In ihren Kriegstagebüchern dokumentierte Astrid Lindgren das Weltgeschehen von 1939-1945 auf ihre ganz eigene Weise. Am 31.12.1945, ein halbes Jahr nachdem der Krieg in Europa zu Ende gegangen war, blickt sie in ihrem Tagebucheintrag zu Silvester auf ihr persönliches Jahr zurück und hofft auf ein besseres 1946.
von Astrid Lindgren
SILVESTER
Nun wird es wieder ein neues Jahr! Wie schnell sich das Rad dreht.
Zwei denkwürdige Ereignisse hat das Jahr 1945 gebracht. Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg und die Atombombe. Ich möchte wissen, was die Zukunft über die Atombombe sagen wird, ob sie eine ganz neue Epoche im Dasein der Menschen markiert oder nicht. Der Frieden bietet keine große Geborgenheit, die Atombombe wirft ihren Schatten auf ihn. In Moskau hat eine Konferenz stattgefunden, und die Zeitungen behaupten, nach dieser Konferenz sähe es hoffnungsvoller für den Weltfrieden aus, aber das glaube, wer will. Die Not in Deutschland ist grauenhaft, Nahrungsmangel herrscht wohl fast überall,
nur bei uns nicht.
Übermorgen fahre ich nach Småland, wo Karin schon ist, Lasse ist gestern Abend nach Storlien gefahren. Sture und ich feiern Silvester zusammen in Gesellschaft von Großmutter, die jedoch Freitag nach Furusund in ihr einsames Dasein zurückfahren wird, das arme Ding. Morgen gehen Sture und ich essen im Strand und dann in die Revuepremiere im Södra – letztes Jahr war das anders. Wenn es mir nur gelingt, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren, dann ist alles gut.
Meine „literarische” Laufbahn ist in diesem Jahr in Schwung gekommen, in Zukunft geht’s sicher wieder abwärts. Pippi ist von der Kritik ausgesprochen gut aufgenommen worden, und ich glaube, auch vom Publikum. „Kerstin und ich” wurde eher gemischt beurteilt, aber ich finde es trotzdem nicht schlecht, und Jeanna Oterdahl schrieb, die Jugendlichen würden es sehr schätzen, das glaube ich tatsächlich auch, denn die mögen solch ein Geschwätz. Etwas Lärm hat es um „Hauptsache, man ist gesund” gegeben, ganz und gar unverdient, denn es ist überhaupt nicht wert, Worte darüber zu verlieren.
Ich sehe 1946 mit großer Spannung entgegen – aus verschiedenen Gründen. 1945 ist teilweise ein sehr schweres Jahr gewesen, vor allen Dingen die erste Hälfte, aber auch der vergangene Herbst. Meine Arbeit bei der PKA wurde in diesem Jahr mit Ausbruch des Friedens beendet. Seit dem 10. September bin ich Stenotypistin bei der staatlichen Untersuchungskommission zur Teilzeitarbeit.
Karin hat ihr erstes Halbjahr auf der höheren Schule gut gemeistert. Lars hatte „ungenügend” in Englisch, aber „befriedigend” in Chemie und noch einem Fach, was für ihn großartig ist. Er hat viele Freunde und Bekannte – beiderlei Geschlechts – und ist häufig unterwegs. Sture dagegen ist häufig zu Hause.
Ich wünsche mir selber ein gutes neues Jahr! Mir und den Meinen! Und möglichst auch der ganzen Welt, aber das ist vermutlich zu viel verlangt. Doch selbst wenn es vielleicht kein gutes neues Jahr werden kann, wird es vielleicht ein besseres neues Jahr.
Das Buch
Noch bevor ihre Bücher entstanden, schrieb sie ihre Gedanken über das dunkelste Kapitel des 20. Jahrhunderts nieder: den Zweiten Weltkrieg. Nachdenklich und betroffen, aber auch mit dem so unverwechselbaren Tonfall stellt Astrid Lindgren in ihren Tagebüchern wichtige Fragen, die heute wieder von erschreckender Aktualität sind: Was ist gut und was ist böse? Was tun, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus das Denken und Handeln der Menschen bestimmen? Wie kann jeder Einzelne von uns Stellung beziehen? Neben dem Kriegsgeschehen erzählt sie von ihrem Familienleben und den ersten Schreibversuchen: 1944 schenkt sie ihrer Tochter das Manuskript von Pippi Langstrumpf zum Geburtstag. Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939–1945 ist im September 2015 bei Ullstein erschienen.
Weblinks
Die Menschheit hat den Verstand verloren auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die offizielle Website von Astrid Lindgren (deutsch)