Als Österreich vor 20 Jahren als 14. Staat der Europäischen Union beitrat, traf diese Entscheidung in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung. Seitdem ist das Land längst wirtschaftlich in der Mitte Europas angekommen − doch mittlerweile mehren sich auch die EU-kritischen Stimmen. Eine Bilanz nach zwei Jahrzehnten EU-Mitgliedschaft.
von Raimund Löw
2015 ist Österreich ein EU-Mitgliedsland, das normaler nicht sein könnte. Das kleine Österreich, das in der Nachkriegszeit als neutrales Land zwischen Ost und West der Europäischen Währungsgemeinschaft (EWG) sowie NATO ferngeblieben war, ist heute in alle großen Entscheidungen Europas eingebunden.
Vor 20 Jahren präsentierte sich eine völlig andere Situation. Die demokratischen Revolutionen des Jahres 1989 hatten die Machtstrukturen Europas gesprengt. Österreichs Grenzen zu den Nachbarn waren plötzlich offen. Die Identität des Landes als Insel der Seligen, vermeintlich geschützt durch seine Neutralität am westlichen Ende des Eisernen Vorhangs, war Makulatur. Die damalige Große Koalition unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Franz Vranitzky und dem ÖVP-Politiker Erhard Busek raffte sich zu einer großen politischen Kraftanstrengung zusammen: Sie schlug den Weg in Richtung EU ein. Der Widerstand des aufsteigenden Rechtspopulisten Jörg Haider und die weit verbreitete Skepsis, etwa bei Gewerkschaften oder Agrariern im eigenen Lager, wurden neutralisiert.
Grüner Veltliner in Washington D.C.
Die Zustimmung bei der Volksabstimmung über den EU-Beitritt Österreichs am 12. Juni 1994 war mit 66,6 % Ja-Stimmen überwältigend. Österreich hat damit erstmals in seiner jüngeren Geschichte seine geopolitische Position selbst bestimmt. Anders als bei der Staatsgründung der Republik 1918, als die Siegermächte den Anschluss an Deutschland verhinderten, oder bei der Entscheidung über die Neutralität 1955, Bedingung für den Rückzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Österreich, war es eine freie Entscheidung.
Ich war damals ORF-Korrespondent in den USA. Wir feierten das Ergebnis der Volksabstimmung in der österreichischen Botschaft in Washington D.C. mit steirischem Gösser-Bier, heimischem Grünen Veltliner und amerikanisch gefertigten kleinen Wiener Schnitzeln. Das Gefühl war da, dass unser Land Tritt gefasst hat in einer zunehmend chaotischen Welt. Wir gehörten zu Westeuropa.
Zwanzig Jahre später ist Österreichs Mitgliedschaft in der EU eine ökonomische Erfolgsgeschichte und ein politisches Desaster. Die euphorische Stimmung des Jahres 1994 scheint in weiter Ferne zu liegen.
Wirtschaftlich hat Österreich Deutschland überholt und ist pro Kopf das zweitreichste EU-Land nach Luxemburg. Trotz Euro-Krise und Stagnation ist die Arbeitslosigkeit geringer als irgendwo sonst auf dem Kontinent. Wien ist zum Magneten eines integrierten Wirtschaftsraumes geworden, der Teile Ungarns, Tschechiens, die Slowakei umfasst. Wie zu Kaisers Zeiten finden Slowaken, Ungarn und Tschechen Arbeit in Wien. In 75 Minuten bringen die Tragflügelboote des Twin City Liners Passagiere vom Wiener Schwedenplatz über die Donau nach Bratislava.
Anti-EU-Kurs
Aber die Europäische Union ist in Österreich so unpopulär wie sonst nur in Großbritannien. In den Eurobarometer-Umfragen der Europäischen Kommission landet die Alpenrepublik regelmäßig im letzten Drittel. Die FPÖ, nach dem Tod Jörg Haiders unter Heinz-Christian Strache wieder auf strammem Anti-EU-Kurs, liegt in den Meinungsumfragen mit den beiden Regierungsparteien meist gleichauf. Die einflussreiche Kronen-Zeitung, die noch bei der EU-Volksabstimmung vor 21 Jahren für ein „Ja“ plädierte, betreibt eine systematische Anti-EU-Kampagne nach dem Beispiel britischer Massenblätter.
Die österreichische Gesellschaft tut sich schwer, die Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte zu verkraften. Die negative Haltung zur EU ist das Ventil dazu. Österreich ist eines der ausgeprägten Einwanderungsländer Europas. Knapp die Hälfte der Wienerinnen und Wiener haben Migrationshintergrund. Entweder ihre Eltern oder sie selbst sind im Ausland geboren. Dabei haben doch die meisten Politiker noch bis vor kurzem versichert, Österreich sei ganz sicher kein Einwanderungsland.
Der Eintritt der FPÖ Jörg Haiders in die Bundesregierung war 2000 ein europaweiter Skandal. Die EU-Staaten schränkten den Kontakt zu Wien auf ein Minimum ein. Die patriotische Öffentlichkeit tobte gegen die „EU-Sanktionen“. Inzwischen ist es fast normal, dass eine Partei mit Anti-EU-Parolen in einem Mitgliedsland ganz vorne mitspielt in der Politik. In vielen EU-Staaten schrumpft das Zentrum. Altgediente rechte Populisten und neue linke Protestparteien sind im Aufwind.
Ist Österreich die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält? Das Wort des deutschen Dichters und Wahlwieners Friedrich Hebbel war auf die k.u.k.-Monarchie gemünzt. Aber ganz falsch ist es auch heute nicht. Das österreichische Auf und Ab im Verhältnis zu Europa erleben in zunehmendem Maße auch andere Staaten. Die ruhige Hand, die Deutschland unter Angela Merkel für Europa beansprucht, ist eine Seltenheit.
Keine Alternative zum gemeinsamen Europa
Aber es gibt auch eine beruhigende Botschaft aus Wien für die Europäer. Trotz eines anhaltenden großen Zuspruchs zu Anti-EU-Parteien geht die Integration Österreichs unverändert weiter. Für die Öffentlichkeit ist es normal geworden, dass sich die halbe Innenpolitik des Landes in der EU-Hauptstadt Brüssel abspielt. Die gemeinsame Währung, der Euro, ist so selbstverständlich geworden, dass die FPÖ ihre Anti-Euro-Position gerne in wolkigen Worthülsen versteckt. Der anfänglich skeptische sozialdemokratische Bundeskanzler Werner Faymann ist zum engagierten Verteidiger Europas geworden. Geschadet hat es ihm nicht. Die Österreicher jammern gerne, aber eine Alternative zum gemeinsamen Europa können sie sich längst nicht mehr vorstellen.
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