Hannelies Taschau: "Landfriede"
Hannelies Taschau: Landfriede, Bielefeld: Aisthesis-Verlag 2012.
Täuschende Idylle. Hannelies Taschaus Roman "Landfriede" erscheint in einer Neuedition.
Zum ersten Mal erschien Hannelies Tauschaus Roman "Landfriede" im Jahr 1978. Damals wurde er als ein literarisches Meisterwerk gefeiert. Die Autorin hatte einen zeitgemäßen Anti-Heimatroman geschrieben. Einen, der mit der rustikal-plebejischen Ästhetik eines Xaver Kroetz nicht viel gemein hatte. Weil der gesellschaftliche Wandel den ländlichen Raum auch in Westfalen längst erfasst hatte und Pfaffen und Volksschullehrer nicht mehr den kleinstädtischen Lebensrhythmus bestimmten, verlegt die Autorin das Setting des Buches in die "neue" Provinz, ins Milieu der Neubaugebiete, und schaut ihrer jungen Protagonistin Anne über die Schulter, die es unfreiwillig dorthin verschlagen hat und die sich in der nur vermeintlich heilen Kleinstadtwelt recht bald wie ein Alien fühlt. "Landfriede" ist aber nicht nur ein Roman über die Doppelbödigkeit moderner ländlicher Idylle, sondern bildet am Beispiel der geschilderten Stadtflucht den gesellschaftlichen Zeitenwechsel ab, der sich zutrug, als die Träume der Siebziger Jahre begraben wurden, als ein schleichender Anpassungsprozess und ein Rückzug ins Private einsetzte.
Mit ihrem Lebensgefährten Schrager, einem Studienrat, ist Anne, die Journalistin, in der westfälischen Provinz gestrandet. Während er die neue Umgebung zu schätzen lernt, erliegt Anne einem Neubausiedlungs-Koller. Unbehagen mündet in Apathie: Antriebslos verlebt Anne ihre ersten Sommermonate in der Provinz, zieht sich zurück und vernachlässigt ihre journalistischen Projekte, dämmert schließlich einer sozialen Verwahrlosung entgegen. In den leeren Vormittagsstunden, wenn Schrager unterrichtet und sie mit ihrer Zeit nichts anzufangen weiß, beobachtet sie - anfänglich aus Langeweile, bald obsessiv - das nachbarschaftliche Leben um sie herum: das morgendliche Sonnenbad der Ehefrauen, die lüsterne Baukolonne, den ehemals politisierten Nachbarsjungen, der aus Perspektivlosigkeit den Drogen verfällt. Mit dem "Landfrieden" ist es nicht weit her und in der provinziellen Komfortzone läuft einiges schief. Kaputte Ehen, gescheiterte Lebensentwürfe prägen das Bild. Wer anders ist, wird ausgegrenzt. Das zeigt das Beispiel des Nachbarsjungen. Und auch um die Geschlechterverhältnisse ist es nicht gut bestellt. Anne erfährt es am eigenen Leib. Schrager, der Entscheider, bestimmt in der neuen Umgebung fortan die Beziehungsgeschicke, agiert zuerst als nachsichtiger Pädagoge, der er ist, verliert aber endlich die Geduld, denn Anne gefährdet sein mühsam erarbeitetes Standing in der Kleinstadtwelt.
Dass Buch erzählt uns, dass in der Provinz äußerlich vieles im Wandel begriffen ist, dass Wohnkomfort und Bildungsniveau steigen, Konformität und Engstirnigkeit aber wie eh und je den Alltag regieren. Und dass die ehemaligen Revoluzzer, wie Schrager selbst einer war, sich aus Karrieregründen, aus Pragmatismus mit den Verhältnissen arrangieren. Erzählt wird Annes Entfremdungsprozess mit Film-erprobten Mitteln. Einer Kamera gleich erfasst die Autorin die Gesichter und Gesten, betätigt den Zoom, fängt die Sommerszenerie in der Siedlung ein und schweift - als enthielten sie ein Freiheitsversprechen - über die wogenden Kornfelder am Dorfrand. Obgleich die Sprache des Romans immer dem Minimalismus frönt und Coolness atmet, faszinieren die grobkörnig wirkenden Bilder, die in der Erinnerung haften, auch weil man die in ihnen aufgehobenen Stimmungen mit allen Sinnen nachzufühlen meint. Der Autorin gelingt es so, den "Hundstagen" im vergifteten Provinzmilieu, einen poetischen Mehrwert abzutrotzen. Man denkt an den romantischen Realismus jüngerer Kinoproduktionen, an Filme von François Ozon, Christian Petzold und Thomas Arslan.
"Landfriede" ist deshalb ein wichtiger und noch heute lesenswerter Roman, weil er ein genaues Sittenbild der ausgehenden Siebziger Jahre zeichnet. Mit soziologischer Genauigkeit schildert Taschau eine Zeit, in der die politische Aufbruchsstimmung der letzten Dekade verpufft war und ein neuer Konservatismus Einzug erhielt. Und in der die gesellschaftliche Modernisierung auch die ländlichen Randgebiete erfasste, in denen sich neue Milieus einer aufstiegswilligen Kleinbürgerschicht bildeten.
Steffen Stadthaus