«1984»Orwell ist eine praktische Allzweckwaffe

Ein Mann, ein Slogan: Vieles an Trump erinnert an George Orwells Dystopie. Doch dieser Vergleich hilft nur bedingt. (Bild:Dermot Tatlow / Panos)
Sind die USA von 2017 die Verwirklichung der Gesellschaft von 1984, wie sie George Orwell siebzig Jahren skizzierte? Viele scheinen dies zu glauben. Seit Donald Trumps Amtseinführung steht das gleichnamige Buch jedenfalls an der Spitze der Amazon-Charts und darf in den Debatten weder in den USA noch in Europa fehlen. Im «New Yorker» erklärte sich der amerikanische Essayist Adam Gopnik gar zum Konvertiten: Er habe immer geglaubt, Orwells Ozeanien sei «zu brutal, zu atavistisch» gewesen, um wirklich realistisch zu sein, das Buch «zu beschränkt in seinen Vorstellungen vom autoritären Staat und von den ihm hilflos ausgelieferten Bürgern.» Die letzte Woche habe ihn eines Besseren belehrt.
Aber wenn ein Text zum Buch eines bestimmten historischen Momentes erklärt wird, dann ist Vorsicht geboten – zu simpel sind oft die Analogien, zu gross die Gefahr, anhand des Textes den historischen Moment misszuverstehen. Genauer hinsehen lohnt sich.
Lügenkreislauf
Orwell ist ein Klassiker im schlechtesten Sinne: viel zitiert, aber längst nicht immer gelesen. Ein bisschen passt er immer, wenn’s um Politik und Sprachregelungen gehen soll. Im Englischen ist «orwellianisch» als Prädikat ungefähr so beliebt wie «kafkaesk» – und beide Adjektive beschreiben so viel in unserer Welt, dass sie Präzision einbüssen. Orwells Wortschöpfungen veranschaulichen unsere modernen Diskurse so gut, dass sie riskieren, Allzweckwaffen zu werden, mit denen man prinzipiell alles angreifen kann und alles gleichmacht. Werden sie dem Ausserordentlichen, das sich vor unseren Augen abspielt, noch gerecht?
Die Invektiven gegen Hillary Clinton während der Wahlkampfauftritte schienen in der Tat fast abgekupfert von den ritualisierten «Hassminuten» gegen den Trotzki-ähnlichen Gegenspieler von «Big Brother», Emmanuel Goldstein. Kellyanne Conways «alternative Fakten» schienen von Orwells «Neusprech» inspiriert. Für den Essayisten Gopnik liegt Orwells Grundeinsicht darin, dass Lügen so häufig wiederholt werden können, bis sie sich durchsetzen: «Sie zu bekämpfen, ist nicht einfach gefährlicher, sondern erschöpfender, als sie einfach nachzubeten.» Wäre der Trumpismus also im Kern ein Kollektivismus der Erschöpfung, wären die immensen Affekte, die er freisetzt, also bloss Sekundärerscheinungen?
Trumps Politik ist tribalistisch. Ihre Prinzipien – was er befürwortet, wogegen er ist – sind nicht irgendwie universell begründet, sondern hängen ab von der Identität dessen, auf den sie angewandt werden. Dieselbe Handlung kann bei Trump Zeichen der Schwäche oder der Stärke, des Verrats oder der Treue sein. Auch dies finden wir in Orwells fiktivem Einparteistaat. Dort existiert der Begriff des «Schwarzweiss», der, je nachdem, gegen wen er verwendet wird, sein eigenes Gegenteil bedeutet: bei Gegnern die schamlose Unterstellung, schwarz sei weiss (Landesverrat), bei Parteimitgliedern die loyale Bestätigung der Direktive, dass schwarz weiss sei (Parteitreue).
Obszöner Spass
Andererseits zeigt sich gerade beim Gruppendenken ein wichtiger Unterschied zwischen Orwells Vision und unserem historischen Moment: Das Kollektive spielt eine völlig andere Rolle. Dies nicht nur, weil Trump mit Führerkult statt Parteidisziplin aufwartet, weil mithin sein Charisma auf Disziplinlosigkeit fusst (oder jedenfalls zu fussen scheint). Seine Wähler selbst sind vereinzelt und arbeiten mit ihrer Bewunderung für den erfolgreichen Trickser und Schwindler, der nun Präsident geworden ist, höchst individuelle Sorgen und Neurosen auf.
Man könnte sagen: Ihre Verehrung ist ein Echo seines Chaos. Anders als Big Brother legitimiert Trump nicht die Disziplinierung der Masse, sondern deren Disziplinlosigkeit. Seine Fans bekunden dementsprechend weniger Freude am Neusprech, auf den sie sich ohnehin nie einigen können, als vielmehr an den Hassminuten.
Trump-Wähler zu sein, muss einen geradezu obszönen Spass machen: Trumps Trolle auf Twitter, seine Getreuen bei den öffentlichen Auftritten, sie wirken nicht unbedingt glücklich, aber sie strahlen eine Schadenfreude und Häme aus, die wie echte Lust wirkt. Sie geilen sich auf an dem Unbehagen, das sie bei den Linksliberalen, den Sozialdemokraten, den Gutmenschen, den Nichtweissen auslösen. Orwell, ganz Brite, vernachlässigt das Lustelement an der Kollektivität total. Und das ist der entscheidende Unterschied: Dass unsere Mitbürger nicht aus Angst oder Panik hinter den Rattenfängern herziehen, sondern weil es ihnen Freude bereitet, diese erschreckende Wahrheit verstellt Orwell.
Alles ist freie Meinung
Inwieweit sie ihrem Idol wirklich Glauben schenken, ist dabei unklar. Der Journalist David Klion hat bemerkt, dass Trump sich wie Putin in einer Grauzone einzunisten versucht: zwischen nachweislichen Fakten und dem «Gespür, wie das Regime funktioniert.» Das erschwert Journalisten die Arbeit, weil sie entweder Spekulationen drucken oder das Offensichtliche ignorieren müssen. Trumps Wähler zelebrieren nun genau dieses Spiel: Sie gehorchen der Logik der Internet-Chatrooms – wo sie gleichzeitig Gegner mit Gaskammern bedrohen und den Holocaust leugnen.
Das Schlimme an 2017 ist also nicht, dass einem Unwahrheit als Wahrheit aufgezwungen wird, sondern, dass jedwede Wahrheit als unwahr verkauft wird.
Ihr Doppeldenk ist reine Machtpose, ihr Vokabular trieft von Häme: Die Gegner sind «Schneeflocken» oder «Cucks», «Libtards» und «Feminazis». Ihr Vokabular basiert nicht auf Euphemismen, sondern auf Sadismen. Und anstatt dass sie Fakten leugnen würden, erfinden sie einfach neue dazu, die gar keine sind. Denn ihr «Gaslighting» ist eben nicht dasselbe wie Neusprech. Die berühmt gewordenen Mottos der Partei in «1984» – «Krieg ist Frieden», «Freiheit ist Sklaverei», «Unwissenheit ist Stärke» – zielen ja nicht auf darauf ab, dass nichts mehr irgendetwas bedeutet, sondern erzwingen vielmehr eine Umdeutung des Offensichtlichen. Die Neoautoritären hingegen folgen eher dem alten Nietzsche-Satz, dass die Wahrheit «ein bewegliches Heer von Metaphern» sei.
Das Schlimme an 2017 ist also nicht, dass einem Unwahrheit als Wahrheit aufgezwungen wird, sondern vielmehr, dass jedwede Wahrheit als unwahr verkauft wird. Nicht, dass die Meinungen nicht frei sind, sondern, dass alles als freie Meinung firmiert. Winston Smith spült unliebsam gewordene Artefakte der Geschichte ein «Memory Hole» hinunter – in unserer Gegenwart werden dagegen die Fakten in einer Flutwelle «alternativer Fakten» ersäuft.
Orwell ist somit zwiespältiger Proviant für eine Reise, die ein Verständnis der amerikanischen Gegenwart zum Ziel hat: weil er sich einen dermassen grenzenlosen Zynismus, wie ihn sowohl Trump als auch die, die ihn zu normalisieren suchen, an den Tag legen, nicht einmal ansatzweise vorstellen kann. Weil er meint, dass die Wahrheit, für die sich Winston zu interessieren beginnt, tatsächlich noch Sprengkraft entfalten könnte. Hat sich an Trump in den letzten Monaten nicht ein beispielloses Pathos der Demaskierung ausgetobt? Und hat ihm je eine Entlarvung geschadet?
Das bedeutet nicht, dass man «1984» heute nicht lesen sollte – in vielem ist der Roman beklemmend aktuell. Aber in vielerlei Hinsicht hilft er uns gerade, die Geschehnisse misszuverstehen. Orwell schrieb mit dem Furor des Humanisten gegen Stalinismus an. Dieser erscheint in «1984» – anders als zum Beispiel in der «Farm der Tiere» – monolithisch, lückenlos, allmächtig. Selbst Winston Smiths Auflehnung stellt sich als Trick des allumfassenden Systems heraus. Der Einparteistaat erlaubt kein Entrinnen.
Das macht das Buch in dem Moment, in dem es einen drohenden Autoritarismus zu verhindern gilt, zu keiner hilfreichen Lektüre. Vielleicht wäre Sinclair Lewis' Roman «Das ist bei uns nicht möglich» von 1935 über den aufhaltsamen Aufstieg eines Diktators das bessere Buch der Stunde. Oder Friedrich Reck-Malleczewens «Tagebuch eines Verzweifelten» mit seinem seismologischen Gespür für Autoritarismus nicht als Monolith, sondern als dynamisch brodelnden Wahnsinn. Das Buch ist 2013 gerade wieder in einer schönen englischen Ausgabe erschienen. Auf Amazon rangiert es 32 790 Stellen hinter Orwell. Noch.
Adrian Daub ist Professor für Literaturwissenschaften an der Stanford University.