Der mediale Aufruhr um die Asylpolitik der Europäischen Union ist nach den Bootsunglücken im Mittelmeer groß. Was können wir tun? Der Autor und erfahrene Entwicklungshelfer Kilian Kleinschmidt sagt: Das Bewusstsein muss sich ändern und die Hilfe früher beginnen – auch indem die Möglichkeiten der Globalisierung besser genutzt werden.
von Kilian Kleinschmidt

Foto: Haeferl/Wikimedia Commons
Das Mittelmeer ist in den Blickpunkt geraten. Furchtbare Bilder und Geschichten sind in Umlauf, die uns alle aufrütteln. Wir sind entsetzt, schockiert und die europäische Politik ist zum Handeln gezwungen. Das tut sie auch. Patrouillen werden wieder erweitert. Es werden mehr Menschen aus dem Wasser gefischt. Aber im gleichen Atemzug wird angekündigt, dass die meisten doch wieder abgeschoben werden. Und überhaupt haben wir inzwischen angefangen, die Schlepper zu jagen; das wird es schon richten. Tony Abbott und seine menschenverachtende Flüchtlingspolitik in Australien lassen grüßen! Wir diskutieren Internierungslager in Nordafrika, um dort Asylverfahren abzuwickeln. Ist ja billiger und ach so praktisch. Dann muss man die Flüchtlinge auch nicht abschieben. Wie es ihnen dort geht oder ob sie womöglich verrecken, ist uns ja eigentlich wurscht. Ist dann schließlich nicht vor der Haustür, sondern irgendwo in der Wüste. Da sieht man es nicht. Dann sind die Araber schuld daran, wenn was schiefgeht.
Was wir nicht sehen und was der eigentliche Skandal dabei ist, ist kaum in den Schlagzeilen zu lesen. 50 Millionen Menschen sind offiziell auf der Flucht auf dieser Welt – und das sind nur die, die vor Verfolgung, Gewalt und Krieg fliehen. Die meisten sind in ihrem eigenen Land zum Flüchtling geworden, ausgelöst durch ihre eigenen Regierungen. Wer es über die Grenzen geschafft hat, wird selten unterstützt und versorgt. Die wenigsten sind in annehmbaren Lagern untergebracht und die meisten sind für ihr Überleben auf sich selbst gestellt. So werden sie zur leichten Beute für Menschenhändler aller Art. Ganze lächerliche 17 Milliarden US-Dollar im Jahr bringt die Welt für die sogenannte humanitäre Hilfe offiziell zusammen. Dann kommen noch ein paar Milliarden an Privatspenden dazu. Nach einer einfachen, aber sehr traurigen Rechnung bleiben nach Abzug der Kosten nur noch etwa 50 Prozent für wirkliche Hilfe durch die Organisationen übrig! Krisen werden am Anfang finanziert und dann vergessen. Krisen leben durch die Medien. Flüchtlinge leben vom Minimum und unter dem Minimum. Alles, was sie wollen, ist ihre Würde wieder zu erreichen, ihre Identität, als Mensch zu leben und sich wieder aufzurichten.
Milliarden Menschen leben unter unwürdigen Bedingungen, werden durch Klimawandel, Umweltschäden und Verschmutzung, Armut und brutalste Ausnutzung durch skrupellose Industrielle und Großgrundbesitzer ausgebeutet und vertrieben. Im 21. Jahrhundert herrscht vielerorts noch Mittelalter pur! Slums wachsen und 75 Prozent der Menschheit wird demnächst in Städten leben – und das meist schlecht. Dennoch wird Staatlichkeit in vielen Ländern durch etwas besser funktionierende „Stadtlichkeit” ersetzt; deswegen die Migration vom Land in die Städte. Aber auch dort ist nicht alles zum besten bestellt: Wenn wir nicht alle mehr tun, um besseres Stadtmanagement zu fördern und es den Bewohnern ermöglichen, ihre Rechte zu verwirklichen und ein menschenwürdiges Leben zu führen, werden Menschen nicht zur Ruhe kommen, müssen sie tagtäglich um das Überleben kämpfen. Diskriminierung, Ausgrenzung und auch Überangebot in schlecht ausgewogenen Arbeitsmärkten erlauben es oft selbst Akademikern nicht, sich in ihren Heimatländern eine Existenz aufzubauen.
Es sind alle diese Menschen, die vor ihrer ungerechten, ungesunden und lebensgefährlichen Welt fliehen, denen wir nun auf dem Mittelmeer beim Ertrinken zuschauen. Die einen nennen wir Migranten, die anderen Flüchtlinge. Für die einen haben wir Verständnis, bei den anderen denken immer noch zu viele wenigstens insgeheim, dass sie eigentlich wieder abgeschoben werden sollten. Und diesen Ansatz müssen wir ändern: Sie sind alle Flüchtlinge. Armut, Ausbeutung und fehlende Menschenrechte sind Grund genug zu fliehen. Muss es erst zu einem Krieg kommen, damit Menschen fliehen dürfen und wir erst dann solidarisch sind?
Scheinheilig ist auch, dass wir jetzt erst schreien. Es sind die Bilder der Gekenterten und Toten, die uns schockieren. Ins Vergessen gerät dabei das unsagbare Leid von Hunderttausenden, die sich auf den Weg gemacht haben. Die Hunderttausende, die genau in diesem Augenblick größten Gefahren ausgesetzt sind. Weltweit! Selten reden wir über das Unfassbare, das mit Menschen auf der Flucht geschieht. Der Sinai ist berüchtigt für seine Organentnahmen, Folter und Kidnapping von Flüchtlingen. Im Jemen gibt es Sexgefängnisse für Frauen auf der Flucht. Flüchtlinge werden als Sklaven gehandelt, Kinder verkauft und Vergewaltigung ist eher die Regel als die Ausnahme. Menschen ersticken in Containern, ertrinken in Flüssen, verdursten in der Wüste. Menschenhändler machen Milliardengeschäfte – nicht nur im Mittelmeer. Sogenannte moderne Gesellschaften in Europa, in Asien, in Amerika schauen nur zu. Es gibt noch keine App, die das verhindert.
François Crépeau, Sonderbeauftragter der UNO für Migrationsfragen, fordert eine globale gemeinschaftliche Verantwortung, gemeinsames Management und eine Verteilung der Ströme. Er hat recht. Es muss ein globales legales System geschaffen werden, das die Energien und auch Finanzen der Flüchtlinge nutzt, die im Augenblick nur der internationalen Mafia zugutekommen. Das an die Schlepper gehende Geld könnte sinnvoller eingesetzt und investiert werden. Flüchtlinge sind eine Ressource, sie haben Kapazitäten und Fähigkeiten, die gebraucht werden. Wir sind dabei, diese zu verschwenden und die Menschen im Mittelmeer ertrinken oder in der Wüste verdursten zu lassen. Ein erfolgreicher Flüchtling – die meisten wollen keine Almosen, sondern einfach nur arbeiten und ein sicheres Leben führen – wird die Kosten seiner Integration mehrfach zurückzahlen. Er wird auch sinnvollere humanitäre und Entwicklungshilfe in seinem Heimatland betreiben, als es internationale Hilfsorganisationen mit unseren Steuermitteln versuchen. Ein erfolgreich integrierter Flüchtling wird mindestens zehn und wahrscheinlich mehr Personen unterstützen, er wird investieren und auch den eventuellen Wiederaufbau in seiner Heimat unterstützen. Beirut und Mogadischu zum Beispiel sind Städte, die sich beide weitgehend ohne Wiederaufbauhilfe entwickelt haben. Die Forderung nach legaler Migration und eine bessere Nutzung des humanen Kapitals geht Hand in Hand mit den Errungenschaften unserer modernen Welt.
Die Welt ist vernetzt. Die Globalisierung funktioniert in alle Richtungen und wir müssen unsere Möglichkeiten heute besser nutzen. Die dritte industrielle Revolution hat begonnen. Das “Internet der Dinge”, das Jeremy Rifkin beschreibt, sorgt dafür, dass wir mehr und mehr Know-how und Ressourcen dezentralisiert managen können und auch überall Zugriff darauf haben. Dies muss dazu führen, dass wir die Ressourcen der Welt besser erforschen und sie dann noch schneller durch das Netz und per Flugzeug verteilen können. Menschen, die in schwierigen Bedingungen leben, können und müssen von dem Know-how profitieren, das es anderswo gibt. In einer vernetzten und durchtechnisierten Welt können sie direkt unterstützt werden, ohne dass es dazu noch Hilfsorganisationen braucht. Technologische Errungenschaften dieses Jahrtausends gehören uns allen und können diesen Planeten wieder gerechter machen. Eine Prothese für ein amputiertes syrisches Kind kann in Spanien designed und in Jordanien mit einem 3D-Drucker ausgedruckt werden; eine funktionierende Stadt kann ihr Wissen über effizientes Management teilen und ihre Techniker entsenden; ein Arzt kann Beratung und Behandlung über das Internet anbieten; erneuerbare Energien können durch Mikrolösungen allen den Zugang zu Licht und Strom bringen und Mensch-zu- Mensch Beziehungen können global aufgebaut werden durch bessere Kommunikation.
Im 21. Jahrhundert wird es zwar immer noch Nothilfe brauchen, durch die Leben gerettet werden, wie uns die Katastrophen in Nepal, Vanuatu oder Syrien zeigen. Aber wir können mit einem besseren Management unserer globalen Ressourcen dabei helfen, dass Menschen aufrecht, in Würde und gleichberechtigt ihren Weg zurück in die Weltgemeinschaft finden.
Weblinks
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Die offizielle Website der UNO-Flüchtlingshilfe (UNHCR)
„Weil es um die Menschen geht” auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Vielen Dank für den Beitrag. Sehr bereichernd.
Was Migrationsforscher und Ethnologen bereits vor Jahren prognostizierten, bewahrheitet sich nun. Die Flüchtlingszahlen steigen und werden weiter steigen. Bevor wir jedoch den zweiten vor dem ersten Schritt machen, sollten wir überlegen wie eine nachhaltige moderne Integrationspolitik aussieht. Gerade in Hinblick auf die wachsenden Kräfte von rechts, die alles Fremde verdammen, müssen wir progressive Antworten auf die Fragen finden, wie wir eine moderne, diverse Gesellschaft schaffen wollen/können.
Und ja, wir müssen auch überlegen, wie die Lücken in den Ländern zufüllen sind, die durch Brain-Drain entstehen?