Vor 40 Jahren kam der „König der Könige” Haile Selassie ums Leben. Im Interview erinnert sich sein Großneffe Prinz Asfa-Wossen Asserate an den letzten Kaiser Äthiopiens.
Vor 40 Jahren kam Ihr Großonkel ums Leben. Wie wurden sein Sturz und sein Tod von der Weltöffentlichkeit aufgenommen?
Die Weltöffentlichkeit war schockiert. Die Tatsache, dass die damalige Militärjunta seinen Tod als einen natürlichen bezeichnete, hat die Menschen, vor allem in Afrika, empört, da jeder wusste, dass die Junta für den Tod von Haile Selassie verantwortlich war.
Nach dem Ende der Militärdiktatur haben wir feststellen können, dass der Tod des Kaisers von einem der Schergen des Mengistu-Regimes verursacht wurde: Er wurde mit einem Kissen erstickt.
Es heißt, Haile Selassie habe sein Land vom Mittelalter in die Moderne geführt. Es ist aber heute noch sehr rückständig und hat einen nennenswerten Anteil an den Flüchtlingsströmen nach Europa. Wann und warum ist die Entwicklung stehengeblieben?
In der Tat war Kaiser Haile Selassie in den Anfängen seiner Regentschaft ein großer Reformer und hat das Land vom tiefsten Mittelalter in das 20. Jahrhundert katapultiert. Leider ließ seine Reformwilligkeit mit zunehmendem Alter nach, sodass seit dem Putschversuch im Jahre 1960 in Äthiopien ein großer Reformstau zu verzeichnen war. Die Tatsache aber, dass es heute über zwei Millionen äthiopische Flüchtlinge in der ganzen Welt gibt, ist in keiner Weise die Schuld des „Löwen von Juda“, wie der Kaiser genannt wurde, sondern der beiden ihm nachfolgenden Regime.
Als Kaiser Haile Selassie 1974 abgesetzt wurde, gab es in der ganzen Welt nur acht politische Flüchtlinge aus Äthiopien.

Der Autor begrüßt den Kaiser als Schulsprecher der Deutschen Schule in Addis Abeba, 1968. (Foto: Asfa-Wossen Asserate)
Haile Selassie gilt als einer der Vorkämpfer der Entkolonialisierung Afrikas. Woran liegt es, dass der Kontinent noch heute so rückständig ist?
Haile Selassie wird bis zum heutigen Tag als „Vater Afrikas“ bezeichnet. Ohne ihn wäre die Einheit Afrikas nicht so schnell Wirklichkeit geworden. Der Geist, der ihn und die anderen afrikanischen Führer 1963 bei der Gründung der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) in Addis Abeba beseelte, war der Panafrikanismus. Die ersten Staatschefs der in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten haben damals die Kolonialgrenzen unisono akzeptiert, weil sie Nationen aufbauen und dadurch dem schlimmsten Feind Afrikas, dem Tribalismus, den Kampf ansagen wollten.
Die Väter dieser jungen Staaten wussten ganz genau, dass ein einheitliches Afrika nur dann verwirklicht werden konnte, wenn es Nationalstaaten gäbe. Leider gibt es immer noch ethnozentrische Bewegungen, deren Ziel es ist, sich von den Nationalstaaten loszusagen. Das ist das Grundübel unseres Kontinents. Die Menschen kommen aus dem Teufelskreis von Bürgerkriegen, dadurch verursachter Armut und Entwicklungsstillstand nicht heraus.
Was Afrika braucht, sind rechtsstaatliche Regierungen, welche die Vielfalt der afrikanischen Völker und Kulturen akzeptieren und sie in einem föderalistischen Staatengebilde vereinen.
Ziehen Sie bitte eine politische Bilanz der Leistungen und Versäumnisse Ihres Großonkels. Was überwiegt?
Wenn wir nach vierzig Jahren unser Urteil über die sechzigjährige Herrschaft des äthiopischen Kaisers fällen, seine Stärken und Schwächen gegeneinander abwägen, werden Haile Selassies Verdienste um Äthiopien und Afrika mehr Gewicht haben als die großen Fehler, die er zweifelsohne beging. Auch für ihn gilt der Satz: Die Größe eines Herrschers offenbart sich erst im Lichte der Regime und Herrscher, die auf ihn folgen.
Die Fragen stellte Christian Seeger.