
Schmeckt nicht gibt's nicht
Lamia war nicht nur die Tochter Poseidons und Libyas, sondern auch eine von vielen Geliebten des Göttervaters Zeus. Aus der Beziehung entstand ein Sohn, den die eifersüchtige Hera tötete. Woraufhin Lamia sich in eine enge Kollegin der schlangenköpfigen Medusa verwandelte und voller Trauer und Wut Kinder auf vielfältige Weise tötete. Später entstiegen dem griechischen Volksglauben die Lamien, die sich, Vampiren nicht unähnlich, vom Blut junger Männer und Frauen ernährten, je nachdem welche Erscheinungsform sie gerade bevorzugten. John Keats widmete der "Lamia" ein langes Gedicht, und die Lamien versuchen Rael, den Protagonisten in Genesis´ Konzeptwerk "The Lamb Lies Down On Broadway" erst zu verführen und dann zu zerfleischen. Es gelingt ihnen nicht.
Myra Lewis hat weitaus mehr Glück mit ihren Eroberungen. Ihr letztes Opfer: Trey McAllister, den sie im beschaulichen Rockville hurtig zu ihrem hörigen Untertan macht. Neben vielen anderen, die ihren finsteren Plänen - bzw. dem, was von Myra Besitz ergriffen hat - mit Lust und Wonne Vorschub leisten möchten. Doch Trey ist etwas Besonderes. Denn mit seiner Hilfe möchte die Lamia in Bryan Smiths "Seelenfresser" den großen Bruder Jake zurück nach Rockville locken. Mit ihm hat sie ganz spezielle Pläne. Und der alkoholkranke, nur gelegentlich trockene, wenig erfolgreiche Schriftsteller macht sich auf den Weg, seinem jungen Halbbruder zu helfen. Obwohl er seiner prügelnden Mutter und dem gewalttätigen Stiefvater eigentlich nie wieder unter die Augen treten wollte.
Hätte er besser beherzigt, denn zeitgleich mit seiner Rückkehr beginnt in Rockville das große Gemetzel. Lamia läutet zur Seelenernte. Und auf dem Weg dorthin kreuzen sich die blutigen Pfade diverser Parteien.
Keats und Genesis lyrische Annäherung an das Phänomen Lamia sind meilenweit entfernt von Bryan Smiths krudem Eingeweidegemantsche. Mythologie und Geschichte interessieren ihn kaum, bestenfalls bedient er jenes Wikipedia-Rudiment, laut dem Lamia danach dürstet "zu töten, zu häuten, zu zerstückeln und zu essen". Seine Dämonin foltert und mordet, weil es ihr Spaß macht. Sie unterscheidet nicht zwischen Gegnern und Anhängern. Hauptsache, das Blut fließt in Strömen. Mal arbeitet sie allein, mal bekommt sie Unterstützung von kleinen Unterdämonen. Motivation, Hintergründe? Uninteressant.
Smith gehört zu jener Art von Autoren, die keinen großen Wert auf Dramaturgie legen. Hier entblättert sich das Böse auf den ersten Seiten, danach werden Stationen abgefertigt, Leveln von Computerspielen gleich. Ein bisschen Gekröseschmaus hier, ein paar zerplatzte Schädel dort. Dass sich Widerstand regt, wird genauso pro forma erledigt wie die wenig nachvollziehbaren Handlungen der Gefolgsleute. Menschen kommen und gehen, Dämonen ebenso. Zum Finale erfolgt der große Showdown, dessen Ausgang dann irgendwie auch wieder egal ist, so beiläufig wie das Personal entsorgt wird und alles in Schreien, Stöhnen und anschließender Stille untergeht. Danach noch die (absehbare) Schlusspointe - und fertig ist das Versatzstück eines Romans, der nur aus Versatzstücken besteht.
Abgehakt werden auch ein bisschen Gesellschaftskritik - die Oberflächlichkeit der Jugend, familiärer Terror, düstere sexuelle Obsessionen; eigentlich bräuchte es gar keine federführende Dämonin, um Rockville zum Ort markerschütternden Horrors zu machen.
Das rettet Seelenfresser auch vor der totalen Belanglosigkeit. Smith läuft immer dann zu guter Form auf, wenn er sich auf seine Protagonisten konzentriert, wenn er ihren Alltag kippen lässt. Sei es, weil er von Beginn an desaströs ist wie bei den McAllisters oder besonders, wenn scheinbar harmonisches Familienleben zur mordsmäßigen Bedrohung mutiert. Treys beste Freunde Will und Kelsey können ein Lied davon singen. Doch leider werden die Konflikte nicht spannungssteigernd ausgetragen, sondern en passant und höchst gewalttätig aus dem Weg geräumt. Zu viel Nachdenken stört den Blutfluss.
Gelungen sind auch die sarkastisch-komischen Momente des Romans. Da wird der, von recht extremen Gelüsten getriebene, Direktor der Rockville High School zum klassischen Abziehbild eines Amokläufers an der eigenen Schule - im Dienst des Guten. Während Jolene McAllister zur Ikone der dunkelsten Seite des White Trash aufsteigen könnte.
Bedauerlich, dass Smith sein Talent an eine unausgegorene Geschichte verschwendet, die zwar die Untiefen des pädophilen Voyeurismus eines Richard Laymon gekonnt umschifft, aber die Vorlagen kaum nutzt, welche die Mythologie bietet, geschweige denn die Abgründe der modernen Gesellschaft auslotet.
Stattdessen Blutwurst. Und das nicht zu knapp. Aus dem Supermarktregal, nicht von der Frischwursttheke. Und schon gar nicht vom Metzger des Vertrauens.
Seelenfresser ist das perfekte Buch für Leser, die hinter jeder Frau eine bösartige Schlampe vermuten. Sie werden Recht behalten ... und trotzdem untergehen. Den ein oder anderen Widerhaken setzt Bryan Smith dann doch.
(Jochen König, Juni 2012)
Seelenfresser
- Autor: Bryan Smith
- Verlag: Festa
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Hallo Jochen, klar, dem Einen gefällt dieses, dem Anderen etwas anderes. So ist das eben. Das unsere "Dämonin" hier den Namen Lamia trägt, sehe ich wirklich nicht so eng (hätte auch jeder andere sein können). Fakt ist jedoch, ich benötige als Leser diesen mythologischen Überbau nicht wirklich, um mich gut unterhalten zu fühlen. Mich persönlich hätte er auch eher gelangweilt (wobei auch das jeder anders sehen wird, aber ich spreche ja nicht für die breite Leserschaft). Die Frage steht natürlich auch im Raum, wie weit wollte Bryan Smith überhaupt auf diesen "Hintergrund" eingehen. Da glaube ich, sollte man aufgrund eines Namens bzw. diverser Ähnlichkeiten keine voreiligen Rückschlüsse ziehen. Kurz gesagt, was dem einen Leser als "Mittelmaß" daher kommt, hat den anderen bestens unterhalten. Bryan Smith mag nicht jedem "sein Ding" sein (soll er auch nicht), aber das ändert an meiner Meinung zum Roman nichts und meine Bewertung zur Story bleibt durchaus positiv mit blick auf mehr von Bryan Smith.
Lieber Konrad, Begriffe wie "Höhere Literatur" liegen seit Jahren auf dem Abfallhaufen der Literaturgeschichte. Zurecht. Es gibt gute und schlechte Bücher. Und mittelmäßige. Wie "Seelenfresser". Gemessen an dem Rahmen, in dem es sich bewegt. Und warum soll es "tröge", äh, dröge sein, die eigenen Vorgaben ernst zu nehmen? Wenn mich meine Geschichte nicht interessiert, warum erzähle ich sie dann? Dann verzichte ich doch lieber auf den hochtrabenden Hintergrund, wenn er eh egal ist. Ein bisschen Gemetzel bekommt jede machetenschwingende Maskenträgerin hin.
Mal ganz im Ernst, will ich in einem Horrorroman wirklich einen trögen Aufguß der Mythologie vorgesetzt bekommen? Oder will ich massiv zum mitdenken angeregt werden? Dafür gibt es bekanntlich andere Romane oder Literatur an sich zu genüge. Nein - ich will Kopfkino, ich will Action und ja, ich will Sex in diesen Storys und Bryan Smith liefert in seinen Romanen (und damit auch in Seelenfresser) genau das was ich suche. Ihn mit Richard Laymon (den ich sehr verehre) zu vergleichen kann ab einem gewissen grad jedoch nur schief gehen.
Letztendlich hat mich SEELENFRESSER mehr als gut unterhalten und das Kopfkino bestens stimuliert. Wer höhere Literatur liebt, sollte dann auch getrost zu anderen Werken innerhalb des Genre greifen. Wer aber eine bisweilen kurzweilige Achterbahnfahrt sucht, der ist mit den Romanen von Bryan Smith bestens bedient. Von mir daher locker 90° in der Bewertung.
@Alexi: Naja, ein Komplettverriss ist's ja nicht gerade ;-) Aber dein "reißbretthaft" trifft "Seelenfresser" schon sehr gut. Und deine weiteren Äußerungen bestätigen, dass ich nicht unbedignt ein weiteres Werk von Smith brauche. Für mich ist und bleibt Splatter auch ein hauptsächlich visuelles Genre, weshalb ich Filme Büchern gerne vorziehe. Eine der wenigen Ausnahmen ist Clive Barker, der auch (und vor allem) literarisch überzeugt.
Kein Bryan Smith, dafür Brett mcBeans "Motel" demnächst in diesem Theater. Das klingt vielversprerchender... Warten wir's ab.
"SEELENFRESSER" war der zweite Roman von Bryan Smith, den ich gelesen habe.
Gerade dieser hat mir zumindest durch das einweben einer leicht übernatürlichen Komponente dann zumindest 75° entlocken können...ganz so vernichtend wie Jochens Urteil ist meines dann nicht ausgefallen (Jochen, evtl. solltest Du dann von TODESGEIL die Finger lassen!)...
Die Charakterisierungen haben mir hier dann doch etwas besser gefallen, als in seinem anderen Büchern, trotzdem ist das alles recht Reisbretthaft.
Mit Splatter und Sex hält sich Smith mal wieder nicht zurück, obwohl das ganze nicht ganz so wüste Momente annimmt, wie z.B. in "VERKOMMEN". Halten wir Ihm das mal zugute.
Wer Smith unbedingt mal testen möchte, ob das was für Ihn ist, dem würde ich SEELENFRESSER noch am ehesten empfehlen...