Am 19.September beginnt in New York der erste UN-Gipfel zu Flüchtlingen und Migration auf der Ebene der Regierungschefs und Staatsoberhäupter. Hier will man eine gemeinsame Erklärung zum Umgang mit Flüchtlingen und ihrem Schutz vorbereiten. Der Blick auf die Situation in Herkunftsländern wie Afrika kommt dabei bislang oft zu kurz, meint auch Propyläen-Autor Asfa-Wossen Asserate: Es müsse viel mehr gegen die Fluchtursachen getan werden.
Interview mit Asfa-Wossen Asserate
Prinz Asserate, Sie sind selbst Flüchtling in Deutschland gewesen, mit einer ganz persönlichen Fluchtgeschichte, das beschreiben Sie gleich zu Beginn Ihres Buches. War das einer der Gründe, nun ein Buch über „Die neue Völkerwanderung“ zu schreiben? Wie unterscheidet sich Ihre eigene Geschichte von der Situation heutiger Flüchtlinge?
Also, um Ihnen mal das Szenario zu geben, wie Deutschland und Europa aussahen, als ich zum Flüchtling wurde: damals, wir schreiben das Jahr 1974, hatten wir in der ganzen Welt acht politische Flüchtlinge aus Äthiopien. Acht! Jeder äthiopische Student kannte sie beim Namen. Man muss das sagen, um zu verstehen, was in den letzten 40 Jahren passiert ist. Heute gibt es in der ganzen Welt über 2,5 Millionen Flüchtlinge aus der Region. Wenn wir uns dann fragen, was ist denn da passiert? Nur anhand von Äthiopien ist die Antwort: Wir haben eine kommunistische Diktatur hinter uns und wir haben diese jetzige Regierung, deren ganzes Konzept auf einer ethnozentrischen Politik basiert und dazu beiträgt, dass hunderttausende von Äthiopiern ihr Land verlassen haben.
Wenn ich noch eine Bemerkung machen darf: Es ist ja wunderbar, dass sich jetzt die Staatschefs in NY treffen. Es ist unglaublich, aber bis zum heutigen Tag hat es keinen Gipfel der afrikanischen Führer bei der Afrikanischen Union gegeben, der sich dem Thema Flüchtlinge gewidmet hat! Es ist das Hauptthema und trotzdem hat man das nicht für wichtig genug gehalten, dass man in Afrika selbst eine solche große Zusammenkunft anberaumt.
Das führt zur Frage nach der Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Angela Merkel hat im Juni diesen Jahres auf dem Wirtschaftstag der CDU in Berlin gesagt „Wir müssen uns mit Afrika beschäftigen“. Sie liefern in Ihrem Buch viel Hintergrundwissen zur Situation in den afrikanischen Herkunftsländern vieler Flüchtlinge und Migranten. Müssen wir den Blick stärker von unseren eigenen Problemen mit den Flüchtlingen verlagern auf die Herkunftsländer, um besser mit der Flüchtlingsproblematik umgehen zu können? Stichwort: Fluchtursachen bekämpfen?
Absolut, und das sage ich schon seit dreißig Jahren, das ist überhaupt das A und O. Aber: das, was man versucht, in den letzten Wochen und Monaten als Antwort auf die Fluchtursache darzustellen, ist meiner Meinung nach vollkommen absurd. Man versucht jetzt, Zentren aufzubauen, in Nordafrika und auch an anderen Orten, und man hat schon drei Milliarden Euro dort zur Verfügung gestellt, um die afrikanischen Gewaltherrscher dafür zu belohnen, dass sie die Menschen, die sie in die Flucht getrieben haben, wieder aufnehmen, wenn Sie hier kein Asyl bekommen haben. Nun stellen Sie sich mal vor, ich verlasse ein Land, weil ich dort nicht mehr atmen kann, weil meine Rechte mir nicht gegeben sind, weil ich verfolgt werde. Ich komme nach Deutschland, man sagt: „Du kommst aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland“ – und wie sicher diese Länder übrigens sind, weiß nur der liebe Gott, denn bis jetzt sind schon so viele Länder, die wahrlich nicht sicher sind, als sichere Herkunftsländer bezeichnet worden, dass man auch darüber mal einen Dialog führen könnte – aber auf jeden Fall werde ich dann wieder dem Menschen ausgeliefert, der die Ursache meiner Flucht war. Der zweite Satz, der dann kommt und an den dortigen Herrscher gerichtet wird: „und Sie versprechen mir natürlich, dass Sie diesem Mann nichts antun“. Was ist das für eine Absurdität? Natürlich wird er mich sofort, wenn er die Möglichkeit hat, und nachdem er die Gelder aus Europa kassiert hat, ins nächstbeste Gefängnis stecken. Das ist nicht der Weg!
Das heißt, die Ansätze der Zusammenarbeit zwischen Europa und einigen Ländern Afrikas, um die Flüchtlingsproblematik in den Griff zu bekommen sind für Sie fragwürdig?
Die sind absolut fragwürdig und werden bestimmt zu nichts führen. Wir würden die ganze Sache nur komplizieren und keine Antwort auf die eigentlichen Probleme bekommen, die der Flüchtlingsproblematik zugrunde liegen. Ich wünschte mir, man würde diese 3 Milliarden Euro dafür einsetzen, auf der einen Seite wirklich große Institutionen ins Leben zu rufen, sogenannte Think Tanks, die sich einzig und allein mit der Frage befassen: Was sind die Fluchtursachen in Afrika? Und zweitens, wenn man einen Teil dieser Gelder auch dazu verwenden würde, um die demokratischen Elemente in den jeweiligen Ländern, die zivilen Gesellschaften in diesen Ländern, die NGOs, die sich um diese Menschen kümmern, zu unterstützen. Damit wäre viel, viel mehr getan. Denn wir müssen eines wissen: Es gibt 60 Millionen Flüchtlinge auf der Welt und darunter 35 Millionen, die aus Afrika kommen. Für diese Völkerwanderung gibt es natürlich vielerlei Ursachen: es gibt die demografische, es gibt die klimatische Ursache zur Flucht, es gibt die politischen Ursachen. Aber nichtsdestotrotz bin ich davon überzeugt, man könnte die ganzen Ursachen subsumieren unter einen einzigen Punkt – und das ist schlechte Regierungsführung.
Und wenn wir nicht diesen Faktor als einen der wichtigsten Elemente der Ursache in Afrika sehen – was die europäischen Länder ja sehr gerne vermeiden, weil sie sich ja auch sehr wohl fühlen in Zusammenarbeit mit einigen afrikanischen Diktatoren und Gewaltherrschern – dann wird das keine nachhaltigen Lösungen bringen. Wir müssen in den sauren Apfel beißen und Europa muss sich endlich – auch wenn es hier und da wirtschaftliche Konsequenzen haben mag – in einer Aktion gemeinsam gegen diese Gewaltherrscher durchsetzen. Ich glaube, der wirtschaftliche Verlust Europas wird nicht so hoch sein, wenn man in Betracht zieht, was alles ausgegeben wird, um die Flüchtlinge hier zu integrieren.
Ich weiß, dass es schwierig wird, denn die Europäer sind immer noch nicht bereit, sich von ihrer Afrikapolitik der letzten 40 Jahre zu trennen. Aber dies ist unabdingbar! Denn: Die größten Exporteure von Migranten auf dieser Welt sind afrikanische Gewaltherrscher, die ihrem eigenen Volk nicht die Möglichkeit geben, in ihren eigenen Ländern nicht ein reiches, aber ein menschenwürdiges Dasein zu führen.
Ich fasse zusammen: Die bisherige Entwicklungszusammenarbeit und überhaupt die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Afrika krankt also daran, das widersprüchliche Ziele verfolgt werden. Ihre These ist, wir müssen die Ziele und Prioritäten der deutschen und europäischen Entwicklungszusammenarbeit klarer setzen, um einer neuen Völkerwanderung vorzubeugen, vor allem politisch, mit der Förderung guten Regierens?
Und vor allem: Europa darf sich nicht erlauben, seine eigenen Wertmaßstäbe in Afrika aufzugeben und zu verraten. Das ist das allerwichtigste: Man kann nicht sagen, in der Innenpolitik bin ich ein Demokrat, aber in der Außenpolitik bin ich ein sogenannter Realpolitiker. Das heißt ab und zu muss ich, was die Demokratie angeht, meine Augen schließen. Das bringt uns auf lange Sicht nicht weiter.
Foto: Lattitude Canada, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Das heißt aber auch, dass die Politik das Primat haben muss im Zweifel?
In erster Linie. Ja.
Sie beraten ja auch Firmen in Afrika. Dessen zum Trotz sind sie der Meinung, die wirtschaftlichen Interessen müssen zurückstehen, wenn die Politik sagt, wir müssen hier eine klare Zielführung haben, was die Zusammenarbeit mit einem Land oder mit einer Regierung angeht?
Man redet so, als ob die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afrika gewaltig wären und der deutschen Wirtschaft enorme Verluste zugefügt würden. Dies ist aber nicht so: Es gibt 56.000 weltweit operierende deutsche Firmen. Von diesen Firmen sind gerade einmal 400 in Afrika tätig. Von 56.000! Und gehen Sie mal davon aus, dass die Hälfte davon im südlichen Teil Afrikas beheimatet ist. Deshalb muss man auch das mal in Relation stellen.
Selbstverständlich sollte die Bundesregierung die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Afrika stärken und vor allem für die deutsch-afrikanischen Joint Ventures mehr Hermes-Versicherungen zur Verfügung stellen. Aber Wirtschaftsinteressen dürfen nicht die alleinige Maxime der Politik sein, vor allem nicht, wenn dies ein Anbiedern an skrupellose Diktatoren bedeutet, die auf begehrten Ressourcen und Bodenschätzen sitzen.
Wir dürfen uns diejenigen in Afrika, mit denen wir es in Zukunft zu tun haben werden – und das ist die Mehrheit – nicht zu Feinden machen. Von 1,2 Milliarden Menschen, die wir zurzeit in Afrika haben, sind 85% Jugendliche unter 25 Jahren! Und wir haben dann übermorgen mit denen zu tun und müssen da auch sehen, wie werden sie uns als Europäer ansehen? Und im Moment machen wir sie zu unseren Feinden. Weil sie diejenigen sind, die am meisten zu leiden haben unter diesen Despoten. Und es darf nicht zu einem Punkt kommen, wo diese Jugendlichen später sagen „ihr Europäer habt uns in unseren schlimmsten Momenten verraten – weil ihr immer auf der Seite dieser afrikanischen Diktatoren und Gewaltherrscher wart.“
Es gibt Menschen in Deutschland, die sagen: „Wir können es uns nicht leisten, das europäische System diesen armen Afrikanern aufzuoktroyieren“. Auch ich denke nicht daran! Ich sage nicht, die Europäer sollten den Afrikanern sagen, wie sie sich regieren sollen. Ich meine nur, die EU sollte die Institutionen, zu denen die afrikanischen Länder gehören – das ist in erster Linie die UNO – und das, was sie unterschrieben haben, etwas ernster nehmen und sagen: „Ja, Du bist Mitglied der UNO, Du hast hier ein Dokument – freiwillig, ohne dass ich Dich dazu gezwungen habe – unterschrieben, das nennt sich Charta der Vereinten Nationen und Du hast noch ein zweites Dokument unterschrieben, das heißt Menschenrechtscharta von 1948. Ich werde Dich nur nach diesen beiden Dokumenten beurteilen, die Du selber freiwillig unterschrieben hast und innerhalb der Institutionen, deren Mitglied Du bist. Wenn Du das erfüllst, bin ich als europäischer Staat bereit, mit Dir zusammenzuarbeiten. Du kannst Dich König oder Präsident nennen, Du kannst Dich nennen wie Du willst.“
Wir dürfen nicht vergessen, egal woher wir kommen: Es gibt so etwas wie universelle Werte. Und durch Einhaltung dieser Werte können wir die zivilisierten Menschen von den Menschenverächtern auf dieser Welt unterscheiden.
Sie haben gesagt, dass auf der Ebene der wirtschaftlichen Zusammenarbeit viele Dinge passieren, die zur Entwicklung Afrikas beitragen. Da ist das Thema Handelspolitik auch relevant. Wie kann man Handelshemmnisse abbauen und dafür sorgen, dass die afrikanischen Länder tatsächlich mit uns Handel treiben können? Das ist ja momentan nicht gegeben.
Das ist richtig. Vor allem bei Textilien und landwirtschaftlichen Produkten werden die Afrikaner von den Märkten der EU und Amerikas durch Handelsbarrieren ausgeschlossen. Experten haben ausgerechnet, dass Afrika allein durch die Agrarprotektion der Europäer, der Amerikaner und der Japaner jährlich an die 30 Milliarden Dollar an Exporteinnahmen verliert – das doppelte der Entwicklungshilfe, die jedes Jahr von Europa nach Afrika fließt!
Was würden Sie Angela Merkel und der deutschen Delegation als Rat für den kommenden UN-Gipfel mit auf den Weg geben?
Einen härteren Stand gegenüber den afrikanischen Diktatoren durchzusetzen und die Anerkennung der Tatsache, dass es die afrikanischen Gewaltherrscher sind, die als größte Exporteure von Flüchtlingen auf dieser Welt angesehen werden müssen. Die Initiative zu übernehmen, in einer gemeinsamen europäischen Afrika-Politik diesen Unterdrückern das Handwerk zu legen.
Das Gespräch führte Juliane Junghans.
Das Buch
Die aktuelle Flüchtlingskrise ist vor allem den Ereignissen im Nahen Osten geschuldet. Dabei gerät eine langfristig viel bedrohlichere Entwicklung aus dem Blick: die Völkerwanderung Zehntausender Afrikaner nach Europa. Das Szenario: auf der einen Seite eine Bevölkerung, die sich in den nächsten Jahrzehnten verdoppelt, auf der anderen Seite die dramatische Zunahme von „failed states”, von Korruption, Misswirtschaft und Unterdrückung.
Als langjähriger Afrika-Berater deutscher Unternehmen kennt Prinz Asserate die Missstände genau. Durch westliche Handelsbarrieren und Agrarprotektionen verliert Afrika jährlich das Doppelte dessen, was es an Entwicklungshilfe erhält. Zudem werden Gewaltherrscher hofiert. Gerade diejenigen, die der Kontinent für seine Entwicklung dringend braucht, kehren ihrer Heimat den Rücken und verschlimmern so die Situation vor Ort. Europa, so Asserate, muss Afrika als Partner behandeln und gezielt diejenigen Staaten unterstützen, die demokratische Strukturen aufbauen und in ihre Jugend investieren. Nur so kann es gelingen, den fluchtbereiten Afrikanern eine menschenwürdige Zukunft auf ihrem Kontinent zu ermöglichen.
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Die neue Völkerwanderung auf den Seiten der Ullstein Buchverlage