Wir wollen nicht von EUREN ungewählten Spinnern regiert werden, sondern von UNSEREN ungewählten Spinnern

Nächste Woche stimmen die Briten ab über den Brexit, den Ausstieg Großbritanniens aus der EU. Der Ausgang wird weltweit mit Spannung erwartet, denn im Falle eines Ausstiegs befürchten Experten vor allem wirtschaftliche Folgen. Warum der in Deutschland lebende Brite Paul Hawkins bleiben möchte und warum er trotzdem vereinzelt Verständnis für die „Leavers” hat, das erklärt er hier.

von Paul Hawkins

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Da ich als Brite im nicht-britischen Berlin lebe, ist meine Meinung zum Brexit wahrscheinlich leicht zu erraten.

Ich möchte meine Wohnung nicht aufgeben (ich habe Ewigkeiten gebraucht, um sie schön zu machen), nicht jede Menge Formulare ausfüllen müssen oder mich dazu gezwungen sehen, meine Freundin Hals über Kopf nach einem spektakulär unromantischen Brexit-Antrag zu heiraten: „Liebling, die letzten paar Jahre mit dir waren die in bürokratischer Hinsicht angenehmsten meines ganzen Lebens. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder ohne dich zu sein, wenn wir komplizierte Visa-Unterlagen übersetzen, die ich dummerweise alleine niemals verstehen würde. Würdest du mir die Ehre erweisen, dieses Standesamtdokument zu unterzeichnen?“

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Allerdings sind das nicht die einzigen Gründe. Ich genieße es außerdem wirklich, in Europa zu leben und ständig auf alle nur erdenklichen Arten von Europäern zu treffen – und das außerhalb eines Schlachtfelds. Mag die Vorstellung einer „immer engeren Union“ auch manch einen abschrecken, mir persönlich flößt es Ehrfurcht ein, dass die EU auf einem Kontinent, der bis vor kurzem eher dafür bekannt war, eine ununterbrochene 7000-jährige Kriegsgeschichte zu haben, gegenwärtig Dinge tut, wie die Gebühren fürs Datenroaming abzuschaffen. Sollte Großbritannien austreten, könnten andere Mitgliedstaaten folgen, wie Dominosteine umkippen und mit der Zeit wieder auf dumme alte Ideen kommen. Es macht mich wahnsinnig, dass es in Europa noch im Jahr, als Toy Story in die Kinos kam, Krieg und Völkermord gab.

Die EU ist vielleicht nur ein notdürftiges Pflaster, aber sie ist mir trotzdem lieber als eine Menge offener Wunden.

Und doch habe ich durchaus Verständnis für die Argumente der Leave-Kampagne, vor allem für die Sorgen der arbeitenden Menschen vor der Zuwanderung. Schließlich sind sie es, die als direkte Folge des unbegrenzten und unbegrenzbaren Zustroms ungelernter Arbeitskräfte ihre Jobs verlieren oder ihre Löhne einbrechen sehen. Sie sind am unmittelbarsten vom Binnenmarkt betroffen, und man reibt nur fieses Salz in die Wunden, wenn man sie reflexhaft als „Rassisten“ und „Little Englanders“, als engstirnige Nationalisten also, brandmarkt. Vielleicht fänden auch Sie das europäische Omelett weniger appetitlich, wenn Sie eines der Eier wären, das zu seiner Zubereitung aufgeschlagen wird.

Das EU-Referendum beruht zum Nachteil solcher Dinge wie Differenzierung, Mäßigung, Kompromiss und Konsens auf einer hoffnungslos binären Entscheidung – Ja oder Nein; Bleiben oder Austreten. Wie immer in der Politik wird darüber abgestimmt, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern zählt. Die Angelegenheit ist von Natur aus spaltend und lässt keinen Raum für jene wohlwollende und unbeholfene Höflichkeit, die sich mit dem Satz „Einigen wir uns darauf, uneinig zu sein“ umschreiben lässt und auf die britische Menschen normalerweise zurückgreifen, um durchs Leben zu kommen. Die Leave- und Remain-Streiter wurden stattdessen gezwungen, sich wie bescheuert anzukeifen, was an einen Haufen zum Leben erweckter YouTube-Kommentare erinnert.

Zum Glück war die Idee eines „unparteiischen Journalismus“ sowieso schon immer eine recht verworrene (aus welcher Perspektive sollte ein Journalist denn auch schreiben, wenn nicht von dem einen unfassbar begrenzten Standpunkt innerhalb seines voreingenommenen menschlichen Hirns aus?). Die „Leavers“ und die „Remainers“ haben also wenigstens nicht so zu tun brauchen, als seien sie etwas anderes als Propagandasoldaten ihrer Seite in einem großen twitterweiten Krieg der Worte. Deshalb wäre es von mir als Befürworter des Verbleibs (in meiner Wohnung) unhöflich, wenn ich nicht wenigstens ein paar gut gemeinte Schüsse über das Niemandsland der Neutralität abfeuern würde.

Zunächst einmal ist das wahrscheinlich beste Argument der Leave-Kampagne, dass Großbritannien dazu gezwungen worden ist, einen Teil seiner demokratischen Souveränität an Brüssel abzutreten. Das Argument lautet in etwa so: Im Zentrum der EU steht ein seltsames regierungsähnliches Etwas, das sich Europäische Kommission nennt und von Darth Juncker und einer Horde namen- und gesichtsloser Eurokraten (hier sind sie übrigens auf Wikipedia, diese bösen, zwielichtigen Anonymoiden) geführt wird, die endlose wirre Vorschriften über die gesetzlich zulässige Krümmung von Bananen aufstellen, und dem britischen Volk steht kein direktes demokratisches Mittel zur Verfügung, um diese Wahnsinnigen abzusetzen.

Ich halte das Argument, dass Großbritannien einen Teil seiner demokratischen Souveränität eingebüßt hat, für ein gutes. Es sei denn natürlich, Großbritanniens „demokratische Souveränität“ wäre einfach nur eine andere Bezeichnung für einen kunterbunten Strauß größtenteils undemokratischer Stilblüten.

Den anderen Europäern ist vielleicht nicht bekannt, dass in Großbritannien nach einem relativen Mehrheitswahlrecht gewählt wird, das auch als „First-past-the-post“-System bezeichnet wird. Ich möchte Sie nicht mit den Details langweilen, denn das Wesentliche, was Sie darüber wissen müssen, ist, dass es ungefähr so gerecht und fortschrittlich ist, wie es klingt. Wenn Sie ein Anhänger der Demokratie sind, würden Sie sich wahrscheinlich kein Wahlrecht ausdenken, bei dem der Wert jeder einzelnen Wählerstimme stark voneinander abweicht und die Stimmen, die nicht auf den Gewinner entfallen, vor die Tür gebracht und in die Tonne gekloppt werden. Letztendlich steht die Anzahl der für eine Partei abgegebenen Stimmen in kaum einem Verhältnis zu der Anzahl von Abgeordneten, die anschließend fünf Jahre lang über das ganze Volk regieren. Die letztjährigen Unterhauswahlen waren laut der Electoral Reform Society die am wenigsten repräsentativen Wahlen in der Geschichte Großbritanniens. Die Sieger (und die Leute, die aktuell das Sagen haben) brachten es mit der Unterstützung von 24 Prozent der Wählerschaft zu einer Mehrheitsregierung.

Nichtsdestoweniger sind das jetzt also nach den Spielregeln die Typen, die mit großer Freude 100 Prozent des Geldes der Wählerschaft für eine sehr, sehr teure Armada von Atom-U-Booten ausgeben dürfen, die zu buchstäblich nichts und gegen buchstäblich niemand eingesetzt werden kann, ohne dass natürlich gleichzeitig die Erde (zu der auch Großbritannien gehört) zerstört wird. Gegen das sogenannte Projekt Trident wirkt die EU-Bananen-Richtlinie geradezu edel, weise und würdevoll.

Das Oberhaus wiederum, dessen Aufgabe es ist, ein Gegengewicht zur kaum gewählten Regierung zu bilden, heißt House of Lords, und schon der Name deutet an, was es damit auf sich hat. Aus demokratischer Sicht ist das House of Lords eine Institution, der man nur im allerseltensten Fall selbst angehören kann. Auf seinen Sitzen nehmen 26 Bischöfe (!), vier Herzöge (!) und 92 (wohlgemerkt männliche) Angehörige des Erbadels Platz. Die restlichen Mitglieder der Kammer – Lords, Baroninnen, Earls, Marquis und Viscounts – sind ein Haufen bemerkenswerter Gestalten, die so klingen, als seien sie einem Game of Thrones-Flashback entsprungen. Zwar lädt die gesamte Liste zum Schmunzeln ein, meine Favoriten sind aber die Baronin Bottomley of Nettlestone, Lord Palumbo of Southwark und die Baroness Nicholson of Winterbourne („Hodor!“)

Natürlich werden diese Stützpfeiler der „souveränen britischen Demokratie“ durch eine sogenannte Queen in ihre lebenslangen Ämter gehoben. „Oh, aber was ist denn eine Queen?“, werden Sie jetzt vielleicht fragen. Na, das ist eine alte Dame mit einem äußerst exquisiten Hut, die in einem weiteren faszinierenden Akt der „souveränen britischen Demokratie“ ernannt wird. Die entscheidende Frage lautet: „Wer ist die Person, die aus der Vagina der vorherigen Dame mit dem äußerst exquisiten Hut gekrochen kam?“

Ich behaupte ja nicht einmal, dass das eine schlechte, unsinnige oder überkommene Weise ist, ein Land zu regieren. Vielleicht ist dieses System genauso gut und gerechtfertigt wie jedes andere auch, wer weiß. Ich will damit lediglich zeigen, dass das Argument, das britische Volk könne nicht damit umgehen, teilweise von nicht gewählten Leuten regiert zu werden, die kaum etwas mit seiner eigenen Lebenswirklichkeit zu tun haben, nicht frei von Ironie ist. Schließlich kennen wir seit eh und je nichts anderes.

Wenn wir schon dabei sind, hoffe ich, dass keinem die nicht geringe Ironie entgangen ist, dass gerade Großbritannien mit seiner Geschichte des British Empire jetzt jammert: „Wir wollen nicht von anderen regiert werden“. Tatsächlich scheinen einige von Großbritanniens eher verqueren Vorstellungen über seine Rolle in der Welt auf eine Art post-imperiale Katerstimmung zurückzugehen. Wir durchleben noch immer den schlaffen Morgen nach einer dekadent durchzechten Party, die wir vor ungefähr hundert Jahren geschmissen haben.

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Während unsere Flashbacks von Größe und Herrlichkeit dazu führen, dass uns mit großer Leichtigkeit über die Lippen kommt, was Großbritannien doch für ein wunderbarer Ort zum Leben ist (und das ist es wirklich), könnte das andererseits der Grund dafür sein, warum es uns schwerfällt, uns gleichzeitig vor Augen zu halten, dass Europa bekanntermaßen voll wunderbarer Orte zum Leben ist. Meiner Erfahrung nach begreifen die Briten die EU nicht als 510 Millionen Menschen, die die Freiheit haben, überall zu leben und zu arbeiten – sei es in Venedig oder Wien, Barcelona oder Budapest, Marseille oder München –, sondern stellen sie sich als 510 Millionen Menschen mit britischem Reisepass vor.

Als „Scharen“ von Migranten (der Ausdruck stammt von unserem Premierminister) in der Flüchtlingskrise mit ihrem kollektiven Gewicht Großbritannien scheinbar zum Sinken zu bringen drohten, waren die besonders hysterischen Menschen auf unserer Insel so sehr von der unübertrefflichen Anziehungskraft Großbritanniens überzeugt, dass wir – wie ein Betrunkener, der bei einem Buffet ausruft „Ich habe das Sandwich erfunden!“ – kaum bemerkten, wie sich die Migranten in aller Ruhe nach Deutschland und Schweden und zu all den anderen Orten auf den Weg machten, die ebenfalls sehr begehrenswert sind und wo man fast so gut englisch spricht wie bei uns.

Wenn ich also jemanden aus dem Leave-Lager so etwas sagen höre wie: „Wir wären besser dran, wenn wir unsere eigenen Gesetze machen könnten“, frage ich mich, wer wohl die nächste Exquisiter-Hut-Wahl gewinnen wird (Spoiler-Alarm: Charles) und ob der EU-Unfug wirklich schlimmer ist als unser eigener hausgemachter. Außerdem kommen mir diese verdammten U-Boote in den Sinn, die sündhaft teuer durch die beklopptesten Tiefen des Meeres gleiten und nur darauf warten, die Ehre eines Landes zu rächen, das zu diesem Zeitpunkt ja wohl schon nuklear von der Landkarte getilgt worden sein muss. Wenn ich daran denke, wie Großbritannien eines Tages endgültig das Leben auf der Erde beenden könnte, frage ich mich, ob wir nicht in Wirklichkeit besser dran wären mit ein bisschen mehr Verantwortung in den Händen von Belgien, Dänemark und den Niederlanden.

Ich möchte bleiben.

 

Illustrationen von Paul Hawkins


 

 

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