Hallo zusammen,
nachdem ich im April endlich mal eine vor gefühlten Ewigkeiten angefangene Cyberpunk-Geschichte mehr oder weniger zu Ende geschrieben habe, ist auch eine weitere Sidestory entstanden (gehört damit quasi zu "Haus aus rotem Licht"). Einen richtigen Titel habe ich noch nicht, aber da es vor allem darum geht, wie zwei Charaktere sich kennenlernen, heißt sie vorerst "Red und Maze"
... ist etwas länger geworden, daher stellle ich sie in drei Teilen ein.
Red und Maze
Neon schimmerte auf nassem Beton. Zerschmolz in öligen Pfützen und spritzte davon, als Reds schwere Stiefel hart und schnell eintauchten. Er rannte. Wie ein Besessener. Sein blutroter Irokese hing ihm schlaff ins Gesicht. Die dicken Tropfen hinterließen brennende Spuren. Jede einzelne der verlorenen Gestalten, die träge an ihm vorüberwogten, erschien ihm als Feind. Denn irgendeiner von denen wusste wo Liz ist. Irgendeiner musste es wissen.
nachdem ich im April endlich mal eine vor gefühlten Ewigkeiten angefangene Cyberpunk-Geschichte mehr oder weniger zu Ende geschrieben habe, ist auch eine weitere Sidestory entstanden (gehört damit quasi zu "Haus aus rotem Licht"). Einen richtigen Titel habe ich noch nicht, aber da es vor allem darum geht, wie zwei Charaktere sich kennenlernen, heißt sie vorerst "Red und Maze"

Red und Maze
Neon schimmerte auf nassem Beton. Zerschmolz in öligen Pfützen und spritzte davon, als Reds schwere Stiefel hart und schnell eintauchten. Er rannte. Wie ein Besessener. Sein blutroter Irokese hing ihm schlaff ins Gesicht. Die dicken Tropfen hinterließen brennende Spuren. Jede einzelne der verlorenen Gestalten, die träge an ihm vorüberwogten, erschien ihm als Feind. Denn irgendeiner von denen wusste wo Liz ist. Irgendeiner musste es wissen.
Sie war nicht nach Hause gekommen.
Diese Alterreal-Freaks hatten ihre Gedanken verdreht. Geh nicht dahin, hatte Red gesagt. Das sind ganz üble Spinner. Scheiß auf ihre neue Wirklichkeit. Aber was hatte er ihr bieten könnten? Sie hatte es gehasst, dass ihr Bruder Synth vertickte. Dass er ihre triste Welt noch trister machte. Natürlich war sie ihm davongelaufen. Fuck, du bist so ein Arsch. Du hättest dich um sie kümmern sollen. Richtig kümmern.
Red wollte schnell viel Asche machen. Um mit ihr fortzugehen. Legal hatte einer wie er keine Chance. Und die Sicherheitskräfte der Konzerne interessierten sich nicht für Kleindealer. Es war so easy gewesen. Warum war Liz auch so verdammt stur? Sie glaubte fest daran, dass es einen anderen Weg gab.
Als er den Alterreal-Tempel erreichte, rutschte ihm das Herz in die Eingeweide. Was würde er da drinnen sehen? Er hatte Geschichten gehört von obskuren Ritualen. Von einem komischen Zeug, das sie aus einem Kelch tranken. Das ihnen ihre neue Wirklichkeit enthüllte. Ist doch das gleiche wie Synth, dachte Red. Und damit kannte er sich aus.
Seine Hände glitten in die Taschen seiner Lederjacke. Mit der Rechten umschloss er sein Butterfly. Dann trat er durch die unscheinbare Tür, die ihn in eine andere Welt führte. Ein irreales, blaues Licht ging von gläsernen Säulen aus. Sie rahmten ein Portal, das von einem massigen Typen mit einem silbernen Kelch in der Hand bewacht wurde. Der Kerl trug eine dunkle Kutte und sah aus, als würde er niemals sprechen oder sich bewegen. Als Red näher trat, hielt er ihm wortlos das Gefäß mit der glasklaren Flüssigkeit hin.
Shit, was nun? Er hatte nicht damit gerechnet, dass diese Wichser ihre Schafe sofort unter Drogen setzten. Red tat so, als wäre er unsicher. Verdammt, er musste da durch. Und was sollte schon passieren? Er hatte die ganze Palette aktueller Designerdrogen durch. Beherzt griff er sich den Kelch und nahm einen kleinen Schluck, hielt ihn aber länger an die Lippen, damit es so aussah, als würde er mehr trinken. Der schräge Wächter schien zufrieden und ließ ihn durch.
Ihn erwartete eine absurde Kreuzung aus antikem Tempel und Technopalast. Der gläserne Boden reflektierte kantige Strukturen und okkulte Symbole, vervielfachte ihre Wirkung in dem riesigen Saal. Esoterische Klänge drifteten über ihn hinweg. Menschen knieten auf dem Boden, pressten sich die Hände aufs Gesicht oder streckten sie zur Decke. Als könnten sie dort etwas berühren. Da spürte auch Red die Wirkung der Flüssigkeit aus dem Kelch. Etwas zerrte an ihm, dehnte seine Gedanken. Das allgegenwärtige blaue Licht erschien ihm verlockend, es übermalte alles mit reinem, pulsierendem Leben. Tief in seinem Herzen spürte er, dass alles möglich war, dass nichts ihm etwas anhaben konnte. Dass er einfach loslassen musste.
Wow. Verdammt starkes Zeug. Red biss sich auf die Lippen, fühlte bewusst den Schmerz, um sich in der Wirklichkeit zu halten. Er kniete sich ebenfalls hin, um nicht aufzufallen. Sein Blick suchte unauffällig nach Liz. Es waren viele Mädchen da. Viele viel zu junge Mädchen. Aber Liz konnte er nicht entdecken.
Da bemerkte er die Gestalten, die zwischen ihren neuen Anhängern umherschritten. Typen in langen, schwarzen Kutten, die aussahen, als würden sie Ware betrachten. Sie pickten einzelne Leute raus und führten sie weg. Zwei blieben vor Red stehen. Er tat so, als würde er sie nicht sehen und bemühte sich um einen entrückten Blick. Was ihm nicht schwer viel, weil das Zeug aus dem Kelch sein Gehirn in blauem Licht schwenkte. Sie machten es einem wirklich einfach.
„Sieht kräftig aus“, sagte der eine und packte ihn am Nacken. „Implantierte Netzzugänge. Wahrscheinlich Kampferfahrung.“
Der andere nickte geschäftig. „Nimm ihn mit.“
Red wurde fortgeführt. Der Kerl in der Kutte dirigierte ihn in ein Hinterzimmer, das ebenfalls von diesem diffusen, blauen Licht erfüllt war. In der Mitte des kleinen Raumes befand sich ein grotesker Stuhl aus filigranem Metall. Glasfaserkabel hingen von den schmalen Lehnen herab. Was ist das für eine Scheiße?
Es wurde ihm zu heiß. Red fokussierte seine schmelzenden Gedanken. Griff erneut in seine Tasche, förderte sein Messer zu Tage, während der Typ damit beschäftigt war, etwas an dem Stuhl einzustellen. Red trat hinter ihn, schob ihm das Butterfly zwischen die Beine. Der Kerl erstarrte.
„Halt bloß dein Maul“, knurrte Red. „Oder ich schneide dir aus Versehen die Eier ab.“
Der andere kapierte schnell, dass er besser kein Theater veranstaltete. „Was willst du?“, fragte er kühl.
„Liz. Was habt ihr mit ihr gemacht?“
„Liz? Nie gehört.“
Red ruckelte ein bisschen mit dem Messer.
„Scheiße! Ich kenn sie wirklich nicht. Es kommen viele Mädchen her.“
Langsam wurde er richtig wütend. Er erkannte seine eigene Stimme nicht mehr. Vielleicht lag das aber auch am dem Zeug, das sein Gehirn in Brei transformieren wollte. „Gib mir mehr oder wir beenden das hier schnell und schmerzhaft.“
Der Kuttenträger hob beschwichtigend die Hände. „Okay. Mit den Mädchen ist meistens nicht viel anzufangen. Die hübschen werden ins Pearl geschickt. Exklusiver Club für Alterreal-Priester.“
Unweigerlich drängten sich Red Bilder auf, die seinen Verstand zertrümmern wollten. Liz, verdammt. Seine Hände krampften vor Zorn und beinahe hätte er dem Kerl wirklich die Eier abgeschnitten. Red stieß ihn angewidert von sich und stürmte hinaus. Die entrückten Gestalten im Tempel ignorierten seinen polternden Abgang. Waren vollkommen in ihrer Selbsterfahrung gefangen. Ein Kuttenträger entdeckte ihn, rief etwas, das Red nicht mehr verstand, weil er wie ein Tornado durch die Halle fegte. Der Wächter am Eingang stellte sich ihm in den Weg, doch er schlüpfte einfach unter seinen massigen Armen hindurch und sprang hinaus in die Nacht.
Red angelte seine Glasfaserkabel aus der Hosentasche und steckte an einem öffentlichen Terminal ein. Drückte die Platinkuppen in seine Headbuchse und hielt sich an dem Touchscreen fest. Das Ding blieb schwarz. Er wollte nicht, dass jeder auf dem Bildschirm sah, nach was er suchte.
Der Cyberspace entblätterte sich in seinem eisigen, hellen Blau. Die Netzpräsenzen der Konzerne bauten sich wie eine digitale Stadt um ihn herum auf, dazwischen Social Media und Werbeanzeigen, die wie bunte Geschwüre in der scheinbaren Endlosigkeit wucherten. Scheiß öffentlicher Zugang. Immerhin konnte man ihn hier schwer zurückverfolgen, zumindest nicht, wenn er sich beeilte.
Natürlich war das Pearl nicht einfach zu finden. Doch Red hatte ein Ass im Ärmel. Er schickte seinem alten Kumpel Decan eine Nachricht. Hatten sich früher mal gegenseitig einsame Stunden versüßt und größere Deals abgewickelt. Drei Sekunden später ploppte sein bleiches Hackergesicht in einem virtuellen Fenster vor ihm auf. Das Haar immer noch platinblond mit dunklem Undercut.
„Alter, warum hängst du an einem öffentlichen Terminal?“
„Muss schnell machen. Brauche Zugang zum Pearl, sagt dir das was?“
Decan riss die Augenbrauen hoch und verzog den Mund zu einer angewiderten Grimasse. „Das ist ein ganz übler Ort, geh da lieber nicht hin. Gehört so ner komischen Sekte. Die Mädchen sind alle auf Droge.“
Scheiße. Er hatte es gewusst. „Liz ist vielleicht da.“
„Fuck.“
„Ich muss da rein, okay?“
Der Wirehead nickte ernst. „Okay. Du hast Glück, jeder kommt rein, wenn er ordentlich Cash mitbringt. Ich schick dir ne Karte. Und Red? Besorg dir wenigstens ne Knarre, bevor du da reinmarschierst.“
„Sentimentaler Anfall?“
Decan seufzte. „Hier, die Koordinaten von Ming. Hat nette Spielsachen und macht gute Preise für Freunde.“
Red speicherte die Infos auf seinem Implantat. „Danke, ich schulde dir was.“
Der Hacker lächelte wehmütig. „Komm mal wieder vorbei.“
„Vielleicht.“ Sobald er Liz gefunden hatte.
Er besorgte sich keine Knarre. Das Pearl lag an der Grenze zum Kern, verborgen im Keller eines Glaspalastes, der auf acht Etagen die Shoppingträume der Geringverdiener erfüllte. Selbst das Butterfly in seiner Tasche war ein Risiko, aber ohne Messer fühlte er sich nackt. Seinen Iro hatte er zu einem voluminösen Fächer gestylt und einen langen, nachtschwarzen Leinenmantel übergeworfen. Hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet, aber so fiel er weniger auf als mit der alten Lederjacke. Sah etwas mehr nach ausreichend Cash und notgeilem Jüngelchen aus.
Vor dem Eingang standen zwei Schränke in schicken Anzügen, ausgestattet mit Headcoms und der schlichten, aber effektiven Bewaffnung von Konzernsicherheitskräften. Es gab keine Leuchtreklame, kein goldenes Schild mit Gravur oder sonst was, das darauf hindeutete, dass hinter der schlichten Tür das Pearl lag. Die Männer hätten auch einen Versorgungs- oder Tresorraum bewachen können.
Red setzte einen arroganten Blick auf. Versuchte sich als Sohn reicher Eltern auszugeben, der einen auf Rebell machte und mal eine Edelnutte vögeln wollte. Sein Gang war locker, die Plastikchips mit dem gespeicherten Guthaben in einem hässlichen Designergeldbeutel verstaut. Beliebtes Zahlmittel bei anrüchigen oder nicht ganz legalen Geschäften.
Die Sicherheitsmänner scannten ihn misstrauisch. „Was willst du?“
Red grinste herablassend. „Bisschen Cash in eure Bräute investieren.“
„Hab dich hier noch nie gesehen“, sagte der Linke.
„Hatte kürzlich noch ne Beziehung“, leierte Red seinen einstudierten Text runter. „Hing ein fetter Deal für meine Eltern dran. Wenn sie mich da in einem solchen Etablissement erwischt hätten, puh … „ Er zwinkerte den beiden verschwörerisch zu. „Auch wenn ich mich auf eure Seriosität verlasse, war mir das zu heiß.“
Offenbar brachte er seine Show gut rüber, denn die Schränke grinsten nun vielsagend. „Und jetzt biste frei oder wie?“
Red grinste zurück und kam sich schrecklich schäbig vor. „Genau. Jetzt investiere ich meine Kohle in Lebenserfahrung statt in teure Restaurants und Beautydocs.“ So ganz schienen die Wachmänner noch nicht überzeugt. Aber sie kauften ihm die Nummer mit dem reichen Kind ab. Red seufzte innerlich und kramte nach dem Geldbeutel. Schüttete ein paar Chips heraus und drückte sie dem linken Schrank in die Hand. „Für eure Verschwiegenheit.“
Der Rechte nickte geschäftig, prüfte das Guthaben und ließ die Chips in seinem Jackett verschwinden. „Na dann viel Spaß.“
Bisschen hohles Gequatsche, bisschen Cash und schon war die Sache gegessen. Na gut. Verdammt viel Cash. Für ihn.
Von innen sah das Pearl dem Alterreal-Tempel erschreckend ähnlich. Diffuses, blaues Licht dominierte einen riesigen, runden Raum, der in dutzende Buchten unterteilt war. Ein Anschein von Privatsphäre in einem Etablissement, wo man sich gegenseitig zuschaute. Einzelne Spiegelfliesen an den blaugrauen Wänden reflektierten das perverse Treiben. Bilder regneten auf Red nieder. Von willenlosen, leeren Gesichtern. Grinsende und keuchende Typen. Fesseln, Knebel und abartiges Sexspielzeug. In die träge Musik mischte sich Gestöhne und Gewimmer. Was für ein übler Schuppen.
Unauffällig suchte sein Blick nach Liz, während er auf die schlichte Bar im Zentrum des Raumes zuschritt. Ein Halbrund voll neonbunter Gläser. Eine schwarze, glänzende Theke mit einer vollbusigen Lady im Glitzerfummel dahinter. Pechschwarze Locken, Katzengesicht. „Willste erst was trinken oder dich gleich amüsieren?“
Red tat gelangweilt. „Wollte mich mal umschauen.“
Sie zwinkerte ihm zu. „Hier kannste jedem zugucken, wie‘s dir gefällt. Da hinten“, sie zeigte auf eine unauffällige, graue Tür, „ist für privates Vergnügen reserviert. Kostet extra.“
„Alles klar.“
Er drückte sich eine Weile an der Bar rum und scannte den Raum, konnte aber in der Düsternis nicht genug erkennen. Also drehte er eine Runde, versuchte interessiert dreinzuschauen und beobachtete das Treiben in den Nischen. Was sich auf den gepolsterten Bänken abspielte, ließ ihn bittere Galle aufstoßen. Red war nicht prüde, im Gegenteil, aber sich an einem so wehrlosen und offensichtlich zugedröhnten Menschen zu vergehen war abartig. Einfach abartig. Nach zehn Minuten wäre er am liebsten rausgerannt. Fast glaubte er schon, dass er sie nicht hier finden würde. Fast war er erleichtert. Da sah er sie.
Blinder Zorn flammte in ihm auf und riss ihn fast zu einer Dummheit hin. Einem Blutbad, das mit seinem durchlöcherten Körper enden würde, bevor es richtig begonnen hatte. Nicht ausrasten, Junge. Sonst versaust du es. Zähneknirschend sah er zu, wie ein hagerer Typ mit Lacoste-Hemd seiner kleinen Schwester seinen dreckigen Schwanz in den Mund schob. Sie saß mit glasigen Augen vor ihm, ließ alles geschehen. Trug nur einen fliederfarbenen Fetzen am Leib. Wie eine billige Hure. Reds Finger ballten sich zu Fäusten. Ruhig bleiben. Du wusstest es. Nur wenn du ruhig bleibst, kannst du sie rausholen.
Als der Kerl fertig war und seine Hose hochzog, trat Red näher. „Ist sie frei?“
Der Typ grinste eklig. „Kannst sie haben.“
Er wartete, bis der andere sich an ihm vorbeischob, und setzte sich zu ihr. Bemüht, sie vor fremden Blicken abzuschirmen. „Liz?“ Sie erkannte ihn nicht einmal. Ihr stumpfer Blick glitt an ihm hoch, haftete an seinem Gesicht und verlor sich irgendwo dahinter. „Komm schon, ich bin’s.“
Als Reaktion spreizte sie die Beine. Sie trug nichts drunter. Red wurde kotzübel. „Liz, verdammt.“ Was haben die dir gegeben? Er packte sie unsanft, schüttelte sie. Zwang sie, sich normal hinzusetzen.
Sie blinzelte mehrmals heftig. „Red?“
„Ja, Süße.“ Er wollte sie anschreien. Wollte ihr an den Kopf knallen, dass er es ihr gesagt hatte. Dass sie nicht zu diesen Spinnern gehen sollte. Aber ihm stiegen nur heiße Tränen in die Augen. Du hast sie dahin getrieben. Du bist Schuld.
Liz fing an zu zittern. „Was machst du hier?“ Ihre Stimme war zerbrochen.
„Was wohl? Dich rausholen.“
„Du musst gehen.“
„Nicht ohne dich.“ Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. Eine aufgeplatzte Lippe. Hämatome am Hals. Würgemale. Das ist also eure neue Wirklichkeit, ihr Wichser. „Gibt’s hier nen Hinterausgang oder so?“
Sie wog den Kopf hin und her. Überlegte. „Weiß nicht. Die Priester kommen woanders rein.“
Wahrscheinlich im privaten Bereich. Eine andere Chance gab es nicht. Red zerrte seine Schwester auf die Beine. Raunte ihr ein „Spiel mit“ zu. Legte den Arm um ihre schmalen Schultern und schleifte sie mit sich zu der taffen Lady an der Bar.
„Wie viel für ein paar ungestörte Stunden?“
Sie nannte ihm den Preis und er hätte ihr fast eine gelangt. Dafür musste er mindestens zwei Monate Dienst auf der Straße schieben, wenn das mal hinkam. Er förderte die Chips zu Tage und warf sie auf den Tresen. Bekam dafür einen Stick und einen missbilligenden Blick. Offenbar liefen da hinten die wirklich krassen Sachen, die selbst die Barfrau verabscheute.
Er nahm seine Schwester erstmal mit auf das Zimmer, um den Anschein zu wahren. Ein trister, kühler Raum mit wenigen Hochglanzmöbeln. Ein Kingsizebett mit Metallstreben, an denen noch Handschellen hingen. Kein Fenster. Nur eine Stehlampe mit Leuchtstoffröhre im Hals.
Liz taute allmählich auf, schien zu realisieren, wo sie war, denn sie fing an zu heulen.
„Red, es tut mir so leid.“ Ihr fragiler Körper zitterte, als würde sie furchtbar frieren. Er legte ihr den Mantel um die Schultern, rieb ihr über die Arme. Tränen tropften auf ihr lächerlich knappes Kleidchen.
„Alles okay, wir kriegen das hin.“
„Du hättest nicht herkommen dürfen.“ In ihren trüben Augen sah er, dass sie trotzdem unheimlich froh darüber war.
„Mach dir keinen Kopf.“ Er strich ihr unbeholfen übers strähnige Haar. „Liz, hör zu, du musst mir helfen, okay? Erinnerst du dich, wo die Priester reinkommen?“
Sie starrte ihn an, schien wieder wegzudriften. Scheiße. Das knallt viel mehr als Synth. Red fluchte, schüttelte sie wieder. Diesmal sanfter. „Ich weiß nicht“, sagte sie nur. „Sie kommen nicht vorne rein.“
Das hatte keinen Sinn. „Okay, ich werde mich mal umschauen.“ Er drückte ihr einen Kuss auf ihre salzige Wange. „Du wartest hier.“
Er ließ sie auf dem Bett zurück und stahl sich auf den Flur, von dem mehrere Türen abzweigten. Wie in einem Hotel, nur ohne Deko, Teppiche und den ganzen anderen Schnickschnack. Dumpf drangen Schreie aus dem Nachbarzimmer und Red hatte verflucht viel Lust darauf, dort reinzumarschieren und dem Kerl die Kehle durchzuschneiden. Aber ohne Stick hatte er sowieso keinen Zugang. Außerdem war er wegen Liz hier. Nur wegen ihr.
Er drückte sich in dem düsteren Gang rum, spähte hinter eine Abzweigung und wurde von einem Mann im Anzug zurückgeworfen, der gerade den Flur betrat. Durch eine Tür, die dem Straßenlärm dahinter zu urteilen ins Freie führte. Konnte es so leicht sein? War das Schicksal ausnahmsweise auf seiner Seite? Oder rechneten die einfach nicht damit, dass jemand eines der Mädchen mitnahm?
„Was machst du hier?“, raunte sein Gegenüber.
Reds Gedanken rasten. „Muss mal austreten.“ Sein Blick zuckte umher. Ruhig bleiben. Du hast bezahlt, bist Kunde. Du hast das Recht, hier zu sein.
Der Fremde deutete auf eine Tür schräg hinter ihm. Mit einem unscheinbaren Marssymbol.
„Danke man.“ Red grinste und drückte sich an dem Anzugträger vorbei ins Klo. Dort wusch er sich die Hände und wartete kurz bis er den Airbladetrockner aktivierte, falls der Typ ihn belauschte. Als er zurück auf den Flur trat, war der Kerl weg. Red atmete mehrmals tief durch, versuchte, seinen Herzschlag runterzufahren. Es lief doch bisher ganz gut. Außer dass die scheiß Tür elektronisch verriegelt war. Ohne den passenden Stick kam er nicht raus. Decan hätte das Schloss wahrscheinlich knacken können. Verdammt.
Okay, denk nach. Er starrte die verschlossene Tür eine Weile an. Dann zuckte sein Blick zu dem Zimmer, aus dem die Schreie gekommen waren. Red schlich näher, lauschte. Hörte ein Wimmern. Und Gestöhne. Klang, als würde ein alter Sack gleich abkratzen. Ekelhaft. Wenn er Glück hatte, war das Schwein einer von diesen komischen Priestern.
Red wartete vor der Tür. Der kranke Mischmasch aus Wimmern und Stöhnen war kaum zu ertragen. Da drin hätte seine Schwester liegen können. Verfluchte Scheiße. Ist nicht dein Problem, du musst dich auf Liz konzentrieren. Angespannt starrte er den Flur hinunter. Betete, dass niemand kam. Es blieb ruhig. Irgendwann war es auch hinter der Tür seltsam still. Dumpf hörte er, wie der Mann etwas sagte. Verstand aber durch die Wand kein Wort. Dann ging die Tür auf und Red schlug einfach zu. Rammte dem Typen die Faust gegen die Schläfe. Schuckte ihn zurück ins Zimmer, bevor er auf dem Boden zusammenbrach. Red sah auf. Vom Bett aus starrte ihn ein junges Ding mit riesigen, verheulten Augen an. Ihre Unterlippe zitterte. Sie musste in Liz‘ Alter sein. War relativ hübsch mit ihren schwarzen Locken, aber schrecklich dürr und bleich wie der Tod.
„Nicht schreien“, flüsterte Red. „Ich tu dir nichts.“
Sie klapperte mit den Zähnen. War voll drauf. Überdosiert. Aber blieb still. Red durchsuchte den bewusstlosen Wichser. Wühlte sich durch den schwarzen Designeranzug und förderte zwei Sticks zu Tage.
„Ist der Arsch ein Priester?“, fragte er die Kleine auf dem Bett. Sie schaute ihn nur verständnislos an. Tränen perlten über ihre grauen Wangen. Sinnlos. Du musst es einfach versuchen.
Red wollte Liz holen, konnte aber den Blick nicht von dem zitternden Häufchen Elend abwenden. Er seufzte. Ging zu ihr, hielt ihr vorsichtig die Hand hin. „Willst du mitkommen?“
Sie zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen. „Wir dürfen nicht gehen“, krächzte sie.
Der Zorn klopfte dumpf gegen seine Schädelknochen. „Das ist deine Chance“, sagte er. Bemüht sanft. „Komm mit mir.“
Sie wich vor ihm zurück. „Wir dürfen nicht …“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Wir dürfen nicht. Wir dürfen nicht …“
Fuck, das kannst du vergessen. Du verlierst zu viel Zeit. Red überlegte kurz, ob er sie einfach mit sich zerren sollte, entschied sich aber dagegen. Sie würde Theater machen. Würde Liz gefährden. Er musste an seine Schwester denken. Resigniert wandte er sich ab und ließ das verheulte Mädchen mit dem bewusstlosen Vergewaltiger allein. Er konnte sich später dafür hassen.
Liz saß brav auf dem Bett. Ihr Blick driftete ins Leere und sie zitterte immer noch, trotz des Mantels auf ihren Schultern. Red kniete sich vor sie, versuchte, die blauen Flecken an ihren Beinen zu ignorieren. „Wir machen einen Abgang. Bereit?“
Ihr Blick klärte sich kurz. Sie nickte knapp. Red zog sie auf die Beine, verschränkte seine Finger mit ihren. Streckte den Kopf aus der Tür. Keiner zu sehen. Also los. Er zog sie hinter sich her, trieb sie zur Eile an. Sie hatten die rettenden Ausgang fast erreicht, als ein Klicken ihn erstarren ließ. Mit rasendem Herzen drehte sich Red um und starrte in den Lauf einer Pistole.
Das Grinsen der Barfrau erinnerte ihn an ein Raubtier. Kurz vor dem tödlichen Biss. „Hab ich mir gedacht, dass mit dir was nicht stimmt. Keine Mitnahme, Kleiner.“
Scheiße. „Du findest doch auch zum Kotzen, was hier abgeht.“
Liz zitterte und schluchzte.
„Die Mädchen können hier nicht raus“, erklärte die Barfrau. In ihrer Stimme schwang Bedauern mit. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance.
„Sie ist meine Schwester.“ Red schob sich vor Liz, damit sie nicht getroffen wurde, falls die Lady doch noch losballerte. Ganz langsam drängte er sie nach hinten. Richtung Tür.
„Sie kann nicht raus“, wiederholte die Barfrau. „Sorry Kleiner, du hast keine Chance.“
Er spürte Liz‘ Finger, die sich in seinen Arm krallten. Ihn sanft zur Seite drückten. „Bitte“, krächzte sie. „Ich kann nicht mehr …“
Der Ausdruck im Gesicht der Barlady wandelte sich zu so etwas wie Mitgefühl. Sie ließ die Knarre sinken. Schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, dass sie das tat. „Scheiße. Ich gebe euch zehn Sekunden, dann ruf ich die Security.“
Red stürzte los. Riss seine Schwester mit sich. Hielt den ersten Stick an die Türverriegelung und hätte vor Glück fast geheult, als ein grünes Licht aufblinkte.
Sie fanden sich in einer Einkaufsstraße wieder. Red rannte los. Zog Liz hinter sich her. Rote Lampions hingen zwischen den grauen Gebäuden und fügten sich in den allgegenwärtigen Duft nach gebratenen Nudeln und Instantsuppen. Gastrodrohnen arbeiteten hektisch die drängelnde Kundschaft ab. Red sah aufgetakelte Mädchen, mit Tüten beladen. Gamer, die starr auf ihre Handbildschirme glotzten. Händler, die lautstark ihre Waren anpriesen, in verschiedenen Sprachen. Einen bunten Wald aus Neonschildern.
Hier konnten sie abtauchen. Keiner schenkte ihnen Beachtung. Als Liz vor lauter Stolpern nicht mehr nachkam, nahm Red nahm seine Schwester in den Arm. Dirigierte sie durch die Massen. Ihr bleiches Gesicht alarmierte ihn, doch sie ging tapfer weiter, fügte sich seinem Kommando. Als die ersten drei Blocks hinter ihnen lagen und keiner sie verfolgte, ließ er die Erleichterung zu. Liz war vorerst in Sicherheit. Jetzt brachte er sie erstmal nach Hause und dann überlegte er, was zu tun war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Alterreal die Sache auf sich beruhen ließ. Dafür hatte seine Schwester zu viel gesehen.
Seine Welt zersplitterte, als sie seinen Armen entglitt. Wie in Zeitlupe sah er sie fallen, streckte die Arme aus und fing ihren dürren Körper auf. Krachte auf die Knie und spürte es kaum. Sah nur das Blut, das über ihre aufgeplatzten Lippen trat. Sah, wie weiß ihre Haut geworden war.
„Nicht schlappmachen!“
Es war zu leicht gewesen. Er wusste es, noch ehe sie es aussprach. „Giftkapsel“, flüsterte Liz. „Wird aktiviert, wenn … man sich zu weit … entfernt.“
Nein, nein, nein. Jetzt zitterte auch er. „Ich bring dich ins Krankenhaus.“
Sie lächelte. Versuchte es. „Du … hattest Recht …“
Er wollte aber nicht Recht haben. Er wollte, dass sie ihre neue Wirklichkeit fand, dass sie stur und hoffnungsvoll in die Zukunft blickte. „Liz …“
„Red.“ Sie hob die Hand. „Es ist … okay …“
Ihre eiskalten Finger strichen über seine Wange. „Red keinen Scheiß!“
Sie lächelte. So erleichtert, dass sein Herz zersplitterte. „Bitte … nicht ausrasten …“
Nein. Nicht die Augen zumachen. Wach bleiben. „Liz!“ Er schrie. Schrie so laut, dass alle anderen Geräusche verstummten. Die Passanten glotzten ihn an, sahen zu, wie er in den Abgrund stürzte und in der Tiefe zerschellte. „Nein!“ Jemand packte ihn an den Schultern, redete auf ihn ein. Sirenen heulten. Alles verschwamm vor seinen Augen. „Nein …“
“Die Farben sind der Ort, wo unser Gehirn und das Universum sich begegnen.” (Paul Cézanne)