„Was gefürchtet wird, ist die unmoralische Sittenlosigkeit“

Der Philosoph und Autor Slavoj Žižek zeigt, wie sich das politische und gesellschaftsprägende Potential des religiösen Fundamentalismus aus dem vermeintlichen moralischen Vakuum des Westens speist.[1]

Aus dem Englischen von Michael Adrian

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Foto: Nadine Städtner/Ullstein Buchverlage

Es gibt eine unerwartete Querverbindung zwischen den zehn Geboten und den Menschenrechten, ihrem modernen Gegenstück: Wie uns die Erfahrung in unserer liberal-permissiven Gesellschaft zur Genüge lehrt, sind die Menschen- und Bürgerrechte letztlich im Kern einfach Rechte, gegen die zehn Gebote zu verstoßen: das „Recht auf Privatsphäre“ – das Recht auf Ehebruch, heimlich, still und leise begangen, wenn niemand mich sieht oder das Recht hat, in meinem Leben herumzuschnüffeln; das „Recht, nach seinem Glück zu streben, und das Recht auf Privateigentum“ – das Recht zu stehlen (andere auszubeuten); „Presse- und Meinungsfreiheit“ – das Recht zu lügen, zu verleumden und zu erniedrigen; das „Recht des freien Bürgers, Waffen zu besitzen“ – das Recht zu töten; und zu guter Letzt die „Glaubensfreiheit“ – das Recht, falschen Göttern zu huldigen.

Natürlich billigen die Menschen- und Bürgerrechte die Verletzung der zehn Gebote nicht direkt; sie halten nur eine marginale Grauzone offen, die dem Zugriff der (religiösen oder säkularen) Macht enthoben bleiben soll. In dieser Grauzone kann ich gegen die Gebote verstoßen, und wenn die Macht mir nachspioniert, mich mit heruntergelassener Unterhose erwischt und meine Vergehen abzuwehren versucht, kann ich schreien: „Angriff auf meine grundlegenden Menschenrechte!“

Der Punkt ist somit, dass es der Macht unmöglich ist, eine klare Grenze zu ziehen und nur den „Missbrauch“ eines Menschenrechts zu verhindern, ohne dessen zulässigen Gebrauch zu beeinträchtigen – jenen also, der nicht gegen die zehn Gebote verstößt.[2] Genau in diese Grauzone stößt der brachiale Humor von Charlie Hebdo.

Die „unmoralische“ Kultur als Feind

Irans Ajatollah Chomeini machte bereits vor Jahrzehnten deutlich, warum ein Angriff auf Charlie Hebdo angebracht sein könnte: „Wir haben keine Angst vor Sanktionen. Wir haben keine Angst vor einem militärischen Eindringen. Was uns ängstigt, ist das Eindringen der westlichen Unmoral.“[3] Ist Charlie Hebdo nicht der Inbegriff „westlicher Unmoral“? Dass Chomeini von Angst spricht – und zwar davon, was ein Muslim am Westen am meisten zu fürchten habe –, muss man wörtlich nehmen: Muslimische Fundamentalisten haben kein Problem mit wirtschaftlicher und militärischer Brutalität; ihr wahrer Feind ist nicht der ökonomische Neokolonialismus und die militärische Aggressivität des Westens, sondern seine „unmoralische“ Kultur.

Dasselbe gilt für Putins Russland, wo die konservativen Nationalisten ihren Konflikt mit dem Westen als einen kulturellen Konflikt definieren, in dessen Brennpunkt in letzter Konsequenz der Geschlechterunterschied steht: Anlässlich des Sieges der österreichischen Dragqueen Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest 2014 sagte Putin bei einem Abendessen in St. Petersburg: „Die Bibel spricht von zwei Geschlechtern, und der Hauptzweck ihrer Verbindung ist es, Nachwuchs zu produzieren. Es ist wichtig für uns, die traditionellen Werte aufrechtzuerhalten.“[4] Wie üblich fand der fanatische Nationalist Wladimir Schirinowski deutlichere Worte und bezeichnete den Sieg als „das Ende Europas“. Er polterte: „Unsere Empörung ist grenzenlos […]. Da unten gibt es keine Frauen und Männer mehr, sondern stattdessen ein Es.“ Und Vizepremier Dmitrij Rogosin twitterte, das Resultat zeige „Anhängern einer europäischen Integration, was sie erwartet: ein Mädchen mit Bart“.[5]

Es liegt eine gewisse frappierende, quasipoetische Schönheit in diesem Bild der bärtigen Dame (lange Zeit ein fester Bestandteil billiger Freakshows) als Symbol des vereinten Europas – kein Wunder, dass Russland seinem Fernsehpublikum diesen Wettbewerb nicht zumuten mochte und einen neuen kulturellen Kalten Krieg beschwor. Wir haben es hier mit derselben Logik zu tun wie bei Chomeini: Was wirklich gefürchtet wird, ist weder Militär noch Wirtschaft, sondern die unmoralische Sittenlosigkeit, die Bedrohung des Geschlechterunterschieds. Die Terrorgruppe Boko Haram hat diese Logik nur auf die Spitze getrieben.

(Nebenbei bemerkt: Lacans Pointe besteht darin, dass die wahre Bedrohung nicht in der polymorphen Perversion besteht, die den Geschlechterunterschied destabilisiert und manchmal sogar ignoriert, sondern in diesem Unterschied selbst mit seiner antagonistischen Dimension einer Nichtbeziehung. Dass konservative politische Strömungen sich entscheidend auf einen stabilen und normalisierten Geschlechterunterschied berufen, bezeugt die politische Bedeutung von Lacans Behauptung Es gibt kein sexuelles Verhältnis.)

Die Rückkehr der Religion als politische Machtinstanz

In seiner Analyse der gegenwärtigen Rückkehr der Religion als einer politischen Machtinstanz wendet sich Boris Buden gegen die gängige Interpretation, der zufolge dieses Phänomen ein Rückschritt aufgrund einer gescheiterten Modernisierung sei.[6] Für Buden ist Religion als politische Macht vielmehr eine Folge der postpolitischen Desintegration der Gesellschaft – also der Auflösung traditioneller Mechanismen, die bislang stabile gemeinschaftliche Verbindungen sicherten. Die fundamentalistische Religion ist nicht nur politisch, nein, sie ist das Politische selbst, das heißt, sie hält den Raum für Politik offen. Noch zugespitzter ausgedrückt: Die Religion ist nicht mehr nur ein gesellschaftliches Phänomen, sondern sie ist geradezu die Struktur der Gesellschaft, sodass die Gesellschaft in gewisser Weise zu einem religiösen Phänomen wird. Es ist somit nicht mehr möglich, den rein geistlichen Aspekt der Religion von ihrer Politisierung zu trennen: In einem postpolitischen Universum ist die Religion der vorherrschende Raum, in dem antagonistische Leidenschaften wieder Einzug halten. Was sich jüngst in Gestalt des religiösen Fundamentalismus abgespielt hat, ist daher keine Rückkehr der Religion in die Politik, sondern schlicht die Rückkehr der Politik als solcher.

Warum aber ist der Islam heute die am stärksten politisierte Religion? Das Judentum ist die Religion der Genealogie, der Abfolge der Generationen; wenn schließlich im Christentum der Sohn am Kreuz stirbt, bedeutet dies zugleich, dass auch der Vater stirbt (wie es Hegel vollkommen bewusst war) – die patriarchale genealogische Ordnung als solche stirbt; der Heilige Geist passt nicht in die Familienfolge, sondern begründet eine postpaternale/familiale Gemeinschaft.

Im Unterschied sowohl zum Judentum als auch zum Christentum, also zu den beiden anderen Buchreligionen, schließt der Islam Gott aus dem Bereich der väterlichen Logik aus: Allah ist kein Vater, nicht einmal ein symbolischer – Gott ist der Eine, er ist weder geboren, noch bringt er Geschöpfe zur Welt. Es gibt keinen Raum für eine Heilige Familie im Islam. Aus diesem Grund betont der Islam den Umstand, dass Mohammed selbst Waise war, so stark; deshalb greift Gott im Islam gerade in den Momenten der Aussetzung, des Entzugs, des Scheiterns, des „Blackouts“ der väterlichen Funktion ein (wenn die Mutter oder das Kind vom biologischen Vater verlassen oder ignoriert werden). Gott verbleibt somit voll und ganz im Bereich des Unmöglich-Realen: Er ist der unmöglich-reale außenstehende Vater, sodass es eine „genealogische Wüste zwischen Mensch und Gott gibt“.[7] Hierin lag Freuds Problem mit dem Islam – baut doch seine ganze Religionstheorie auf der Parallele zwischen Gott und Vater auf. Wichtiger noch: An dieser Stelle schreibt sich die Politik unmittelbar ins Herz des Islams ein, da die „genealogische Wüste“ es unmöglich macht, eine Gemeinschaft zu errichten, die den Strukturen der Elternschaft oder anderer Blutsbande folgt: „[D]ie Wüste zwischen Gott und Vater ist der Ort, an dem sich das Politische selbst instituiert.“[8] Mit dem Islam ist es nicht mehr möglich, eine Gemeinschaft nach der Art von Totem und Tabu zu begründen, durch die Ermordung des Vaters und die anschließende Schuld, die die Brüder zusammenbringt. Daher rührt die unerwartete Aktualität des Islams.

Ein Werkzeug und Zeichen unserer kollektiven Identität

Dieses Problem führt mitten ins Herz der berühmt-berüchtigten Umma, der „Gemeinschaft der Gläubigen“. Denn es ist ebenso für die Überschneidung des Religiösen mit dem Politischen verantwortlich (die Gemeinschaft soll unmittelbar in Gottes Wort begründet sein) wie für die Tatsache, dass der Islam in „Bestform“ ist, wenn er die Bildung einer Gemeinschaft „aus dem Nichts“ heraus, in der genealogischen Wüste, als egalitäre revolutionäre Brüderschaft begründet – es überrascht nicht, dass der Islam dort Erfolg hat, wo sich junge Männer des traditionellen familiären Sicherheitsnetzes beraubt sehen.

Diese genuin politische Dimension lebt in den schiitischen Gemeinschaften wesentlich stärker fort als bei der sunnitischen Mehrheit – Chomeini sagte deutlich genug, dass der Islam nicht nur eine wahre Politik begründen kann, sondern dass „die Grundlage des Islams in Politik besteht“. „Der Islam ist eine politische Religion; er ist eine Religion, in der alles Politik ist, einschließlich seiner Gottesverehrung.“[9]

In seinem Buch zitiert Buden Živko Kustić, einen katholisch-nationalistischen kroatischen Priester, der verkündete, Katholizismus sei „das Zeichen, daß man nicht bereit ist, auf sein nationales und kulturelles Erbe – das integrale, traditionale Kroatentum – zu verzichten.“[10] Wie dieses Zitat deutlich macht, geht es hier nicht mehr um die Frage eines authentischen Glaubens, sondern um ein politisch-kulturelles Projekt: Die Religion ist lediglich ein Werkzeug und Zeichen unserer kollektiven Identität, ein Indiz für die Größe des öffentlichen Raums, den „unsere“ Seite kontrolliert, für die Behauptung „unserer“ Hegemonie. Deshalb kann Kustić beifällig einen italienischen Kommunisten anführen, der von sich behauptete: „Io sono cattolico ateizzato.“ (Ich bin ein atheisierter Katholik.);[11] deshalb kann sich Anders Breivik, ebenfalls Atheist, auf das christliche Erbe berufen, das die europäische Identität begründe – oder, um es mit Budens Worten zu sagen: „Der neue Glaube tritt jetzt als eine Kultur auf, und zwar im Unterschied zu einer anderen Kultur – sei es die Kultur einer anderen Konfession oder die Kultur des Atheismus in all ihren modernistischen Formen.“[12] Man kann klar erkennen, wie die religiösen Fundamentalisten, die den Kulturrelativismus und den Historismus sonst verachten, bereits in deren Horizont stehen: „Der Raum der Unterscheidung ist jetzt ausschließlich kulturell geworden. Um wahrgenommen und als solche anerkannt zu werden, müssen sich politische Unterschiede und Teilungen zuerst in die Sprache der Kultur übersetzen und als kulturelle Identitäten ausweisen lassen. (…) Kultur wurde zum äußersten Horizont der historischen Erfahrung.“[13]

Unsere Antwort hierauf sollte in einer Politik der Wahrheit bestehen – einer universalistischen Politik, die jeder Form von kommunitaristischem Kulturalismus eine Absage erteilt.


[1] Titel des Originaltextes: Why Charlie Hebdo?
[2] Ich stütze mich hier auf das (unveröffentlichte) Manuskript von Julia Reinhard Lupton (University of California, Irvine) und Kenneth Reinhard (University of California, Los Angeles): The Subject of Religion. Lacan and the Ten Commandments.
[3] Online unter: http://www.goodreads.com/author/quotes/6173212.Ruhollah_Khomeini (Stand 14.3.2015)
[4] http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/russia/10856197/Putin-attacks-Eurovision-drag-artist-Conchita-for-putting-her-lifestyle-up-for-show.html (Stand: 14.3.2015)
[5] http://www.mirror.co.uk/tv/tv-news/russia-slams-eurovision-winner-conchita-3525396, dt.: http://www.spiegel.de/kultur/tv/wurst-triumph-beim-esc-russische-politiker-werden-ausfaellig-a-968777.html (Stand: 14.3.2015)
[6] Boris Buden: Zone des Übergangs. Vom Ende des Postkommunismus. Frankfurt/M., Suhrkamp 2009
[7] Fethi Benslama: La psychanalyse a l’épreuve de l’Islam. Paris, Aubier 2002, S. 320
[8] Ebd.
[9] http://www.goodreads.com/author/quotes/6173212.Ruhollah_Khomeini
[10] Buden: Zone des Übergangs, S. 146
[11] Ebd.
[12] Ebd., S. 118
[13] Ebd., S. 61


 

Weblinks
„Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage

Slavoj Žižek

Slavoj Žižek

Slavoj Žižek, geboren am 21. März 1949 in Ljubljana, ist Philosoph, Kulturkritiker und Theoretiker der Psychoanalyse. Bekannt geworden ist er durch die Weiterentwicklung der Psychoanalyse Lacans in das Feld der Populärkultur und Gesellschaftskritik. Zudem setzte er sich mit Hegel und Marx, Poststrukturalismus, Medientheorie, Feminismus und Cultural Studies auseinander. Seine Streitschrift „Blasphemische Gedanken“ erschien Anfang März im Ullstein Buchverlag.

Foto: © privat

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