Im dritten und letzten Teil der Serie „Ellroys Amerika“ geht es um das Amerika, insbesondere Los Angeles, nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Die Szenerie unmittelbar nach der Attacke auf Pearl Harbor dient James Ellroy als Setting für seinen neuen Roman und markiert den Anfang eines neuen L.A.-Quartetts.
Zur Planung epischer Romane gehört das Brüten. Ein Vorgang, den ich genieße. Zuerst brütete ich über die Bezeichnung. Das L.A.-Quartett verband den Kriminalroman und den historischen Roman. Die Unterwelt-USA-Trilogie verband den Kriminalroman, den historischen Roman und den politischen Roman. Ich beschloss, dass das Zweite L.A.-Quartett eine historische Romanze sein würde.
Ich stellte mir vier große Bände vor. Sie würden mit großen Figuren, großen Ideen und großen Ereignissen vollgepackt werden. Die Welt stand in Flammen, war durch den Kriegsschock gefühllos geworden. Los Angeles als Hafenstadt, strategisch hochbedeutend, ein gigantischer Kriegsproduzent. Das Ausfallstor zum Pazifik und zu den vorrückenden japanischen Truppen. Chinatown und Little Tokyo waren unmittelbar benachbart. Die Chinesen und Japaner waren seit Jahrzehnten verfeindet. Das japanische Massaker von Nanking hatte einen neuen Maßstab für Gräueltaten gesetzt und die chinesisch-japanische Feindschaft ins Maßlose gesteigert. Die City Hall, das Rathaus von L.A., stand mittig auf der Grenze zwischen Chinatown und Little Tokyo. Das Detective Bureau des LAPD befand sich im sechsten Stock.
Geografie.
Nähe als Schicksal.
Nähe als gleichbedeutend mit Explosivität.
Das Zweite L.A.-Quartett zeigte sich mir in bedeutenden Einzelheiten. Band 1 war mir gleich präsent. Ich plünderte sieben bisherige Romane für die handelnden Figuren und fügte ihnen historische Persönlichkeiten und fiktive Figuren hinzu. Das schwere Unrecht der japanischen Internierung setzte mir zu. Ich nahm einen einmal erwähnten japanischen Nachnamen aus den ersten Seiten der Schwarzen Dahlie und machte den Mann zum Helden meines ersten Bandes.
Ich kehrte zum chronologischen Anfang meines Lebenswerks zurück. Ich hatte noch keine Zeile geschrieben, die derart früh in der Zeit angesiedelt war.
Die Trilogie war zu einer Abhandlung über den Glauben geworden. Die beiden weiblichen Hauptfiguren in Blut will fließen wiederholen immer wieder die Maxime: Der Glaube siegt. Das neue Quartett musste diese Behauptung im L.A. von 1941 festmachen. In einer Zeit des irrsinnigen Populismus, des Interventionismus gegen Isolationismus, der Gaga-„Rassenwissenschaftler“ der Linken wie der Rechten. Durch das Konzept der „Fünften Kolonne“ eröffnete sich mir eine Zugangsmöglichkeit.
Das Konzept war sperrig. Interne Subversion entsprang einer verrüüüückten, in aufrührerischer Absicht geäußerten Ideologie. Das ganze Land war von wahnsinnigen Überzeugungen durchdrungen.
Pater Coughlin bot dem katholischen Publikum Radiohass. Für ihn war FDR „Franklin Der-lügt-nur Roosevelt“, während er Adolf Hitler als liebenswürdigen Schlingel abtat. Gerald L.K. Smith versuchte die protestantische Bevölkerung zu bezirzen. Coughlin und Smith waren frühe, Teilt-den-Wohlstand-Sozialisten der Dreißigerjahre. Ihr Ruf als Rote sorgte für ihre Ausgrenzung. Für sie gab es nur eine blühende westlich-sozialistische Republik. Das Nationalsozialistische Deutschland.
Sie suchten nach Sündenböcken. Wofür sie sich nicht weit umzusehen brauchten. Amerika war auf ziemlich selbstverständliche Weise antisemitisch. Was sich zahlreichen täglichen Zeitungsmeldungen und den Meinungsäußerungen im US-Senat entnehmen lässt. Keine Aufrufe zum Völkermord. Vielmehr bornierte Hochnäsigkeit und engherzige Missgunst.
Aber der Antisemitismus war vorhanden. Und der drohende Krieg erlaubte, ihm Ausdruck zu verleihen. Während Hitler in Deutschland Juden ermordete, gaben amerikanische Demagogen schäumend kund, dass dieser Krieg von den Juden organisiert worden sei. Der Antikommunist Hitler unterschrieb einen Nichtangriffspakt mit dem Antifaschisten Joe Stalin und fiel dann ohnehin in Russland ein. Die amerikanischen Linken hassten Hitler und vergaben Onkel Joe den kurzzeitigen Geschmacks-Lapsus. Stalins landwirtschaftliche Säuberungen mit Millionen von Toten wurden von ihnen pflichtbewusst ignoriert. Die Linken hassten die Rechten. Die Chinesen hassten die Japaner. Die Iren hassten die Engländer und umgekehrt. Der deutsche Streit zwischen Lutheranern und Katholiken geht bis zur Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg zurück. Rechtsextreme Spinner behaupten, die Juden hätten den Kommunismus und Wall Street erfunden. Faschistische Spanier hassen loyalistische Spanier. Linke Eugeniker wollen starke Menschen züchten, um die faschistische Bestie zu bekämpfen. Faschistische Eugeniker wollen eine Herrenrasse züchten. Das Nazi-Gesundheitsministerium lobt gutaussehenden arischen Frauen Wurfprämien aus.
Willkommen im Worldwide Web, 1941. So sah’s damals aus. Erzählen Sie mir nicht, dass wir’s heute schlechter haben.
Heute.
Damals.
Ziehen Sie keine Parallelen zwischen dem Damals und dem Heute. Versuchen Sie nicht, Geschichte zu untergraben. Versuchen Sie nicht, den einmaligen Wahnsinn dieser schrecklichen Epoche zu verneinen. Versuchen Sie nicht, es mir anzulasten, wenn ich zum Schauplatz des größten Verbrechens der Geschichte zurückkehre. Ich mag größenwahnsinnig sein – aber ich werfe keine Bomben. Ich bin hier, um eine Geschichte über Glauben und wilde Männer und wilde Frauen zu erzählen, die sich ineinander verlieben – in L.A., zur Zeit von Pearl Harbor.
Ich habe einen gewissenhaften Bund mit Gott, meinem Verleger und meinen Lesern abgeschlossen. Er lautet wie folgt: Ich muss mir meines Tuns bewusster sein und noch besser werden. Ich muss das Damals noch gewissenhafter bewohnen, während ich im Heute an meinem Schreibtisch sitze. Ich muss angestrengter nachdenken, Handlungsstränge energischer knüpfen und mich noch zielgerichteter konzentrieren. Ich muss noch vielfältigere Figuren schaffen und in deren Seelen ebenso leidenschaftlich leben wie in meiner eigenen. Ich muss die erzählerischen Herausforderungen meistern, die jeder neue Roman bietet. Was Thema und Handwerk betrifft, stehe ich in Ross Macdonalds Tradition. Letztlich muss ich meinem Geburtsort in Besitz nehmen und von seiner Sprache besessen sein.
L.A.s Sprache von Ende 41 hat nun von mir Besitz ergriffen. Ich nehme an der Party am Rand des Abgrunds und vor dem jäh anbrechenden Aufstieg meiner Nation teil. Die Luft wimmelt nur so von Begriffen des gerade begonnenen Krieges, nachdem wir nun endlich wissen, wer unsere Feinde sind. Der Ausdruck „JAPSE“ ist allgegenwärtig. Die Konflikte zwischen Isolationismus gegen Interventionismus sind passé. Die Pazifikflotte wurde dezimiert. Der Angriff erfolgte 18 Tage vor Weihnachten. Glitzerbäume mit falschem Schnee schmücken den Wilshire Boulevard. Dazwischen sind Remember-Pearl-Harbor!-Tafeln aufgestellt.
Die Razzien beginnen. Es geht um den Popanz Große Angst. Die Menschen sagen JAPSEN, sehen JAPSEN, denken JAPSEN. Wir haben den Feind ausgemacht. Die sich selbst zensierende Sprache von 2014 ist noch nicht erfunden. Japsen, Japsen, Japsen. Die alle zur Fünften Kolonne gehören oder zur Fünften Kolonne gehören könnten – und jedenfalls entsprechend behandelt werden sollen. Wir stehen mit Italien und Deutschland im Krieg. Italienische und deutsche Stammbäume sind diffus – so was könnten wir alle aufweisen. Die zaristische Ritualmordbeschuldigung in Zweitauflage. So bizarr wie Pater Coughlins Rasereien. Juden ermorden Christenkinder und schmieren deren Blut auf Pessach-Matzen. Das haben russische Bauern damals geglaubt. Amerikaner glauben jetzt, dass sämtliche Japsen zur Fünften Kolonne gehören.
Ein grotesk wirklichkeitsfremder Glaube. Der sich mithilfe der japanischen Aggression rationalisieren lässt. Wir schreiben 1941. Wir sind da. Wir sind in die Begriffe, die Sprache, den unablässigen Kriegsklatsch eingetaucht. Wir erleben die Romanzen des frühen Zweiten Weltkriegs in Amerika – und nicht alles ist schlecht.
Es gibt Partys, es gibt Kriegsanleihen-Versammlungen, Filmgötter wandeln unter gewöhnlichen Menschen. Sex wird egalitär. Kriegsbedingte Jovialität lässt die Klassengrenzen zwischen den Schlafzimmern aller gesellschaftlichen Gruppen fallen. Dies ist der Augenblick, wo Schurkenpolizisten es mit Filmstars treiben. Jimmie Lunceford kichert im Trocadero. Seinen gespenstischen „Uptown Blues“ muss man gehört haben.
Es gibt sagenhafte Faustkämpfe. Es gibt verblüffend kurze und tiefe Liebesaffären. Ein Filipino hört ein Lied namens „Johnny the Jap Killer“ („Johnny, der Japsen-Schlächter“) und geht raus und erschießt einen Japaner. Worauf sich dann herausstellt, dass der Mann ein Chinese war. Ein Vorgang, der dem Herald zwei kurze Absätze wert ist. Die städtische Basketball-Meisterschaft kriegt zehnmal so viel Tinte.
Das amerikanische Idiom im subversiven Anstieg. Ein in einer gemeinsamen Aufgabe vereintes Volk, das in einer neuen Muttersprache redet. Das Verschleifen, die Präzisierungen, die Treffer, die wie benommen herausgeschleuderten Worte. Warum drum herumreden? Die Matrosen in Pearl Harbor wussten nicht, was sie traf. Wir könnten die nächsten sein.
„Letztlich besitze ich bloß meinen Geburtsort, von dessen Sprache ich besessen bin.“
Besessenheit steht mir gut. Die Liebe zur Sprache definiert mich. Diesbezüglich fordere ich andauernd mein Geburtsrecht ein. Ich bin ein in Los Angeles geborener Amerikaner. Ich habe an einem zeitlich genau bestimmten Damals in meiner Stadt und meinem Land gewohnt und bin heute wieder dahin zurückgekehrt, zu meinem eigentlichen Anfang. Ich habe den zweiten Band des Zweiten L.A.-Quartetts bereits begonnen. Die Geschichte hat mich einmal mehr an meinen Schreibtisch gerufen.
Knopf hat den ersten Band am 9. September veröffentlicht. Er heißt Perfidia. Der Titel bedeutet auf Spanisch „Verrat“ und verweist auf ein klagendes Lied der späten Dreißigerjahre. Der Roman ist 720 Seiten lang und in jeder Hinsicht groß angelegt. Die Geschichte wird in Echtzeit erzählt und erstreckt sich vom 6. bis zum 29. Dezember 1941. Männer und Frauen mit großen Seelen geraten in Los Angeles im Monat von Pearl Harbor aneinander. Sie haben große Überzeugungen, große Träume und ein tief gestörtes Pflichtbewusstsein. Sie arbeiten mit- und gegeneinander, um ein großes Verbrechen aufzuklären, und streben groß und ruchlos nach Liebe. Perfidia ist meine erste historische Romanze. Sie ist die Quintessenz dessen, was ich über die Kunst und das Handwerk des Geschichtenerzählens, was ich über Geschichte, über die Beziehung von Männern und Frauen weiß, und über die immer wieder drängende Frage, warum Menschen tun, was sie tun. Dies ist meine Verehrerpost an die große weite Welt, die ich hier, auf meinem Zeitreise-Hochsitz, verfasst habe. Ich bin mehr als zweiundsiebzig Jahre in die Vergangenheit hinabgestiegen und mit einem Geschenk für Sie zurückgekehrt. Das ich mit meinen allerbesten Wünschen anzunehmen bitte.
James Ellroy
24.05.2014
Lesen Sie auch Teil 1 und Teil 2 der Serie „Ellroys Amerika“.