Wer sich am ersten Weihnachtsfeiertag nach der Gans erst einmal zur Entspannung zurückziehen möchte und dafür einen schönen Zeitvertreib sucht, für den haben wir heute eine Weihnachtsgeschichte von Harry Kämmerer. Mord, Trauerhilfe, Fußball und Betriebsweihnachtsfeiern.
Ein Auszug aus Harte Hunde.
von Harry Kämmerer
München. Frühabendsonne klebt Millimeter über den Hausdächern Obergiesings. Fällt waagrecht in die Oberlichter des Hinterhofstudios der Trauerhilfe Miller. Dort zwei Künstler am Werk. Der „geile“ Andi, glühendster Sechzger-Fan aller Zeiten, blondierter Vokuhila. Stattliche Körpergröße – bescheidener Körperumfang. Ein Hauch vogelscheuchig. Sechzger-Schal gebunden wie Seidentuch.
Neben dem geilen Andi, gerade vertieft in die Mechanik des Eichensargdeckels: Diego. 1,60 groß und 1,60 Umfang, der zweitglühendste Sechzger-Fan dieses Planeten. Optisch gemischtes Doppel. Sonst Herz und Seele.
„Gegen Pauli, das war schon scheiße, gell Andi?“
„Kannst du laut sagen. Gibst du mir mal des Schminkset?“
Diego reicht ihm Puder und Quaste.
„Also, schöner wird der nimmer“, meint Andi nach ein paar Versuchen mit sehr viel Puder und Camouflage. Die zahlreichen Vulkankegel auf der grauen Haut des Horizontalen lassen sich nicht wirklich zukleistern.
„Ist er daran gestorben?“, fragt Diego
„Woran?“
„An den Pickeln.“
„Geh, Diego!“
„So fette Teile hab ich noch nie gesehen. Das ist echt krass.“
„Da musst du erst mal sein Ding sehn.“
„Kann man da auch Akne kriegen?“
„Man kann alles. Klappt das jetzt mit der Technik?“
„Logisch.“ Diego nimmt die Fernbedienung und drückt. Knirschend öffnet sich der Sargdeckel. „Muss man noch ölen.“
„Schmarrn, der Sound ist super. Passt doch voll gut.“
Diego schraubt weiter an dem kleinen Elektromotor, der für die Special-Effects sorgen soll. Er befestigt darauf eine Leuchtkugel mit bunten Dioden.
Andi legt das Schminkset beiseite und wischt sich die Hände am Kittel ab. „Hilf mir mal beim Anziehen.“
Das tätowierte haarige Monster in die Lederkluft zu zwingen, ist keine leichte Aufgabe. Zu viele Kilos beziehungsweise hautenger Dress. Verzweifelt versuchen sie, den Hosenbund über der fetten Wampe zu schließen. Tapfer tupft Andi immer wieder Eiter und Blut ab. Als sie es endlich geschafft haben, geht Diego respektvoll auf Abstand.
„Was ist los, Diego, wir sind noch nicht fertig?“
„Wenn der Knopf losschnalzt, möcht ich nicht in der Schusslinie sein.“
„Geh, Schmarrn. Komm, wir legen ihn rein.“
Gesagt, getan. Jetzt Rauchpause. Sie gehen in den Hinterhof. Winterhimmel blutorange. Es riecht nach Schnee.
Nach fünf Minuten Nikotinschwaden wie Nebel über dem Hochmoor. Inversionswetterlage.
„Wann müssen wir da sein?“, fragt Diego.
„Um zehn.“
„So spät?“
„Late Night Gig.“
„Dann können wir vorher noch zum Macky! Im neuen Kindermenü ist was von Pocahontas.“
„Mann, Diego, werd endlich erwachsen!“
„Niemals! Komm, ich hab Hunger.“
Als sie an ihre Wirkungsstätte zurückkehren, sehen sie schon von weitem den Subaru ihres Chefs Josef Miller in der Einfahrt. Auf der Heckscheibe ein großer Kleber in Neongelb: TRAUERHILFE MILLER – Eventbeerdigungen aller Art.
Und sie hören den Chef auch sogleich, als sie das Büro betreten.
„Sauber, wo kommt’s ihr jetzt her?“
„Weiterbildung. Totes Fleisch und seine Zubereitung.“
Miller sieht Andi blöd an.
„Vom Macky.“
„Na, Mahlzeit. Und, was macht unser Urga?“
„Kämpft gegen Außerirdische.“
„Lass den Scheiß, Andi. Ist die Leiche fertig?“
„Sie heißt wirklich Urga?“
„Er. Wahrscheinlich nur sein Clubname. Also, ist er fertig?“
„Logisch. Tiptop. Echte Schönheit.“
Sie gehen in die heilige Halle. Diego knipst das Licht an. Neonröhren zappen, britzeln, summen. Dann kaltes, grelles Licht.
„Wie ist der eigentlich ums Leben gekommen?“, fragt Diego den Chef.
„Schießerei. Hast du das Loch im Bauch nicht gesehen?“
„Der Andi hat ihn zurechtgemacht.“
Andi grinst. „So ein Loch ist nicht schlecht. Da hast du wenigstens keine Probleme mit den Faulgasen.“
Diego nickt nachdenklich. „Hoffentlich gibt’s heute Abend keinen Stress.“
Andi sieht ihn erstaunt an. „Wieso?“
„Na, so Clubs. Diese Gangs haben doch ständig Schießereien. Und denk mal an Mafiabeerdigungen. Wenn dann alle auf einem Haufen sind, kommen die andern und mähen sie nieder.“
„Geh Schmarrn, Diego. Lies halt ned immer die Scheiß-Krimis! Mafia!“
PENGGG!
Alle werfen sich zu Boden. Das Geschoss durchschlägt eine der Neonröhren, die – pofff! – explodiert. Feinglasregen. Das Geschoss klickert zu Boden, kommt auf dem Estrich vor Andis Gesicht zum Stillstand. Er starrt es an. Großes Kaliber. Und grinst – der Hosenknopf des bedauernswerten Ledermonsters.
Andi steht auf. „Entwarnung, nur ein letztes Salut.“ Er drückt Diego den Knopf in die Hand. „Glücksbringer.“
Miller sieht auf die Uhr. „Jetzt schleicht’s euch langsam. Pünktlichkeit ist eine Zier.“
„Hey, ist eh gleich in Deggendorf.“
„Täusch dich nicht, Andi. Der Verkehr bei Neufahrn!“
„Ois easy. Komm, Diego, Deckel drauf!“
„Oh, mei, so a Scheiß“, sagte Andi, als sie bei Fröttmaning im Stau steckten.
„Ach, ist doch ganz stimmungsvoll“, meint Diego und deutet auf die Nebenspur zu dem Laster, in dessen Fahrerkabine ein Plastikweihnachtsbäumchen hektisch die Farben wechselt.
„Entzückend. Freut sich jetzt schon. Naja, ist ja bald soweit. Uhrenvergleich?“
„Viertel vor neun. Bis zehn schaffen wir das lässig.“
Diego deutet zum Stadion hinüber, das heute blau erleuchtet ist. „Einmal Löwe, immer Löwe!“ Er lässt eine Bierflasche aufploppen. Andi zuckt kurz zusammen. Der Kronkorken zischt gegen die Windschutzscheibe und klickert aufs Armaturenbrett.
„Einmal reicht mir für heute“, meint Andi.
„Ich hab für dich auch eins dabei.“
„Lass mal. Ich konzentrier mich.“
„Jaja, Andi, pass auf, dass du keinen Geschwindigkeitsrausch kriegst.“
Andi nickt und fährt eine Autolänge vor. Dann stehen sie wieder.
Von wegen ‚lässig‘ – als sie schließlich um halb elf am Clubhaus vom Wotan Clan ankommen, wartet der Präsident der Biker schon draußen am Tor. „Wird langsam Zeit!“, raunzt er.
Andi lächelt. „Die letzte Reise ist recht weit, dafür nimm dir etwas Zeit.“
„Halt’s Maul!“
Andi bleibt professionell höflich. „Wo dürfen wir den Herren aufbahren?“
„Vor der Bar. Gerade durch.“
Sie betreten den ehemaligen Lagerraum. Ein paar disperate Sitzmöbel, ein kaputter Kicker, ein sehr alter Flipper und ein Billardtisch mit Brandflecken im geflickten Tuch. Die Bar ein aus weißen Ytong-Steinen und Riffelblechen zusammengeschustertes Designerstück zweifelhafter Handwerkskunst – vulgo: Pfusch. Aber beeindruckendes Schnapsregal. Vor dem Tresen halbnackte Muskelpakete an Leder.
„Sauber“, murmelt Diego und sieht seinen Atemwölkchen nach, die von weiß zu transparent verschwinden. Das Temperaturempfinden der Biker nötigt ihm Respekt ab. Sicher sensible Typen. Sie bauen den Sarg vor der Bar auf.
„Hey, da sieht man ja nix“, nölt einer.
Sogleich haben die Lederboys den Sarg ergriffen und auf den Tresen beordert.
Andi grinst und steckt sich eine Zigarette an. „Ihr seid’s der Boss.“
„Die Bösse“, korrigiert ihn Diego.
Donnergrollen aus sarggroßen Boxen kündigt den Beginn der Trauerzeremonie an. Die Biker nehmen Aufstellung vor der Bar. Lassen eine Gasse in der Mitte frei. Das Schlagzeug von Last Days of Walhalla zerstückelt die nikotinschweißige Kaltluft. Gesang trifft es bei den gerülpsten Versen nicht wirklich.
Ich fahre rechts, ich fahre rechts
auf Geisterfahrt, mag ich es hart
wenn es dann knallt, wird mir nicht kalt
mich macht das heiß, in echt, kein Scheiß!
auf Geisterfahrt – bin ich voll hart
wenn ich dann losheiz, hello Jenseits
wenn es dann knallt, wird mir nicht kalt
mich macht das heiß, in echt, kein Scheiß!
Tret voll aufs Gas, bin voll knallhart
Geisterfahrt, oh Geisterfahrt
Als die Musik mit einem gedehnten Röcheln, verendet, öffnet sich das Tor zum Hof. Glasige Nachtluft strömt herein. PUCCH! Explosion, noch eine, und noch eine. PUCCH! PUCCH! PUCCH! Polyrhythmisch. Eine Harley. Fehlzündungen aus schonungslos offenen Endtüten. Im Sattel: Wotan, der Club-Präsident, oben ohne, auf der Brust ein Wildschweinkopf. Als Tattoo. An der Harley ein Hänger. Darauf: ein Kasten Bier, umgarnt von einer blinkenden Lichterkette. Der Motor der Harley erstirbt mit einem dreckigen Schlurpsen, das rostige Stahltor fällt krachend zu. Diego sieht Andi fragend an. Der schaut in die Runde. Einer der Biker zwinkert frech. Andi steckt ihm die Zunge raus. Der Biker fasst sich in den Schritt und fährt sich mit der langen Zunge lasziv über die Lippen. Andi rollt mit den Augen und stöhnt leise: „Uhhh!“
El Presidente ergreift das Wort: „Brüder, einer der besten ist von uns gefahren. Urga, der Stählerne, der Härteste. Er wurde das Opfer eines hinterhältigen Hinterhalts, erschossen von feigen Feiglingen, die versuchen sich unser rechtschaffenes Geschäft unter die Nägel zu reißen. Aber Urga ist nicht umsonst in die ewigen Jagdgründe gerollt, wir werden seinen Tod sühnen! Vita brevis – Wotan longus! Wichtig ist, dass wir zusammenstehen. Und dass wir unsere wahre Gesinnung nicht durch verbotene Gesten gefährden. Der Verfassungsschutz ist überall!“
Der Präsident lässt seinen harten Blick von Mann zu Mann schweifen, bleibt bei Diego und Andi hängen. Die heben mit einem dümmlichen Grinsen die Hände. Der Präses zeigt auf Diego. Alle Augen nun auf ihn. Diego geht ein Tröpfchen in die Hose. Angst. Dann fällt Diego ein, was zu tun ist. Er nestelt die Fernbedienung aus der Hosentasche.
Jetzt ist es ganz still. Fokus auf den Sarg.
Der Deckel öffnet sich knirschend. Hakt. Diego lässt ihn wieder runterfahren, probiert es noch mal. Jetzt klappt es. Nein, was ist das?! Der Ärmel von Urgas Lederjacke hat sich am Deckel verhakt. Der Arm in der Jacke geht steif nach oben. Reflexartig zucken auch die Arme der Anwesenden hoch. 120 Grad. Zur Hallendecke. Nur der Arm des Präsidenten bleibt unten. Panik in seinem Blick. Jetzt schnalzt eine Deutschlandfahne aus dem Sarg und flattert im Ventilatorwind. Die Anwesenden stimmen die erste Strophe des Deutschlandlieds an.
Einer murmelt: „Zugriff!“
Tor fliegt auf. Rechte Arme im Sturzflug unter Kutten, Hände zücken Waffen, der Wotan Clan schwärmt aus, verschwindet hinter Paletten, Kisten, Rohren, zwischen Regalen, hinter der Bar.
Stille. – Nein, ein kurzes heiseres Zischen aus dem Sarg. Diegos Nebelmaschine pumpt einen Schwall Watteweiß in die Halle. Die Diskokugel schickt glitzernde Pailletten in das wallende Weiß.
Andi und Diego liegen flach auf dem Boden.
Jetzt hört man gar nichts mehr. Gespenstische Stille. Fast: Diego entfährt ein Angst-Schors. Kernig. Als ob ein Korken aus der Sektflasche knallt. Startschuss. Mündungsfeuer aus allen Rohren. Rattattattatatang…
Irgendwann schweigen die Waffen. Irgendwer öffnet eine zweite Tür. Ein scharfer Luftzug nimmt Nebel und Pulverdampf mit sich. Dann knipst jemand das Licht an. Die Reihen haben sich gelichtet. Der Wotan Clan ist nicht mehr. Oder zumindest sehr reduziert. Vereinzelte Lederboys wimmern, andere verhalten sich totenstill.
Bilanz: acht Leichen, vier Festnahmen.
„Wer sind Sie?“, fragt der Einsatzleiter des Spezialkommandos.
„Trauerhilfe Miller“, sagt Andi kleinlaut.
„Na, das passt doch. Da haben Sie ja gut was zu tun.“
Andi nickt betreten. Diego sieht sich immer noch staunend um, kneift die Augen zusammen und öffnet sie wieder. Ändert sich nicht – das Bild der Verwüstung bleibt.
„Was war denn das?“, fragt Andi, als sie wieder auf der Autobahn sind.
„Ein Himmelfahrtskommando.“
„Glaubst du an Reinkarnation?“
„Wer ist das?“
„Vergiss es, Diego.“
Sie fahren schweigend. Kurz vor Neufahrn. Diego hält das Lenkrad ganz locker. So locker ist er nicht. Er denkt nach. Ungewohnt. Macht er nicht oft. Er zündet sich eine Zigarette an.
Andi niest und kruscht im Handschuhfach nach Taschentüchern. Dort entdeckt er eine Lichterkette und zieht sie heraus. „Diego, sag bloß?“
„Ach, die brauchen sie doch nicht mehr.“
Andi grinst und drückt den Stecker in den Adapter am Zigarettenanzünder. Die Lämpchen blinken bunt.
„Hey, Diego. Die nehmen wir morgen mit auf die Weihnachtsfeier vom Verband. So Stimmungsbeleuchtung. Mögen die Ladys.“
„Aber wenn wir die Burschen morgen schon reinkriegen, müssen wir doch bestimmt arbeiten.“
„Woher denn. Die wandern erstmal in die Rechtsmedizin.“
„Hä? Warum?“
„Diego, die schaun nach, wer sie erschossen hat.“
„Hä?“
„Die gehen auf Nummer sicher. Dass die sich auch wirklich alle selbst über den Haufen geknallt haben.“
„Äh… Ja…, klar. Wer sonst? Sag mal, meinst du, wir kriegen dieses Jahr wieder 500 extra?“
„Logisch. Der Laden läuft doch eins a. Und warum? Wegen uns. Der Miller weiß, was er an uns hat. Aber noch wichtiger: Kommt die scharfe Lisa aus Hannover wieder auf die Weihnachtsfeier?“
„Die von Trauerhilfe Kralle?“
„Ja, Kralle kriegt sie alle.“
Sie lachen beide.
„Ist da eigentlich was gelaufen letztes Jahr?“, fragt Diego.
„Logisch. Aber so was von!“
„Andi, du Sau, jetzt fällt’s mir ein, ihr wart im Lager!“
„Logisch. Du, der Eternity deluxe, der ist echt super gepolstert. Und geräumig. Ein Riesending!“
„Geh, Andi, der Sarg heißt Friedrich der Große. Eternity de luxe, das sind nur die Beschläge. Die kannst du ja auch am Schneewittchen oder am Sisi haben. Also gegen Aufpreis natürlich.“
„Nein, das stimmt nicht. Der Miller hat gesagt, dass wir den Friedrich nimmer so nennen. Das klingt so deutsch. Wir sind ein internationaler Betrieb. Weißt scho – Expansion! Und neuer Werbespruch: Miller – mehr Sarg geht ned! Super, oder? Der Friedrich heißt jetzt jedenfalls Eternity de luxe.“
„Aha. Und die Beschläge, wie heißen die jetzt?“
„Was weiß denn ich? Jedenfalls hat der Eternity die voll super Innenausstattung – Seide, perfekt für ein bisschen Romantik.“
„Andi, du Windhund!“
„Ich liebe Weihnachtsfeiern!“
„Weißt du noch, letztes Jahr, als der Miller in den Gummibaum gekotzt hat?“
„Und sein Bruder ihm die Whiskeyflasche in der Urne versteckt hat.“
„Wahnsinn, die zwei. So krass drauf. Und wir haben so super gesungen: Last Christmas…“
„…I gave you my heart…”
Und beide: „…the very next day you gave it away…”
Diego lacht und pult den Glücksknopf aus der Hosentasche. „Wenn wir den vorhin nicht dabeigehabt hätten…“
Sie betrachten ihn und grinsen sich an.
BUMMMMM!
Ungebremst auf das Stauende.
Ein Schnipp und schon im Off.
Andi und Diego verpassen das Feuerwerk der explodierenden Weißbierflaschen, die der Laster vor ihnen geladen hat. Schade eigentlich. So ein bisschen Hawaii: Kronen süßherben Schaums fröhlich illuminiert von der blinkenden Lichterkette. Aloha!
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Die vorliegende Geschichte ist zuerst in Harry Kämmerers Kriminalroman Harte Hunde (2015, Graf Verlag) erschienen.