Freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit sind die Themen der Stunde. Gegen eine Kriminalisierung des Wortes, nicht im religiösen, dafür im politischen Sinn, begehrt Erri De Luca in seiner aktuellen Streitschrift „Mein Wort dagegen“ auf.
Der Anlass: Am 28. Januar 2015 muss sich Erri De Luca vor Gericht verantworten. Ihm wird „Anstiftung zur Sabotage“ vorgeworfen. Streitpunkt ist die Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Turin und Lyon, TAV, für die rund 60 Kilometer Tunnel durch die Alpen gebohrt werden sollen. Erri De Luca unterstützt die Gegner dieses Projekts mit seiner prominenten Stimme.
Nun ist sein Wort – und nichts als sein Wort – Grund genug für die französische Eisenbahngesellschaft LTF, ihn zu verklagen.
Auf der Website „iostoconerri.net“ haben sich zahlreiche Kulturschaffende und Künstler mit Erri De Luca solidarisiert. Die Streitschrift erscheint gleichzeitig in Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland.
Im folgenden Textauszug schildert Erri De Luca, wie er selbst durch Literatur zum politischen Menschen wurde und reflektiert über die Frage, was „Anstiftung“ mit Literatur zu tun hat. Seine Streitschrift erscheint am 27. Januar im Graf Verlag.
von Erri de Luca

Foto: Pulcheri via Flickr
Einflüsse
Die Literatur ist eine Zielgerade, die nicht nach Gattungen und Themen verläuft. Sie ereignet sich plötzlich, und wenn sie dies tut, ist sie ein Fest für den Lesenden.
Als junger Mann wurde ich nach der Lektüre von George Orwells Mein Katalonien zum Anarchisten. In einem Alter, wo einem alle Möglichkeiten offen stehen, habe ich mich auf eine Seite geschlagen. Meine Gefühle zu diesem Bekenntnis haben sich nicht geändert. Literatur wirkt auf die Nervenfasern, das spürt jeder, der das Glück hat, die Begegnung zwischen einem Buch und seinem eigenen Leben zu erfahren. Solche Treffen kann man weder verabreden noch anderen empfehlen. Jeder Leser hat Anrecht auf den überraschenden Moment, wenn das eigene Erleben und die Seiten eines Buches sich plötzlich verschränken.
Orwell hat nichts in mir ausgelöst mit seinem Roman 1984, wo er die Figur des Big Brother erfindet, die von der gleichnamigen Fernsehsendung verfälscht übernommen wurde. Hingegen hat er meinem Leben eine andere Richtung gegeben mit den spanischen Anarchisten des Bürgerkriegs, in dem er selbst freiwillig kämpfte. Vielleicht war in meiner neapolitanischen Erziehung der Gefühle der Widerstand gegen Autoritäten schon angelegt. Vielleicht hat diese Stadt, die mich umgab, dazu beigetragen, dass ich mich eher den spanischen Anarchisten brüderlich verbunden fühlte als den russischen Bolschewisten.
Mein Katalonien war der erste Pflock meines Zeltes, das ich mir jenseits aller Parteien und Parlamente aufschlug. Der Tod des anarchistischen Eisenbahners Giuseppe Pinelli, der am 15. Dezember 1969 aus einem Fenster im vierten Stock des Polizeipräsidiums von Mailand stürzte, hat diesen Pflock noch tiefer hineingetrieben.
In den darauffolgenden Jahren kämpfte meine Generation für den Freispruch der Anarchisten, die wegen des Attentats auf die Banca dell’Agricoltura am 12. Dezember 1969 in Mailand angeklagt waren. Wir gewannen: Die Anarchisten wurden freigesprochen. Und wir verloren: Keiner der wirklich Schuldigen wurde verurteilt.
Ich versetze mich zurück in das Ich, das ich damals war, und versuche mir vorzustellen, was einen jungen Menschen heute dazu bewegt, sich in einem Kampf wie dem im Val di Susa zu engagieren, der so massiv verleumdet und unterdrückt wird. Ein junger Mensch, vielleicht aus einer ganz anderen Gegend Italiens, gefährdet seinen Namen, sein Gesicht und sein polizeiliches Führungszeugnis, um sich auf die Seite der »No TAV«-Aktivisten im Val di Susa zu stellen. Vielleicht braucht dieser Mensch keinen Orwell, der ihm vom großen Kampf des Volkes erzählt. Ihm genügt das Wissen, dass es im Volk einen Willen zum zivilen Ungehorsam gibt, um sich anzuschließen. Doch wenn er die Gelegenheit hätte, einen Orwell von heute zu lesen, der ihn bewegt, würde ich das gerne sein. Ja, ich möchte der zufällig entdeckte Autor sein, dessen Seiten eins werden mit dem eben aufkeimenden Sinn für Gerechtigkeit, der den Charakter eines jungen Staatsbürgers formt.
Nun erläutere ich, so gut ich kann, die Anklage, die gegen mich erhoben wird: Anstiftung. Anstiftung zu einem Gerechtigkeitsgefühl, das bereits vorhanden ist, aber noch keine Worte gefunden hat, noch keinen Ausdruck.
Ein Gefühl, das einen plötzlich aufstehen und das Buch beiseitelegen lässt, weil das Blut zu Kopf gestiegen ist, die Augen brennen und man nicht mehr weiterlesen kann. Zum Fenster gehen, es öffnen, hinausschauen, ohne etwas zu sehen, weil sich alles im Inneren abspielt. Tief einatmen und eine neue Entschlossenheit wie Sauerstoff im Blut spüren. Lehrling einer neuen Gerechtigkeit werden, die auf der untersten Stufe beginnt und sich gegen jene ganz andere im Gerichtssaal auflehnt. Angestiftet werden, wie es mir mit Mein Katalonien von Orwell erging. Die Anstiftung, für die man mich verklagt hat, ist nichts im Vergleich zu dieser Anstiftung, die ich bewirken möchte.

Foto: Paola Porrini-Bisson
Anstiftungen
Ein Schriftsteller gibt sein Bestes, wenn er zur Lektüre und manchmal sogar zum Schreiben anstiftet. Pasolini stiftete mich dazu an, mir im Widerspruch zu ihm eine Meinung zu bilden. Er war ein Intellektueller, dessen Aufgabe es ist, einen Gedanken bis an seine Grenzen auszuloten, um so dem Leser den Umfang des Gegenstands vor Augen zu führen. Wer hingegen der vorherrschenden Meinung und dem Herdentrieb folgt, entzieht seinem Teig die Hefe und das Salz.
Außerdem besaß Pasolini im Übermaß körperlichen Mut, der sich darin äußerte, allein im Niemandsland zu verharren. Ich erinnere mich, wie er bei den Demonstrationen der revolutionären Linken teilnahm: Zwischen unseren geschlossenen Reihen und denen der Polizeitruppen entstand ein Freiraum. Die Geschäfte ließen ihre Rollläden herunter, die Passanten verschwanden. In dieser komprimierten Leere konnte man einen Mann sehen, der dort war, um Zeuge zu sein. Er trug einen hellen Trenchcoat, Jackett, Krawatte und ein weißes Hemd. Er blieb dort, wo keiner seinesgleichen zu bleiben wagte. Er konnte es.
Ich erwähne Pasolini, um die Zeit damals mit der heutigen zu vergleichen. Obwohl als Homosexueller aus der kommunistischen Partei (PCI: Partito Comunista Italiano) ausgeschlossen, unterstützte er die Argumente der revolutionären Linken. Er war bereit, als presserechtlich verantwortlicher Redakteur von Lotta Continua zu fungieren, damals eine Monatszeitschrift, noch keine Tageszeitung. Eine Zeitung musste, um gedruckt und vertrieben werden zu können, einen im Berufsregister eingetragenen Journalisten als verantwortlichen Redakteur haben. Bei ihm landeten die Strafanzeigen. Damals waren viele Intellektuelle bereit, für eine Zeitung verantwortlich zu zeichnen, für die sie nicht schrieben und deren Richtung sie nicht teilten, die aber Leute wie sie brauchte, um erscheinen zu können. Um der Pressefreiheit willen nahmen sie Strafanzeigen und Prozesse auf sich.
Pasolini zeichnete gemeinsam mit Giovanni Bonfanti verantwortlich für die Regie eines Films von Lotta Continua: 12 dicembre. An diesem Tag im Jahr 1969 richtete eine Bombe in der Banca dell’Agricoltura in Mailand ein Blutbad an. Ein Jahr später erzählte der Dokumentarfilm 12 dicembre von den darauffolgenden entscheidenden Monaten in einem Italien, das einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel durchlebte. Achtzig Kilometer Filmmaterial wurden gedreht.
So war das kulturelle Klima damals: Der wichtigste italienische Intellektuelle stand auf Seiten der revolutionären Linken und schrieb zugleich für große überregionale Zeitungen und wurde regelmäßig vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen eingeladen.
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Einem Schriftsteller fällt vom Schicksal eine kleine Stimme in der Öffentlichkeit zu. Er kann sie benutzen, um mehr zu tun, als für seine Werke zu werben. Sein Gebiet ist das Wort, also hat er die Aufgabe, das Recht aller auf freie Meinungsäußerung zu schützen. Ich denke dabei in erster Linie an die Stummen, die zum Schweigen Gebrachten, die Inhaftierten, die von Informationsorganen Verleumdeten, die Analphabeten und die, die als Neuankömmlinge die fremde Sprache noch nicht beherrschen.
Bevor ich nun veranlasst wurde, mich für meine eigene Sache einzusetzen, darf ich sagen, dass ich mich um das Recht auf Redefreiheit all jener gekümmert habe.
»Ptàkh pìkha le illèm«: Tu deinen Mund auf für den Stummen (Mischle 31.8). Dies ist, über das Kommunizieren hinaus, die gesellschaftliche Aufgabe des Schriftstellers: Sprecher zu sein für die, denen keiner zuhört.
Salman Rushdie hat mit seinen Satanischen Versen den Protest islamischer Massen gegen eine aus seinem Text herausgehörte Blasphemie entfesselt. Menschen sind auf die Straße gegangen und durch diese Reaktion auf ein Buch sogar zu Tode gekommen. Goethes Die Leiden des jungen Werthers führte zu einer Selbstmordwelle unter jungen Menschen in Europa. Mit weniger dramatischen Folgen hat Reinhold Messner durch seine Bücher Leser zum Bergsteigen angeregt und Alpinisten angespornt, es seinen Pionierleistungen nachzutun. Mauro Corona hat seinen Lesern Lust darauf gemacht, Erto zu besuchen und die Talsperre des Vajont zu besichtigen.
Sind das Fälle von Anstiftungen? Oder, bei größerer Genauigkeit der Sprache und ohne strafrechtliche Konsequenzen, einfach nur Wirkungen, die etwas mit dem Verb »inspirieren« zu tun haben? Wenn aus dem öffentlichen Wort eines Schriftstellers Taten folgen, ist das ein unbeabsichtigtes Ergebnis, das sich seiner Kontrolle entzieht.
Mehr vermögen Worte nicht, auch wenn sie zu stürmischerem Einsatz aufrufen: »Aux armes citoyens«, diese Anstiftung gibt es in der Marseillaise, der französischen Nationalhymne, der schönsten, die ich kenne. Sie ruft zum Bürgerkrieg auf, die Menschen sollen die Waffen gegen den Tyrannen erheben. Jedem Aufstand dient sie insgeheim als Tonspur. Claude Joseph Rouget de Lisle, der Verfasser des Textes, wartet seit zwei Jahrhunderten auf eine Strafanzeige wegen Anstiftung.
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