--------------------------------------------------------------------------------------
Dieser Text wird gerade überarbeitet.
--------------------------------------------------------------------------------------
Klappentext:
In einem Hexenhaus aufzuwachsen ist wirklich nicht leicht. Vor allem, wenn die Hexe Malve nur wenig Rücksicht auf die dreizehnjährige Tats nimmt. Als die alte Malve eines Tages stirbt, ist Tats plötzlich allein in einer Hütte, die vom Keller bis zum Dach voller Geheimnisse steckt. Als dann auch noch fremde Magier vor der Tür stehen, beginnt Tats zu ahnen, dass das Haus weit mehr Experimente beherbergt, als sie ahnte...
Inhaltsverzeichnis:
Kapitel 1
--------------------------------------------------------------------------------------
Kapitel 1:
Malve
(Erste Überarbeitung)
--------------------------------------------------------------------------------------
Malve
Nichtsahnend ringelte sich der kleine Tatselwurm auf dem Stein und genoss die Morgensonne. Allzu viel Wärme konnte er allerdings noch nicht aufgesogen haben, denn sein länglicher Körper schimmerte in einem sanften Grün. Nur am Kamm auf dem Rücken entlang verfärbten sich die Schuppen rot.
Wütend biss ich mir auf die Lippe. Ich hatte mich vorsichtig herangepirscht, gut verborgen hinter den Stauden. Die Gelegenheit war perfekt. Und dann war der Tatsel grün. Ungenießbar. Es würde noch eine Weile dauern, bis er das leuchtende Rot annahm, mit dem er am besten schmeckte.
Ich sollte nach Hause gehen, dachte ich zum wiederholten Mal.
Ich hätte schon vor einer Stunde heimkehren sollen. Als ich die letzten Hibiskuszweige schnitt und in das Bündel packte, das nun duftend auf meinem Rücken hing.
Blumen für Malve zu finden, das war das Ziel meines Ausflugs gewesen. Trotzdem war ich hier und drückte mich vor dem Heimweg. Ein Süßknollenstrauch? Unbedingt ausgraben, eine solche Köstlichkeit findet man nicht alle Tage. Ein Baumläufer im Geäst? Sein seltenes eisblaues Fell würde mir einen guten Preis einbringen. Ein unvorsichtiger Tatselwurm? Konnte ich mir nicht entgehen lassen.
Ich seufzte. Nur noch den Tatsel, sagte ich mir. Er war der letzte, der allerletzte Vorwand, noch länger im Wald zu bleiben.
Ich musste also warten, bis die Echse rot wurde. Vorsichtig legte ich mein pralles Bündel ab und machte es mir so bequem, wie es in einer Wiese werden konnte, die bis zum Rande vollgesogen war vom nächtlichen Tau. Um mich herum suchten sich Asseln, Grillen und Schnecken ihren Weg durch das nasse Gras. Innerlich schüttelte ich mich. Graue Nebelschwaden, feuchte Wiesen, grüne Tatselwürmer – die frühen Morgenstunden waren nicht meine Zeit.
Erschöpft legte ich den Kopf auf meine Knie. Obwohl ich noch nicht lange auf den Beinen war, fühlte ich mich zerschlagen. Mein ganzer Körper war bleischwer und taub, als würde ich gar nicht wirklich darin wohnen.
Ich fragte mich, ob ich jemals wieder in meinem Körper wohnen würde. Ob ich mich jemals wieder in unserer Hütte zu Hause fühlen würde. Ob ich jemals wieder etwas anderes fühlen würde als diesen bodenlosen Zorn.
Zorn auf Malve.
Hatte sie gewusst, dass sie bald sterben würde? Der Gedanke ließ mich nicht los. Malve ließ sich nicht gern in die Karten schauen, nicht einmal bei ihrem Tod. Sie hatte mich nicht darauf vorbereitet, dass ich sie eines Morgens steif in ihrem Bett vorfinden würde. Auf ihren Lippen das geheimnisvolle Lächeln, das mich schon zu ihren Lebzeiten in den Wahnsinn getrieben hatte. Um uns herum eine Hütte, randvoll mit geheimnisvollen Pflanzen, gefährlichen Kreaturen und bizarren Rezepten. Meine Ziehmutter Malve hatte mir nicht annähernd alles erklärt, was ich darüber wissen musste. „Eines Tages, Tats, eines Tages…“, sagte sie oft, aber sie beendete nie ihren Satz. Einmal hatte sie von einem Experiment gesprochen, größer und gefährlicher als alle anderen, die wir durchführten. Von einer Kreatur, schöner und mächtiger als jede, die wir aufgezogen hatten.
Damals glaubte ich ihr kein Wort. Jetzt aber überkamen mich Zweifel. Jetzt graute mir so sehr vor der Heimkehr, dass ich lieber auf meinem taunassen Hosenboden im Dreck saß. Mir graute davor, alleine in der Hütte mit ihren Geheimnissen zu sein. Mir graute davor, dass in den Untiefen des Kellergewölbes irgendeine verborgene Kreatur schlüpfte und mich eines Nachts auffressen würde. Mir graute davor, alleine auf den Markt in die Stadt zu gehen, wo alles so schnell und laut um mich herumwirbelte, dass mir schwindelte. Mir graute davor, Malve zu verbrennen.
Ich war erst dreizehn. Zu jung, um eine Hexenhütte zu bewirtschaften, fand ich zumindest. Aber Malve sah das vermutlich anders.
Ich holte tief Luft und hob den Kopf von den Knien. Vor mir hatte sich ein Himmelsfalter niedergelassen. Der Grashalm bog sich unter seinem Gewicht, als er seine handtellergroßen Flügel öffnete und mir sein Muster offenbarte: Weiße Spiralen auf gelbem Grund. Dieses Muster prophezeite einen sonnigen Tag. Immerhin.
Malve hätte den Himmelsfalter mit gurrenden Worten gelockt, ihr nach Hause zu folgen, und hätte ihn in unser Wetterglas gesperrt, wo uns bereits unzählige andere Himmelsfalter täglich mit ihrer Färbung das Wetter vorhersagten. Malve hatte alles angezogen, was schön und bunt war und Glück brachte. Ich weiß wirklich nicht, womit sie das verdiente.
Ich dagegen war besser darin, Tatselwürmer zu töten. Der Gedanke erinnerte mich an mein Vorhaben und daran, dass es merklich wärmer war. Die Feuchtigkeit stieg in dicken Schwaden aus der Wiese. Vorsichtig lugte ich hinter den Stauden hervor. Der Tatselwurm lag auf dem Rücken und rekelte sich in der Sonne. Sein Bauch war noch immer blassgrün, doch als er sich umdrehte, schimmerte der Rest seines Schuppenkleids in einem zarten Hellrot. Das musste reichen.
Meine Fersen gruben sich auf der Suche nach einem guten Halt in den Boden. Lautlos schoss meine rechte Hand vor und schloss sich um die Echse. Sofort stellte der Tatsel den scharfen Halskragen auf und begann in meiner Hand zu glühen.
Gleißende Hitze schoss durch meinen Körper. Die Wiese, der Tatsel, die duftenden Blüten in meinem Bündel, alles verschwand in einem Fluss aus glühendem Gold.
Glühendem, reinem Gold, direkt aus dem Herzen der Sonne.
Einen Moment lang erlaubte ich mir, in den Fluss einzutauchen, meinen Körper und meine Seele verbrennen zu lassen. Dann hob ich die linke Hand, die das Messer umklammerte, und schnitt der Echse den Kopf ab.
Der Körper erschlaffte. Rauch stieg von dem glatten Schnitt auf, dann erlosch auch dieser.
Ich hatte unzählige Male Tatselwürmer gejagt und getötet. Aber dieses Mal schnürte mir der Anblick die Luft ab. Gerade noch zappelte das Tier in meiner Hand, im nächsten Moment löste es sich in Nichts auf. Unwiederbringlich.
So wie Malve.
Ich saß in der dampfenden Wiese, das Messer in der einen Hand, den schlaffen Kadaver in der anderen Hand, und heulte mir die Seele aus dem Leib.
Malve war weg.
Sie hatte mich allein gelassen. Mutterseelenallein. Wie oft hatte ich meine Ziehmutter verwünscht. Wenn ich ihr Haar stundenlang frisierte und sie noch immer etwas auszusetzen hatte. Wenn sie für zwei Tage verschwand, ohne mir zu sagen, wohin. Wenn sie mich mitten in der Nacht weckte und auf eine haarsträubende Mission ohne jeden erkennbaren Zweck jagte. Wenn sie mir ein Rezept zur Hälfte beibrachte und ich die andere Hälfte „durch eigenes Erkennen“ erschließen sollte, obwohl mir „mein eigenes Erkennen“ bereits eine breite Narbe auf der Wange beschert hatte. Wenn sie erst Andeutungen machte und dann meinen Nachfragen auswich.
Aber so verrückt sie sich auch gebärdete, sie war alles, was ich hatte. Und nun war sie weg.
Nun ja, noch nicht ganz weg. Ihr Leichnam lag noch immer in unserer Hütte und wartete darauf, dass ich den Mumm aufbrachte, ihn zu verbrennen.
Reiß dich zusammen, Tats. Tu, was getan werden muss. Darin warst du doch sonst so gut.
Ich wischte mir mit dem Arm übers Gesicht und stand auf. Malve würde es mir nie verzeihen, wenn ich sie liegen ließ, bis sie zu stinken begann. Ausgerechnet sie, die sich mit Ölen und Duftwassern parfümierte, bis sie roch wie ein Blumenstrauß. Außerdem konnte ich nicht ewig auf der Wiese sitzen, ohne Deckung, weithin sichtbar für jeden diebischen Kobold oder, schlimmer noch, für das scharfe Auge einer Harpie.
Ich band mir den toten Tatzelwurm an meinen Gürtel, wo bereits der Baumläufer hing, und machte mich auf den Heimweg, dem Unausweichlichen entgegen.
Es war mehr Glück als Verstand, dass ich den Heimweg lebendig und unverletzt überstand. Ich stolperte blind durch den Urwald, als ginge ich zum ersten Mal hindurch. Auf dem letzten Wegstück trat ich beinahe in das Loch eines Erdzahns. Erst als der nackte, armdicke Wurm aus seinem Bau herausschoss und blind in die Luft schnappte, taumelte ich zurück. Er verfehlte mich so knapp, dass ich sein Gift riechen konnte.
Aber schließlich erreichte ich die Hütte, die einmal mein Zuhause gewesen war. Das Holz hatte ich bereits am frühen Morgen zu einem letzten Totenbett aufgeschichtet. Prüfend strich ich über die Scheite. Obwohl es schon lange eingeschlagen war, erkannte ich noch immer den Rest eines grünlich schimmernden Lebensfeuers, das einmal einem Baum gehört hatte. Vor allem aber stellte ich fest, dass das Holz gründlich ausgetrocknet war. Es würde gut brennen.
Ich betrat das Haus durch den Hintereingang, der direkt in die Küche führte. Dort bearbeitete ich sorgfältig die erbeuteten Tiere. Dann trat ich in das vordere Zimmer, wo noch immer Malve lag.
Ihre nachtschwarze Haut wirkte ein wenig matter als gewohnt, doch ansonsten war sie schön wie eh und je. Für mich hatte sie nie alt ausgesehen. Aber vermutlich hatte ich mich getäuscht.
Ich holte noch einmal tief Luft, griff ihr unter die Arme und zog. Beinahe wäre ich gestolpert, als sich der Körper überraschend schnell bewegte. Malve war viel leichter als erwartet. Kurz überkam mich ein schlechtes Gewissen. Meine Ziehmutter musste sehr abgemagert sein. Wann war das geschehen? Wieso hatte sie ihren Zustand unter ihren bunten, weiten Gewändern vor mir verborgen?
Doch meine Wut war stärker als jede Reue. Malve hatte die Nerven, mich alleine mit ihrer Bestattung zu lassen. Es war nur gerecht, dass sie sich ein Gewicht zulegte, welches ich bewältigen konnte.
Auch als Leichtgewicht noch war es schwierig genug, sie aus dem Bett zu hieven, aus dem Haus zu ziehen und auf das Lager aus Holzscheiten zu betten. Als ich sie endlich dort hatte, lief mir der Schweiß den Rücken herab. Mein Körper schrie nach einer Verschnaufpause, doch ich wusste, dass ich diesen Anblick nicht mehr viel länger ertragen würde.
Malves Schlafmütze war an der Türschwelle hängen geblieben und von ihrem Kopf gerutscht. Ihr krauses Haar umrahmte ihren Kopf wie eine dunkle Krone.
Ich legte unsere schönste Decke über ihren Körper, dann holte ich meinen Beutel und schmückte den Holzstoß. Girlanden von feuerroten Fuchsschwänzen säumten die Ränder. Zartrosa Hibiskusblüten verströmten ihr süßes Aroma. Um Malves Kopf aber legte ich einen violetten Kranz aus Malvenblüten, die duftenden Namensverwandten meiner Ziehmutter, die sie so sehr geliebt hatte.
Dann stand ich vor meinem Werk, erschöpft bis auf die Knochen, und blickte auf meine Ziehmutter hinab.
Es war alles perfekt.
Malve würde diese Welt in einem Meer aus Farben und Düften verlassen, so wie es ihr gefallen hätte.
Ich legte ein letztes Mal meine Hand auf ihre Wange. Wenn ich ihre Locken auskämmte und ölte, hatte ich dabei immer ihren Kopf berührt und heimlich mit den Fingerspitzen nach ihrem Lebensfeuer getastet. Ich hatte ein helles, violett schimmerndes Licht gefunden, zart und liebevoll. Dieses Licht war die wahre Malve, weit entfernt von der seltsamen und manchmal schroffen Art, die sie so oft an den Tag legte. Dieses Licht war es, das ich geliebt hatte.
Nun war der Funke erloschen. Meine Finger glitten durch samtweiche Leere. So also fühlte sich die Asche einer Seele an.
Schließlich zog ich meine Hand zurück und legte sie stattdessen auf das Holz. Ich schloss die Augen und griff in mich hinein, tief in meine Seele hinab, bis ich in den gleißend goldenen Fluss auf dem Grund meiner Seele eintauchte. Hitze schoss durch meinen Körper, durch meinen Arm, in meine Hand. Meine Fingerspitzen begannen zu glühen. Prasselnd und knackend entzündete sich das Holz. Ich schritt einmal um das Totenbett herum und strich mit meinen Fingern am Holz entlang, bis die Flammen hoch in den Himmel stiegen.
Dann trat ich zurück. Der Fuchsschwanz verbrannte, dann die Malvenblüten, dann die bestickte Decke… Vor meinen Augen ging meine Ziehmutter in Flammen auf.
Das Farbenmeer, die bunte Blumenwiese, die ich Malve bereitet hatte, alles verschwamm vor meinen Augen, bis nur noch eine einzige Farbe übrigblieb: Gold. Gleißendes Gold.
Ab jetzt musste ich allein klarkommen.
Als ich meinen Beutel aufhob, fiel mir eine vergessene Malvenblüte in die Hände. Während ich zur Hütte zurück ging, strich ich gedankenverloren über die Blütenblätter und tastete unwillkürlich nach ihrer Lebensflamme.
Sanft, silbrig, mit einem violetten Schimmer.
Ich runzelte die Stirn. Seltsam… Das Lebensfeuer der Blume zeigte eine verblüffende Ähnlichkeit zu dem meiner Ziehmutter.
Zufall? Ich seufzte tief auf. Nein, Malve ließ sich wirklich nicht gern in die Karten schauen.
Tats
--------------------------------------------------------------------------------------
Dieser Text wird gerade überarbeitet.
--------------------------------------------------------------------------------------
Klappentext:
In einem Hexenhaus aufzuwachsen ist wirklich nicht leicht. Vor allem, wenn die Hexe Malve nur wenig Rücksicht auf die dreizehnjährige Tats nimmt. Als die alte Malve eines Tages stirbt, ist Tats plötzlich allein in einer Hütte, die vom Keller bis zum Dach voller Geheimnisse steckt. Als dann auch noch fremde Magier vor der Tür stehen, beginnt Tats zu ahnen, dass das Haus weit mehr Experimente beherbergt, als sie ahnte...
Inhaltsverzeichnis:
Kapitel 1
--------------------------------------------------------------------------------------
Kapitel 1:
Malve
(Erste Überarbeitung)
--------------------------------------------------------------------------------------
Malve
Nichtsahnend ringelte sich der kleine Tatselwurm auf dem Stein und genoss die Morgensonne. Allzu viel Wärme konnte er allerdings noch nicht aufgesogen haben, denn sein länglicher Körper schimmerte in einem sanften Grün. Nur am Kamm auf dem Rücken entlang verfärbten sich die Schuppen rot.
Wütend biss ich mir auf die Lippe. Ich hatte mich vorsichtig herangepirscht, gut verborgen hinter den Stauden. Die Gelegenheit war perfekt. Und dann war der Tatsel grün. Ungenießbar. Es würde noch eine Weile dauern, bis er das leuchtende Rot annahm, mit dem er am besten schmeckte.
Ich sollte nach Hause gehen, dachte ich zum wiederholten Mal.
Ich hätte schon vor einer Stunde heimkehren sollen. Als ich die letzten Hibiskuszweige schnitt und in das Bündel packte, das nun duftend auf meinem Rücken hing.
Blumen für Malve zu finden, das war das Ziel meines Ausflugs gewesen. Trotzdem war ich hier und drückte mich vor dem Heimweg. Ein Süßknollenstrauch? Unbedingt ausgraben, eine solche Köstlichkeit findet man nicht alle Tage. Ein Baumläufer im Geäst? Sein seltenes eisblaues Fell würde mir einen guten Preis einbringen. Ein unvorsichtiger Tatselwurm? Konnte ich mir nicht entgehen lassen.
Ich seufzte. Nur noch den Tatsel, sagte ich mir. Er war der letzte, der allerletzte Vorwand, noch länger im Wald zu bleiben.
Ich musste also warten, bis die Echse rot wurde. Vorsichtig legte ich mein pralles Bündel ab und machte es mir so bequem, wie es in einer Wiese werden konnte, die bis zum Rande vollgesogen war vom nächtlichen Tau. Um mich herum suchten sich Asseln, Grillen und Schnecken ihren Weg durch das nasse Gras. Innerlich schüttelte ich mich. Graue Nebelschwaden, feuchte Wiesen, grüne Tatselwürmer – die frühen Morgenstunden waren nicht meine Zeit.
Erschöpft legte ich den Kopf auf meine Knie. Obwohl ich noch nicht lange auf den Beinen war, fühlte ich mich zerschlagen. Mein ganzer Körper war bleischwer und taub, als würde ich gar nicht wirklich darin wohnen.
Ich fragte mich, ob ich jemals wieder in meinem Körper wohnen würde. Ob ich mich jemals wieder in unserer Hütte zu Hause fühlen würde. Ob ich jemals wieder etwas anderes fühlen würde als diesen bodenlosen Zorn.
Zorn auf Malve.
Hatte sie gewusst, dass sie bald sterben würde? Der Gedanke ließ mich nicht los. Malve ließ sich nicht gern in die Karten schauen, nicht einmal bei ihrem Tod. Sie hatte mich nicht darauf vorbereitet, dass ich sie eines Morgens steif in ihrem Bett vorfinden würde. Auf ihren Lippen das geheimnisvolle Lächeln, das mich schon zu ihren Lebzeiten in den Wahnsinn getrieben hatte. Um uns herum eine Hütte, randvoll mit geheimnisvollen Pflanzen, gefährlichen Kreaturen und bizarren Rezepten. Meine Ziehmutter Malve hatte mir nicht annähernd alles erklärt, was ich darüber wissen musste. „Eines Tages, Tats, eines Tages…“, sagte sie oft, aber sie beendete nie ihren Satz. Einmal hatte sie von einem Experiment gesprochen, größer und gefährlicher als alle anderen, die wir durchführten. Von einer Kreatur, schöner und mächtiger als jede, die wir aufgezogen hatten.
Damals glaubte ich ihr kein Wort. Jetzt aber überkamen mich Zweifel. Jetzt graute mir so sehr vor der Heimkehr, dass ich lieber auf meinem taunassen Hosenboden im Dreck saß. Mir graute davor, alleine in der Hütte mit ihren Geheimnissen zu sein. Mir graute davor, dass in den Untiefen des Kellergewölbes irgendeine verborgene Kreatur schlüpfte und mich eines Nachts auffressen würde. Mir graute davor, alleine auf den Markt in die Stadt zu gehen, wo alles so schnell und laut um mich herumwirbelte, dass mir schwindelte. Mir graute davor, Malve zu verbrennen.
Ich war erst dreizehn. Zu jung, um eine Hexenhütte zu bewirtschaften, fand ich zumindest. Aber Malve sah das vermutlich anders.
Ich holte tief Luft und hob den Kopf von den Knien. Vor mir hatte sich ein Himmelsfalter niedergelassen. Der Grashalm bog sich unter seinem Gewicht, als er seine handtellergroßen Flügel öffnete und mir sein Muster offenbarte: Weiße Spiralen auf gelbem Grund. Dieses Muster prophezeite einen sonnigen Tag. Immerhin.
Malve hätte den Himmelsfalter mit gurrenden Worten gelockt, ihr nach Hause zu folgen, und hätte ihn in unser Wetterglas gesperrt, wo uns bereits unzählige andere Himmelsfalter täglich mit ihrer Färbung das Wetter vorhersagten. Malve hatte alles angezogen, was schön und bunt war und Glück brachte. Ich weiß wirklich nicht, womit sie das verdiente.
Ich dagegen war besser darin, Tatselwürmer zu töten. Der Gedanke erinnerte mich an mein Vorhaben und daran, dass es merklich wärmer war. Die Feuchtigkeit stieg in dicken Schwaden aus der Wiese. Vorsichtig lugte ich hinter den Stauden hervor. Der Tatselwurm lag auf dem Rücken und rekelte sich in der Sonne. Sein Bauch war noch immer blassgrün, doch als er sich umdrehte, schimmerte der Rest seines Schuppenkleids in einem zarten Hellrot. Das musste reichen.
Meine Fersen gruben sich auf der Suche nach einem guten Halt in den Boden. Lautlos schoss meine rechte Hand vor und schloss sich um die Echse. Sofort stellte der Tatsel den scharfen Halskragen auf und begann in meiner Hand zu glühen.
Gleißende Hitze schoss durch meinen Körper. Die Wiese, der Tatsel, die duftenden Blüten in meinem Bündel, alles verschwand in einem Fluss aus glühendem Gold.
Glühendem, reinem Gold, direkt aus dem Herzen der Sonne.
Einen Moment lang erlaubte ich mir, in den Fluss einzutauchen, meinen Körper und meine Seele verbrennen zu lassen. Dann hob ich die linke Hand, die das Messer umklammerte, und schnitt der Echse den Kopf ab.
Der Körper erschlaffte. Rauch stieg von dem glatten Schnitt auf, dann erlosch auch dieser.
Ich hatte unzählige Male Tatselwürmer gejagt und getötet. Aber dieses Mal schnürte mir der Anblick die Luft ab. Gerade noch zappelte das Tier in meiner Hand, im nächsten Moment löste es sich in Nichts auf. Unwiederbringlich.
So wie Malve.
Ich saß in der dampfenden Wiese, das Messer in der einen Hand, den schlaffen Kadaver in der anderen Hand, und heulte mir die Seele aus dem Leib.
Malve war weg.
Sie hatte mich allein gelassen. Mutterseelenallein. Wie oft hatte ich meine Ziehmutter verwünscht. Wenn ich ihr Haar stundenlang frisierte und sie noch immer etwas auszusetzen hatte. Wenn sie für zwei Tage verschwand, ohne mir zu sagen, wohin. Wenn sie mich mitten in der Nacht weckte und auf eine haarsträubende Mission ohne jeden erkennbaren Zweck jagte. Wenn sie mir ein Rezept zur Hälfte beibrachte und ich die andere Hälfte „durch eigenes Erkennen“ erschließen sollte, obwohl mir „mein eigenes Erkennen“ bereits eine breite Narbe auf der Wange beschert hatte. Wenn sie erst Andeutungen machte und dann meinen Nachfragen auswich.
Aber so verrückt sie sich auch gebärdete, sie war alles, was ich hatte. Und nun war sie weg.
Nun ja, noch nicht ganz weg. Ihr Leichnam lag noch immer in unserer Hütte und wartete darauf, dass ich den Mumm aufbrachte, ihn zu verbrennen.
Reiß dich zusammen, Tats. Tu, was getan werden muss. Darin warst du doch sonst so gut.
Ich wischte mir mit dem Arm übers Gesicht und stand auf. Malve würde es mir nie verzeihen, wenn ich sie liegen ließ, bis sie zu stinken begann. Ausgerechnet sie, die sich mit Ölen und Duftwassern parfümierte, bis sie roch wie ein Blumenstrauß. Außerdem konnte ich nicht ewig auf der Wiese sitzen, ohne Deckung, weithin sichtbar für jeden diebischen Kobold oder, schlimmer noch, für das scharfe Auge einer Harpie.
Ich band mir den toten Tatzelwurm an meinen Gürtel, wo bereits der Baumläufer hing, und machte mich auf den Heimweg, dem Unausweichlichen entgegen.
Es war mehr Glück als Verstand, dass ich den Heimweg lebendig und unverletzt überstand. Ich stolperte blind durch den Urwald, als ginge ich zum ersten Mal hindurch. Auf dem letzten Wegstück trat ich beinahe in das Loch eines Erdzahns. Erst als der nackte, armdicke Wurm aus seinem Bau herausschoss und blind in die Luft schnappte, taumelte ich zurück. Er verfehlte mich so knapp, dass ich sein Gift riechen konnte.
Aber schließlich erreichte ich die Hütte, die einmal mein Zuhause gewesen war. Das Holz hatte ich bereits am frühen Morgen zu einem letzten Totenbett aufgeschichtet. Prüfend strich ich über die Scheite. Obwohl es schon lange eingeschlagen war, erkannte ich noch immer den Rest eines grünlich schimmernden Lebensfeuers, das einmal einem Baum gehört hatte. Vor allem aber stellte ich fest, dass das Holz gründlich ausgetrocknet war. Es würde gut brennen.
Ich betrat das Haus durch den Hintereingang, der direkt in die Küche führte. Dort bearbeitete ich sorgfältig die erbeuteten Tiere. Dann trat ich in das vordere Zimmer, wo noch immer Malve lag.
Ihre nachtschwarze Haut wirkte ein wenig matter als gewohnt, doch ansonsten war sie schön wie eh und je. Für mich hatte sie nie alt ausgesehen. Aber vermutlich hatte ich mich getäuscht.
Ich holte noch einmal tief Luft, griff ihr unter die Arme und zog. Beinahe wäre ich gestolpert, als sich der Körper überraschend schnell bewegte. Malve war viel leichter als erwartet. Kurz überkam mich ein schlechtes Gewissen. Meine Ziehmutter musste sehr abgemagert sein. Wann war das geschehen? Wieso hatte sie ihren Zustand unter ihren bunten, weiten Gewändern vor mir verborgen?
Doch meine Wut war stärker als jede Reue. Malve hatte die Nerven, mich alleine mit ihrer Bestattung zu lassen. Es war nur gerecht, dass sie sich ein Gewicht zulegte, welches ich bewältigen konnte.
Auch als Leichtgewicht noch war es schwierig genug, sie aus dem Bett zu hieven, aus dem Haus zu ziehen und auf das Lager aus Holzscheiten zu betten. Als ich sie endlich dort hatte, lief mir der Schweiß den Rücken herab. Mein Körper schrie nach einer Verschnaufpause, doch ich wusste, dass ich diesen Anblick nicht mehr viel länger ertragen würde.
Malves Schlafmütze war an der Türschwelle hängen geblieben und von ihrem Kopf gerutscht. Ihr krauses Haar umrahmte ihren Kopf wie eine dunkle Krone.
Ich legte unsere schönste Decke über ihren Körper, dann holte ich meinen Beutel und schmückte den Holzstoß. Girlanden von feuerroten Fuchsschwänzen säumten die Ränder. Zartrosa Hibiskusblüten verströmten ihr süßes Aroma. Um Malves Kopf aber legte ich einen violetten Kranz aus Malvenblüten, die duftenden Namensverwandten meiner Ziehmutter, die sie so sehr geliebt hatte.
Dann stand ich vor meinem Werk, erschöpft bis auf die Knochen, und blickte auf meine Ziehmutter hinab.
Es war alles perfekt.
Malve würde diese Welt in einem Meer aus Farben und Düften verlassen, so wie es ihr gefallen hätte.
Ich legte ein letztes Mal meine Hand auf ihre Wange. Wenn ich ihre Locken auskämmte und ölte, hatte ich dabei immer ihren Kopf berührt und heimlich mit den Fingerspitzen nach ihrem Lebensfeuer getastet. Ich hatte ein helles, violett schimmerndes Licht gefunden, zart und liebevoll. Dieses Licht war die wahre Malve, weit entfernt von der seltsamen und manchmal schroffen Art, die sie so oft an den Tag legte. Dieses Licht war es, das ich geliebt hatte.
Nun war der Funke erloschen. Meine Finger glitten durch samtweiche Leere. So also fühlte sich die Asche einer Seele an.
Schließlich zog ich meine Hand zurück und legte sie stattdessen auf das Holz. Ich schloss die Augen und griff in mich hinein, tief in meine Seele hinab, bis ich in den gleißend goldenen Fluss auf dem Grund meiner Seele eintauchte. Hitze schoss durch meinen Körper, durch meinen Arm, in meine Hand. Meine Fingerspitzen begannen zu glühen. Prasselnd und knackend entzündete sich das Holz. Ich schritt einmal um das Totenbett herum und strich mit meinen Fingern am Holz entlang, bis die Flammen hoch in den Himmel stiegen.
Dann trat ich zurück. Der Fuchsschwanz verbrannte, dann die Malvenblüten, dann die bestickte Decke… Vor meinen Augen ging meine Ziehmutter in Flammen auf.
Das Farbenmeer, die bunte Blumenwiese, die ich Malve bereitet hatte, alles verschwamm vor meinen Augen, bis nur noch eine einzige Farbe übrigblieb: Gold. Gleißendes Gold.
Ab jetzt musste ich allein klarkommen.
Als ich meinen Beutel aufhob, fiel mir eine vergessene Malvenblüte in die Hände. Während ich zur Hütte zurück ging, strich ich gedankenverloren über die Blütenblätter und tastete unwillkürlich nach ihrer Lebensflamme.
Sanft, silbrig, mit einem violetten Schimmer.
Ich runzelte die Stirn. Seltsam… Das Lebensfeuer der Blume zeigte eine verblüffende Ähnlichkeit zu dem meiner Ziehmutter.
Zufall? Ich seufzte tief auf. Nein, Malve ließ sich wirklich nicht gern in die Karten schauen.