Bei rücksichtslosen Spekulationen auf den Finanzmärkten erleidet nicht nur die Wirtschaft potentielle Schäden – bei den handelnden Personen bleibt auch noch etwas ganz anderes auf der Strecke: der Charakter. Wenn Geschäfte, die keinem erkennbaren nützlichen Zweck dienen, erfolgreich sind, zerstört dies auf Dauer die Ethik der Arbeit.
von Michael J. Sandel, aus dem Englischen von Helmut Reuter

(© Stéfan via Flickr.com)
Vor nicht allzu langer Zeit nahm ich an einer Podiumsdiskussion im indischen Jaipur teil – es ging darum, ob der Kapitalismus vom richtigen Weg abgekommen sei. Nach dem Gespräch stellte mir ein indischer Student eine Frage, die auf dem Podium nicht erörtert worden war. Sie bezog sich auf Amerika. „Wie wird es“, fragte er, „für eine große Nation wie die Vereinigten Staaten möglich sein, auf der Welt weiterhin Macht und Einfluss auszuüben, wenn das Land nichts mehr selbst herstellt?“
Ich war mir nicht sicher, was ich erwidern sollte. Vordergründig schien es ihm um den Niedergang der produzierenden Industrie zu gehen, und rasch fielen mir die Argumente der Ökonomen zugunsten der Effizienz von Outsourcing und der wechselseitigen Vorteile des globalen Handels ein. Doch ich hatte nicht das Gefühl, damit den Kern seiner Frage zu treffen. Es schien ihm um mehr zu gehen als um Ökonomie. Ich antwortete, ich würde seine Besorgnis teilen, hätte aber keine gute Antwort und müsse darüber nachdenken.
Es herrscht eine verbreitete, aber unbestimmte Besorgnis darüber, dass sich der Charakter der wirtschaftlichen Aktivität in den USA auf eine Weise verändert hat, die der Zivilgesellschaft nicht zuträglich ist. Zunehmend wird nicht mehr mit der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen Geld verdient, sondern mit der Verwaltung von Risiken. Man könnte sagen, wir sind von einer produzierenden Wirtschaft zu einer spekulierenden Wirtschaft übergegangen.
Diese Entwicklung ist beunruhigend und sollte uns dazu veranlassen, neu über unser Wirtschaftsleben nachzudenken. Der Grund für die Beunruhigung liegt nicht vorrangig im Ökonomischen. Ich behaupte nicht, dass mehr Spekulation zwangsläufig zu einer weniger wohlhabenden Gesellschaft führt. Aber sie führt zu einer weniger gerechten Gesellschaft. Und sie fördert eine Ethik der Spekulation, die andere moralische und zivile Normen zersetzt.
Um die moralischen Implikationen der Spekulation in unserem Wirtschaftsleben auszuloten, sollten wir uns folgende Frage stellen: Gibt es einen Unterschied – einen moralisch bedeutsamen Unterschied – zwischen Investition und Glücksspiel? Die meisten Menschen würden mit Ja antworten. Im Allgemeinen unterstützen Gesellschaften das Investieren, während sie Glücksspiel ablehnen, auch wenn nicht einfach zu erklären ist, warum sie das tun.
In der Praxis ist der Unterschied zwischen Investieren und Zocken mitunter schwer auszumachen. Bei beiden Aktivitäten geht man in der Hoffnung auf einen Gewinn ein Risiko ein. Warum sollten wir also, wenn beides gleichermaßen spekulativ ist, das Investieren loben, das Zocken aber herabsetzen?
Die offensichtliche Antwort lautet: Investitionen dienen der Herstellung nützlicher Güter und Dienstleistungen; Zocken hingegen ist entweder eine Form der Unterhaltung oder eine Möglichkeit zum Geldverdienen, ohne dass dabei etwas Nützliches produziert wird. Allerdings stellt sich die schwierige Frage, wie wir entscheiden können, welche Güter und Dienstleistungen nützlich oder wertvoll sind. Da die Menschen wahrscheinlich darüber uneins sind, was nützlich oder wertvoll ist: Sollten wir sie nicht selbst entscheiden lassen, welche Geschäfte sie abschließen und welche Risiken sie eingehen wollen? Sollten wir nicht beide Formen von Risikobereitschaft – Investieren und Zocken – gleich behandeln?
In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Auffassung weitgehend durchgesetzt. Wir haben darauf verzichtet, zwischen Investitionen und Wetten zu unterscheiden. Oder anders gesagt: Wir werten das Zocken nicht mehr ab. Mit „wir“ meine ich unsere Gesellschaft insgesamt, wie sie sich in öffentlichen Einstellungen, Gesetzen und ökonomischen Praktiken äußert. Wir haben sozusagen unseren Frieden mit einer moralischen Ökonomie der Spekulation gemacht.
„Wir sollten der Spekulation misstrauischer gegenüberstehen“
Ich glaube, dass dies ein Fehler war. In meinen Augen sollten wir der Spekulation misstrauischer gegenüberstehen. Der offensichtlichste Grund ist praktischer Natur: Wie die Finanzkrise von 2008 gezeigt hat, ist eine Wirtschaft, in der einige Leute eine Menge Geld machen, indem sie Risiken verwalten (und manipulieren), nicht ungefährlich. Wenn die Wetten schiefgehen, leiden darunter viele Menschen, auch diejenigen, die keine Spekulanten sind, sondern ihren Lebensunterhalt damit verdienen, nützliche Dinge herzustellen und wertvolle Dienstleistungen zu erbringen – im Rahmen dessen, was man gelegentlich als „Realwirtschaft“ bezeichnet.

(© Matze Ott via Flickr.com)
Doch es gibt noch einen Grund, besorgt zu sein. Abgesehen von den Systemrisiken und wirtschaftlichen Schäden, die eine rücksichtslose, wild ausufernde Spekulation mit sich bringen kann, entstehen auch moralische Kosten: Wenn Spekulationen, die keinem erkennbaren nützlichen Zweck dienen, belohnt werden, wirkt sich das zersetzend auf den Charakter aus. Sie zersetzen nicht nur den Charakter einzelner Menschen, sondern auch die Tugenden und Einstellungen, die eine gerechte Gesellschaft ausmachen.
Die Finanzkrise löste viele Debatten über die mit dem Kasinokapitalismus verbundenen Systemrisiken aus, besonders in den Fällen, in denen Banken und Finanzeinrichtungen „zu groß zum Scheitern“ sind. Den moralischen Implikationen einer zunehmend von spekulativen statt von produktiven Tätigkeiten beherrschten Ökonomie haben wir dagegen weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Was geschieht, wenn die moralisch zersetzenden Aspekte des Glücksspiels beginnen, das gesamte Wirtschaftsleben zu dominieren? Wenn die Ethik der Spekulation sich ausbreitet und den stets fragilen Zusammenhang zwischen Beitrag und Kompensation beschädigt – also die Verhältnismäßigkeit zwischen der nützlichen Arbeit, die die Menschen verrichten, und der von der Gesellschaft dafür gewährten Belohnung?
Zugegeben, selbst ausgeprägte Leistungsgesellschaften schaffen es nicht, Tugend und Erfolg perfekt aufeinander abzustimmen. Wir brauchen nur an die krassen Einkommensunterschiede zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen zu denken. Nur wenige Menschen glauben, dass der gesellschaftliche Beitrag eines Basketballstars wirklich tausendmal wertvoller ist als der einer Krankenschwester oder eines Grundschullehrers. In Marktgesellschaften spiegeln die Einkünfte der Menschen nur sehr bedingt wider, was ihnen moralisch zusteht.
Dennoch ist es schwer, sich eine Gesellschaft vorzustellen, die überhaupt nicht mehr versucht, das Einkommen irgendwie am sozialen Wert der erbrachten Leistung auszurichten. Es lohnt sich zu fragen, wie unser soziales, wirtschaftliches und moralisches Leben aussähe, wenn wir das Einkommen eines jeden als einen in moralischer Hinsicht vollkommen neutralen Gewinn betrachten würden – wenn also Beitrag und Belohnung gänzlich entkoppelt wären. Eine reine Ökonomie der Spekulation, die allgemein auch als solche angesehen würde, hätte gegenüber der unsrigen einen gewissen Vorteil: Sie würde uns davon befreien, im finanziellen Erfolg eines Menschen ein Zeichen seiner Tugend oder eines besonderen moralischen Verdienstes sehen zu müssen. Jeder weiß, dass Leute, die im Kasino Geld gewonnen haben, eben Glück hatten. Mit einem besonderen Verdienst hat das nichts zu tun.
Doch dieser abstrakte Fall ist hypothetisch. Im echten Leben ticken wir anders. Obwohl wir umgangssprachlich von „Kasinokapitalismus“ reden, glauben wir nicht wirklich, dass alle Einkünfte bloße Zufallsgewinne sind. Auch wenn spekulative Aktivitäten in unserem Wirtschaftsleben eine größere Rolle spielen, gehen wir davon aus, dass Erfolge auf Verdienste folgen, zumindest in gewissem Umfang. Es ist schwer, diese Überzeugung ganz aufzugeben. Je mehr jedoch der spekulative Aspekt des Wirtschaftslebens zunimmt, desto weniger plausibel wird sie.
Diese Spannung zwischen unserer Überzeugung, dass nützliche Arbeit belohnt wird oder werden sollte, und der Art, wie die Wirtschaft Belohnungen tatsächlich zuweist, ist eine zunehmende Quelle von Dissonanz und Frustration. Wir spüren, dass sich harte Arbeit und Fairness immer weniger auszahlen, und dies gilt insbesondere für die Menschen in der Mitte oder am unteren Ende der Einkommensskala. Daher klingt es zunehmend nach einer hohlen Phrase, wenn Politiker und Leitartikler die Ethik der Arbeit beschwören.
Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung von Michael Sandels Vorlesung „The Moral Economy of Speculation: Gambling, Finance, and the Common Good.“ Hier erscheint er zum ersten Mal auf Deutsch.