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Rezension vom 19.09.2015 (5)
Worum geht's?
Die junge Martina ist verzweifelt im Leben gestrandet – ihr Job als Reinigungskraft in einem Hotel ist entwürdigend und wenig rentabel, die kleine Wohnung wird ihr gekündigt und ihr Elternhaus bietet keinen Zufluchtsort mehr. Wohin und was tun? Gerade als sie sich dieser Frage stellen muss, läuft ihr eine alte Freundin über den Weg, die sie prompt einlädt auf Gut Glimmenäs zu übernachten. Therese, genannt Tessan, ist zufrieden mit ihrer Arbeit auf dem herrschaftlichen Anwesen, kümmert sich dort um die 87-jährige Florence Wendman und erhält neben ihrem Lohn noch Taschengeld und kostenlose Unterkunft.
Die Diplomatentochter Florence ist rüstig aber auch etwas wunderlich, denn ihre innere Uhr ist im Jahr 1943 stehengeblieben und so kommt es, dass ihre Angestellte Tessan die Kleider aus den 1940er Jahren trägt, regelmäßig Feste mit Ehrengästen organisiert, die niemals kommen werden, weil sie bereits verstorben sind.
Fasziniert und eingenommen von der surrealen Atmosphäre des Guts und mangels Zukunftsperspektive, willigt Martina bereitwillig ein, die Stelle der persönlichen Sekretärin zu übernehmen, als Florence ihr dieses Angebot unterbreitet. In träumerischer Abgeschiedenheit gehen die beiden jungen Frauen fortan ihrem Alltag auf Glimmenäs nach, die finanziellen Sorgen rücken fernab, die Zeit scheint stillzustehen, die Idylle ist perfekt. Nach einer Weile gesellen sich auch noch ein junges Mädchen und zwei Männer zu ihnen, sie alle sind an der Gesellschaft gescheitert und in Not, sie alle bekommen Arbeit von Florence und leben dankbar das Rollenspiel auf dem Gut, zufrieden mit der Sorglosigkeit und dem Gefühl, gebraucht zu werden und eine Aufgabe zu haben.
Doch dann geschieht ein Unglück und die Seifenblase droht zu zerplatzen. Die jungen Leute versuchen verzweifelt ihren Rückzugsort zu schützen und geraten dabei immer tiefer in einen gefährlichen Sog der Gruppendynamik. Wie weit werden sie gehen, um ihren Traum zu bewahren?
Leseeindruck:
Der schwedische Originaltitel "Skymningslandet" (übersetzt "Im Land der Dämmerung") ist ebenso passend wie der gewählte deutsche Titel "Der unsichtbare Gast". Die Bedeutung erschließt sich dem Leser erst nach der Lektüre vollständig.
In einer anderen Buchbesprechung las ich einen interessanten Bezug, in dem auf die Novelle "Im Land der Dämmerung" von Astrid Lindgren verwiesen wurde. Hier geht es um den kleinen Jungen Göran, der schwer erkrankt und nicht mehr laufen kann, doch diesem Schicksal mittels einer Traumwelt, dem Land der Dämmerung, entflieht. "Hier ist alles anders und wunderbar, und es spielt überhaupt keine Rolle, dass Göran nicht laufen kann: Jetzt kann er fliegen!" Inwiefern Marie Hermanson durch diese Novelle inspiriert wurde und ob überhaupt, kann ich nicht beurteilen, doch zeigen sich durchaus Parallelen zu ihrem Roman, denn auch Gut Glimmenäs stellt eine derartige losgelöste Traumwelt dar.
"Die Blätter des Efeus bedecken die Fenster, in diesem grünen Licht sieht der große Salon aus wie ein Aquarium. Die keinen Haftwurzeln an den Unterseiten der Stiele suchen, tastenden Tausendfüßlern gleich, vergeblich Halt auf den Scheiben."
"Der Geruch des Speisesaals war der speziellste: dumpf und sinnlich zugleich – altes Holz, alter Zigarettenrauch und noch etwas Undefinierbares, das ähnlich einem Musikstück einen Punkt tief in meinem Innern berührte."
Der Schreibstil ist eingehend, sehr flüssig und doch irgendwie nüchtern, zwischen den Zeilen schwingt durchaus Gesellschaftskritik und Moral mit, doch wirkt dies stets unterbewusst auf den Leser. Kennzeichnend und wie ich finde eine der Stärken des Romans, ist das unterschwellig drohende Unheil, das permanent und von Anfang an über allem schwebt. Bereits das erste Kapitel verweist auf einen furchtbaren Ausgang und der Leser begibt sich mit einem unguten und beklemmenden Gefühl in die Hand der Autorin und in den Sog einer teilweise verstörenden Geschichte.
Die Protagonistin Martina erzählt aus der Ich-Perspektive von den Geschehnissen. Sie ist zweiundzwanzig Jahre jung, teilweise naiv und gutgläubig. Sie besitzt Moral und – ganz typisch für dieses Alter – ist sie einerseits voller Tatendrang und sich für keine Arbeit zu schade, andererseits aber auch passiv und unfähig, ihren Gefühlen und Ängsten Ausdruck zu verleihen.
"Ich lächelte sie mit zusammengekniffenen Lippen an und versuchte vernünftige, erwachsene Gedanken zu denken: Es kommt der Tag, da hat man keinen Zugang mehr zum Zimmer der Kindheit. Zu diesem wunderbaren, sorgenfreien Platz voller Spiele und Vergnügungen und bedingungsloser Geborgenheit. Eines Tages gibt es das nicht mehr, das wusste ich doch."
Noch nicht ganz Frau aber auch kein Kind mehr, ist sie anfällig für Manipulation. Und das ist ein weiteres zentrales Thema in dem Roman. Auf dem Gut treffen nicht nur fünf völlig verschiedene Charaktere aufeinander, sondern hinzu kommt noch eine gefährliche und verheerende Perspektivlosigkeit aller Figuren. Sie alle sind gescheitert und existenzbedroht, leben dann aber plötzlich und unverhofft den wahrgewordenen Traum einer perfekten Idylle – wie handeln sie, wenn dieser Traum bedroht wird?
Hinzu kommt ein weiterer verhängnisvoller Aspekt: Hierarchiebildung und Gruppendynamik. Die Moralvorstellungen des Einzelnen treten in der Gruppe in den Hintergrund, werden überlagert. Was jeder für sich niemals tun würde und vertreten könnte, wird zur umsetzbaren Möglichkeit. Der Leser begreift diese Dynamik, ist schockiert aber auch fasziniert und genau das ist es, was mit "Vom romantischen Märchen zum fesselnden Thriller" (Klappentext) gemeint ist. Ich hatte beim Lesen oft Gänsehaut. Schleichend und doch unmittelbar wandelt sich der träumerische Aspekt der Geschichte in einen feinen und subtilen Horror, der ähnlich einem Faustschlag in den Magen wirkt. Man ist fassungs- und sprachlos, wird mit Wendungen und den dunklen Seiten der Protagonisten konfrontiert, die man so nicht erwartet hat.
Florence ist die für mich beinahe tragischste Figur in diesem Stück, wenngleich sie streckenweise nicht im Mittelpunkt steht. Warum das so ist, möchte ich an dieser Stelle nicht preisgeben, da ich sonst dem Leser die Entdeckung dieser besonderen Geschichte vorwegnehmen würde. Soviel sei gesagt: Ihre Verschrobenheit und ihre Gefangenschaft in der Zeit sind interessant und natürlich etwas, das den Leser neugierig macht. Die Figur Florence wirft viele Fragen auf und bleibt bis zuletzt ein Rätsel. Warum ist ihre innere Uhr stehengeblieben und wie viel nimmt sie von der Realität wirklich wahr? Ihr Alltag ist von der Zeit bestimmt, sie ist umgeben von tickenden Uhren und alles findet nach einem festen Zeitplan statt.
"Diese Uhrzeiten. Ich lernte bald, dass der Tag auf Glimmenäs von Uhrzeiten bestimmt war."
Welche Bedeutung haben die Menschen um sie herum? Weiß sie um ihre Perspektivlosigkeit und bietet sie Ihnen deshalb eine Zukunftsaussicht oder nutzt sie die jungen Menschen für sich aus?
"Sie benutzte uns als Schauspielerinnen in einem Stück, das ihr Leben war. Und wir spielten mit, weil wir dafür bezahlt wurden."
Dabei beweist die alte Dame in all ihrer Verrücktheit erstaunlich gute Menschenkenntnis und Intuition, wählt sie doch die Aufgaben für ihre Angestellten exakt dem Charakter entsprechend aus: Pontus – selbstsicher, charmant und zielorientiert, dabei aber auch egoistisch und manipulativ. Andreas – geschickt und liebevoll im Umgang mit Menschen und Dingen. Tessan – energiegeladen und tüchtig. Judit – verloren und verletzlich. Martina – ordnungsliebend und gebildet.
Viele dieser Fragen werden geklärt und ebenso viele bleiben im Dunkeln und der Spekulation und Fantasie des Lesers überlassen, doch die besondere Atmosphäre und die düstere Geschichte hallen noch lange nach der Lektüre nach.
So ist "Der unsichtbare Gast" ein Roman, der keinem Genre eindeutig zuzuordnen ist, viele Facetten bietet und den Leser dabei von der ersten Seite an zu fesseln versteht.
Fazit:
Hermanson hat mich mit ihrer surrealen und atmosphärisch dichten Geschichte berührt und fasziniert, Florence und Gut Glimmenäs sind mir noch lange im Gedächtnis geblieben. Dieser Roman hallt nach und sticht durch seine klare und auf den Punkt genaue, bildhafte Sprache; die gut gezeichneten Figuren und das verstörende Grundthema hervor. Keine seichte Lektüre und umso mehr ein absolute Leseempfehlung meinerseits.
Rezension vom 13.09.2015 (8)
Worum geht's?
Oktober 1993 – über das verschlafene Küstenstädtchen Harting Farms in Maryland fällt ein dunkler Schatten. Kinder verschwinden spurlos und als dann die Leiche eines der vermissten Jugendlichen gefunden wird, glaubt niemand mehr an Ausreißer, denn das Mädchen wurde ermordet. Der Piper, wie der Täter nach dem Rattenfänger aus der Sage der Gebrüder Grimm genannt wird, versetzt die Einwohner von Harting Farms in Angst und Schrecken.
Angelo Mazzone (15) und seine Freunde Michael, Peter und Scott sowie der neu hinzugezogene Adrian stoßen durch Zufall auf eine Verbindung des Mordfalls mit den anderen Vermissten und beginnen auf eigene Faust zu ermitteln. Was als Spiel und mutiges Versprechen beginnt, wird schon bald zu einer gefährlichen Schnitzeljagd, bei der jeder verdächtig erscheint. Können die fünf Jugendlichen das Rätsel um den Piper lösen ohne dabei selbst ins Visier des Killers zu geraten?
Leseeindruck:
"December Park" ist mein zweites Buch von Ronald Malfi, der mir bereits mit "Passenger" positiv in Erinnerung geblieben ist. Ich wusste, dass mich ein außergewöhnlicher und atmosphärisch dichter Schreibstil erwarten würde und wurde definitiv nicht enttäuscht. Das Buch wird wie folgt beworben:
"Dieser Coming-of-Age-Thriller ist Ronald Malfis persönlichster Roman, sein Magnum Opus, in das auch eigene Kindheitserinnerungen mit einflossen. Vergleiche zu Stephen Kings 'Es' und zu Dan Simmons’ 'Sommer der Nacht' drängen sich zwar auf, 'December Park' ist jedoch frei von übernatürlichen Elementen, dennoch nicht minder schaurig."
Nun ja, das kann ich so unterschreiben, wenngleich in Dan Simmons Werk (noch) nicht kenne. Malfi hat einen sehr intensiven und einnehmenden Stil und fesselt damit unabhängig vom Inhalt seiner Geschichte den Leser. Man kann und möchte das Buch nicht aus den Händen legen, ist gefangen vom Erzählstil und fühlt sich mitten in das Geschehen hineinversetzt.
"Die Zeit selbst schien zähflüssig wie Molasse vor sich hinzusickern und selbst die Uhren schienen langsamer zu ticken."
"Und der Sommer kochte unsere Seelen."
"Unsere kleine Truppe drang weiter in den Wald vor, als sich die Wirklichkeit dessen, was wir gerade machten, wie ein eiserner Dorn tief in meine Brust bohrte."
Ein feines Gespür und ein unbestreitbares Talent besitzt Malfi bei den Beschreibungen seiner düsteren Settings. Egal ob die "Dead Woods"; dunkle Tunnel; ein altes, verlassenes Haus; ein baufälliges Eisenbahndepot oder die Ruine eines abgebrannten Instituts – hier kommen Horrorfans ganz auf ihre Kosten. Chapeau!
Ebenfalls sehr bezeichnend sind Malfis Charakterbeschreibungen, die den Figuren eine enorme Tiefe verleihen. Er lässt sich Zeit beim Ausbau seiner Charaktere, gibt ihnen Ecken und Kanten, lässt sie fehlbar und doch sympathisch erscheinen. Die Interaktion der Figuren ist authentisch und interessant. Das Gefühlsleben der Protagonisten spielt eine wichtige Rolle und besonders bei heranwachsenden Jugendlichen ist das ein durchaus interessanter Einblick, den der Autor hier gewährt.
Malfi greift bei seinem Roman auf die Ich-Erzählperspektive zurück und lässt Angelo von den Ereignissen und Vorfällen in Harting Farms berichten. Obwohl ich diese Erzählperspektive nicht sonderlich mag, ist sie hier sehr treffend gewählt, bringt sie doch dem Leser Angelo als Person näher und macht ihn so greifbarer. Zusätzlich wird so die Grundspannung erhöht, da der Leser ja stets nur eben so viel Informationen wie der Protagonist selbst erhält.
Zum Plot und Spannungsbogen lässt sich sagen, dass es für mich keinerlei Längen gab, obwohl die Geschichte sehr langsam und beinahe einfühlsam erzählt wird. Es gibt keine reißerischen Szenen, was nicht bedeutet, dass es an Spannung fehlt. Ganz dezent und doch sehr wirkungsvoll streut Malfi einzelne Szenen wie Brotkrumen ein, die den Leser mitfiebern und erschauern lassen. Das mag nicht jedermanns Sache sein und einigen dürfte diese Art des Erzählens zäh vorkommen, aber meinen Nerv hat Malfi damit getroffen. Geschmackssache eben.
Es gab allerdings auch für mich einige kleinere Kritikpunkte, auf die ich an dieser Stelle nur bedingt eingehen kann, um nichts von der Handlung vorwegzunehmen. Soviel sei gesagt, die Ermittlungsarbeit der Polizei erscheint doch sehr stümperhaft und damit etwas unglaubwürdig. Was die fünf Jungs angeht, so musste ich mir hier und da ein Kopfschütteln verkneifen, fehlt es ihnen doch stellenweise sehr an Reife und Vernunft, die Jagd auf den Piper betreffend. Von Fünfzehnjährigen kann man sicher schon einen realistischeren Blick und mehr Einsicht erwarten.
Fazit:
"December Park" konnte mich von der ersten Seite an fesseln – ein Thriller, den ich persönlich eher als Roman bezeichne und der mit leisen, intensiven Tönen und einem eingehenden Schreibstil überzeugt. Dennoch kommen Spannung und auch dezenter Horror nicht zu kurz.
Malfi selbst sagt über sein Werk: "This novel was very autobiographical for me and much of Angelo's character is based on myself. I was around that age in the '90s and so this novel was sort of a love letter to my childhood, my old friends, and all the things I loved as a kid."
So ist es also auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden, tiefe Freundschaft und Verbundenheit, die Suche nach Antworten und das Finden der eigenen Persönlichkeit. Wer sich auf diese "Liebeserklärung" einlassen kann, wird belohnt werden – garantiert.
Rezension vom 13.08.2015 (12)
Worum geht´s?
Antriebslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Langeweile bestimmen den Alltag der jungen Kim. Ihr Zuhause ist trostlos und leer, die Mutter zeigt nur wenig bis kein Gefühl, ihr Vater ist schon lange verschwunden, sein Schicksal unbestimmt. Bei ihrer Clique, bestehend aus Nico, Benni und Lena findet sie eine Art Familienersatz. Gemeinsam lungern die vier bei Mehmets Dönerbude herum, immer auf der Suche nach Farbigkeit in ihrer tristen Eintönigkeit des Lebens. Sie alle tragen Ballast mit sich und streben nach dem Besonderen. Eines Tages hat Kim dann einen speziellen Einfall – es sind Emotionen, die sie vermisst, also warum nicht gezielt nach ihnen suchen, sie mit der Kamera einfangen und konservieren, um die innere Leere zu füllen. Die Idee ist geboren: Emotion Caching – Gefühle sammeln.
Und was scheinbar harmlos beginnt, wird zur Obsession für die vier jungen Leute. Wie eine Droge, von der man nicht genug bekommen kann, nimmt das Spiel immer perfidere Formen an und entwickelt eine gefährliche Eigendynamik.
"Wir brauchen explodierende Emotionen voller Leidenschaft: Freude, Trauer, Hass, Entsetzen, Verzweiflung ... Angst ..." (Zitat / S. 46)
Leseeindruck:
"Emotion Caching" ist mein zweiter Roman von Heike Vullriede (ihr Debüt "Der Tod kann mich nicht mehr überraschen" ist bereits bei mir eingezogen und wird in Kürze gelesen). Bereits "Notizen einer Verlorenen" hat mich stark beeindruckt, weshalb ich sehr gespannt auf ihr neuestes Werk war. Was verbirgt sich hinter dem eingängigen Titel und dem auffälligen Cover, das ein im wahrsten Sinne des Wortes Eyecatcher ist und mich sofort angesprochen hat?
Betitelt ist ihr Buch mit -Thriller- aber wie vermutet steckt mehr als nur der gewohnte Einheitsbrei dahinter. Wer ein Buch von Heike Vullriede liest, muss mit starken Gefühlen rechnen, in diesem Fall ist auch das wörtlich zu nehmen.
Die Idee hinter der Story ist besonders und das obwohl sie eigentlich naheliegt und leider sogar tagtäglich zu beobachten ist. Voyeurismus und der leichtfertige Umgang damit ist ein Phänomen, das in unserer heutigen Gesellschaft dank YouTube, Instagram, Twitter und Co. weit verbreitet ist. Egal ob Autounfall, Schlägerei oder das lustige Katzenvideo – es gibt Nichts, dass man nicht online finden kann. Jeder hat ein Smartphone und jeder knippst und filmt drauf los.
Nun, "Big Brother is watching you" heißt es so schön und jeden von uns kann es treffen, oft sogar ohne unser Wissen.
Doch das ist nur ein Grundgedanke, den die Autorin in diesem Buch aufgegriffen hat. Es geht auch um fehlgeleitete Jugendliche und den schmalen Grat, auf dem sie wandeln; um echte und vermeintliche Freundschaften; um Gruppendynamik; um harmlose Absichten und dem unkontrollierten Entgleisen dieser; um Meinungsbildung und Schubladendenken; um Zivilcourage und dem Unterlassen eben dieser und letztlich natürlich auch um Gewalt – psychischer und psychologischer.
Die Themen, die die Autorin in ihrer Geschichte miteinander verwoben hat, sprechen den Leser an, sind sie doch aktuell und stets präsent. Dennoch bleibt sie wertfrei und überlässt es dem Leser, Stellung zu beziehen und das eigene Tun zu hinterfragen. Das hat mir ausgesprochen gut gefallen.
Ihre Figuren baut Vullriede mit viel Feingefühl auf. Sie findet hierbei einen guten Mittelweg, lässt sich Zeit – schafft aber keine unnötigen Längen, treibt die Handlung voran – schärft gleichzeitig weiter die Konturen ihrer Charaktere. Gerade bei jugendlichen Protagonisten mit ihren Problemen der Pubertät ist es schwierig nicht in Klischees abzudriften, einige Male ist die Autorin haarscharf daran vorbeigeschlittert, hat aber den Bogen nicht überspannt und so die Glaubwürdigkeit gewahrt. Die Figuren sind überzeugend, greifbar und erschreckend real. Ihre Entwicklung ist im Rahmen der Handlung nachvollziehbar und unterliegt einem steten Fluss.
Die Herausforderung bei "Emotion Caching": Immer wieder bedarf es Pausen bei der Lektüre, um das Gelesene richtig wirken lassen zu können und zu verdauen. Und dennoch muss man schnell weiterlesen. Es ist wie bei einem Unfall – einerseits will man die Tragödie nicht sehen, andererseits will man aber auch stehenbleiben und hinschauen. Diesen Widerspruch empfindet man hier ständig und das kostet Kraft, löst die ganze Palette der Gefühle beim Leser aus. Es ist fast so, als spiegelte der Titel nicht nur den Inhalt, sondern direkt auch die Wirkung auf den Leser wider.
Der eingehende und bildhafte Schreibstil verstärkt die Wirkung des Inhalts noch zusätzlich. Vullriede packt den Leser mit Worten, rüttelt ihn auf, lässt ihn reflektieren und entlässt ihn dann völlig erschöpft aus der Geschichte. Hat man das Buch dann zugeschlagen, trägt man die Story noch eine ganze Weile mit sich, sie hallt nach und entfaltet erst später ihre volle Wirkung. Es gibt nur ganz wenige Autoren, die das bei mir schaffen – Heike Vullriede ist definitiv eine davon.
"Durch ihre Adern floss schon so lange kaltes Blut, dass sie nicht einmal wusste, wo und wann sie die Wärme gelassen hatte, die einen Menschen zu einem wirklich fühlenden Menschen machte." (Zitat / S. 19)
"Was Kim sich auch abrang, ihre Mutter Sofie blieb ein Eisberg, an dem Kims aufkeimende Gefühle langsam, aber unaufhaltsam aufrissen und schließlich untergingen. Kim war das auslaufende Schiff und aus Sofies Gesicht wehten ihr nüchterne, kühl berechnete Worte wie ein arktischer Wind entgegen." (Zitat / S. 50)
"Überall war sie mit dabei gewesen, hatte nichts wirklich getan und doch alles geschuldet." (Zitat / S. 278)
Fazit:
"Emotion Caching" ist ein in jeder Hinsicht besonderer Thriller, der eine interessante Geschichte spannend und schockierend realistisch wiedergibt. Dabei durchlebt der Leser eine Achterbahn der Gefühle und noch lange nach der Lektüre einen intensiven Nachhall von Emotionen.
Dieses Buch ist besonders und deshalb gebe ich 4 von 5 Sternen sowie eine uneingeschränkte Leseempfehlung.