Am Sonntag findet der diesjährige Europäische Tag der jüdischen Kultur statt – zugleich steht der 150. Jahrestag der Einweihung der Neuen Synagoge in Berlin an. Als gebürtiger Berliner kennt Ullstein-Autor André Herzberg die Gegend um die Oranienburger Straße gut und hat die Entwicklung des Viertels nach dem Mauerfall mit Interesse verfolgt.
von André Herzberg
Neue Synagoge, Oranienburger Straße, Berlin (Foto: Kuli, Wikimedia Commons, CC0)
Es war die Zeit kurz nach dem Fall der Mauer, der in unser Leben so grundlegende Änderungen bringen sollte. Die gute alte Oranienburger Straße in Ostberlin fing an, sich zu verwandeln. Am auffälligsten war es in der Nacht. Alle paar Meter standen für unser Auge seltsam aussehende Gestalten. Bunt und voller Glitter, hohe Stiefel, darunter hautfarbene Strümpfe, suggerierte Nacktheit zu der Kälte, die vom gelblichen Licht der altmodischen Peitschenmasten kam. Die Haare zu hohen Frisuren aufgetürmt. Wie Uniformen wirkte die Verkleidung und sollte Sicherheit geben. Die Autos fuhren langsam an der Reihe der Gestalten vorbei, ab und zu hielt eines an, dann stieg nach kurzer Verhandlung eine ein, das Auto scherte aus dem Korso aus, um die Gestalt bald darauf wieder abzusetzen.
Am Tag hieß es dann plötzlich, es wäre früher das berühmte, jüdische Viertel gewesen. Meine Kariere nahm zu der Zeit einen Knick nach unten und ich musste mich nach neuen Verdienstmöglichkeiten umschauen. Da dort, mitten auf der Oranienburger Straße, auch die mir bekannten Gemeinderäume, sowie die Ruine der Synagoge stand, die plötzlich von vielen Touristen umschwärmt wurde, Lokale in der Nähe statt „Sorgenpause“ und „Zur Quelle“ nun „Katz“ und „Silberstein“ hießen, hatte ich die Idee, mir Schläfenlocken zu besorgen, mir einen weißen Umhang umzuhängen, einen hohen, schwarzen Hut aufzusetzen und meine Gitarre umzuhängen, den leeren Koffer neben mich zu stellen und vor der Synagoge als Straßenmusiker zu arbeiten.
Ich gebe zu, es scheiterte auch an der nötigen Spielerlaubnis, denn dieser Bereich der Stadt wird besonders gut von der Polizei geschützt. Deshalb werden Straßenmusiker, die dort herumlungern, keine guten Karten haben. Aber ich hatte diese Idee für ein Lied, was ich, verbunden mit einigen Tanzschritten, gesungen hätte: Wenn ich einmal reich wär, oidiwidiwidiwidiwidibum.
Inzwischen habe ich mich längst an die neue Oranienburger Straße gewöhnt und meine Kariere hat, Hashem sei Dank, wieder Fahrt aufgenommen, so dass mir dieses Kapitel erspart blieb.
Seit einigen Jahren, also auch in diesem, findet der Tag der jüdischen Kultur statt. Bei diesem Begriff habe ich allerdings mein Staunen noch nicht verloren. Immer noch frage ich mich, was jüdische Kultur sein soll. Am ehesten kann ich mich mit der Bezeichnung „wurzellose Kosmopoliten“ identifizieren, wie jüdische Künstler genannt wurden. Da empfinde ich Stolz, so würde ich auch gern bezeichnet werden, obwohl meine Familie seit 1492 in Deutschland lebt, wie mein Vater noch einmal in seiner Grabrede anmerkte.
Wenn Juden sich mit ihrer Geschichte und ihrer Religion auseinander setzen, dann sollte dabei so etwas wie jüdische Kultur heraus kommen.
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