Die Mauer durchbrechen

2,5 Millionen Kinder werden in Deutschland regelmäßig Opfer physischer oder psychischer Gewalt. Die Jugendämter nehmen jährlich 45.000 Kinder aufgrund von Misshandlungen in der Familie in Obhut – Tendenz steigend. Auch unser Autor Markus Breitscheidel war als Kind betroffen. Warum er sich entschlossen hat, seine Geschichte zu erzählen, beschreibt er hier.

von Markus Breitscheidel

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Beinahe hätte ich die Schreie des Kindes überhört. Ich kam gerade aus dem Rathaus der chinesischen Stadt Nanning. Dort hatte ich mit diversen Kommunalpolitikern Gespräche zum Thema Altenpflege geführt. China schaut in diesem Themenfeld wissbegierig auf das deutsche Gesundheitswesen. Als Experte werde ich deswegen oft um Rat gefragt. Auf dem Weg zum Mittagessen gingen wir durch einen kleinen Park. Vertieft in eine ernste Diskussion mit dem stellvertretenden Bürgermeister nahm ich meine Umgebung nur eingeschränkt wahr.

Doch etwas riss mich aus der Konzentration, dann hörte ich auch die äußere Stimme. Sie war eigentlich nicht zu überhören. Obgleich niemand außer mir sie wahrzunehmen schien. Es war die Stimme eines kleinen Jungen, keine fünfzig Meter entfernt. Jammernd und heulend versuchte er sich vor einem volltrunkenen Mann zu schützen, der zornig auf ihn einprügelte.

Ohne nachzudenken, rannte ich los und stürzte mich auf den Mann und entriss den Knaben seiner Gewalt. Er brüllte mich betrunken und auf Chinesisch an. Ich verstand kein Wort, aber es war klar, dass ihn nur meine offensichtliche körperliche Überlegenheit davon abhielt, auf mich loszugehen. Schnell waren auch meine chinesischen Begleiter aus dem Rathaus zur Stelle. Sie konnten ihn beruhigen. Der kleine Junge klammerte sich aber immer noch schutzsuchend an meinen Beinen fest.

Eigentlich war ich in dieser Situation der Held. Doch statt mit stolz geschwellter Brust stand ich zitternd zwischen all den Menschen. Tränen liefen meine Wangen herab. Und an die Dimensionen professioneller Altenpflege war nicht mehr zu denken. Stattdessen beherrschte das Thema „Gewalt in Familien“ die Gespräche des restlichen Tages – auch in China ein weit verbreitetes Problem.

Es war dieser Moment, als mir bewusst wurde, wie sehr ich die traumatischen Erlebnisse meiner eigenen Kindheit verdrängt hatte.

Gewalt in Familien war für mich kein theoretisches Problem. Es ging nicht darum, Erkenntnisse über die Problematik in Deutschland mit der in China abzugleichen. Es ging um meine ganz persönliche Erfahrung, mein Leben, meine Familie, meine Kindheit. Es ging um meine Geschichte, aber auch um eine Gegenwart, die ich bislang ausgeblendet hatte: Viel zu viele Kinder müssen in unserem Land Gewalt erleben. Auch heute noch.

Zurück in Deutschland begann ich sofort zu recherchieren. In Gesprächen mit Jugendämtern, dem Kinderschutzbund und der Polizei erfuhr ich, dass es wissenschaftlich belegt etwa 2,5 Millionen Kinder in Deutschland gibt, die Gewalt erlebt haben. Ich war geschockt. Solch eine Zahl lässt sich nicht in Fußballmannschaften ausdrücken, nicht in Schulklassen, nicht mal in Kleinstädten. Es leben insgesamt etwa 15 Millionen Minderjährige in Deutschland. Jedes fünfte Kind hat schon Gewalt erlebt.

Diese Zahl ließ mich nicht mehr los. Ich kämpfte mit mir selbst. In mir stieg die Angst hoch, mich mit den eigenen Erfahrungen näher auseinandersetzen zu müssen. Aber es gab kein Zurück mehr. Nach langen Gesprächen mit meiner Mutter und meinem ältesten Bruder beschloss ich, mich diesen Ängsten zu stellen und meine Geschichte aufzuschreiben.

Zuerst fiel es mir schwer, die über Jahre errichte Mauer in mir zu durchbrechen und überhaupt zu fühlen, was ich da aufschreiben wollte.

Doch bald spürte ich, dass mir das Schreiben, Denken und Fühlen gut tat. So entstand allmählich das Konzept für ein Buch. Drei Monate lang arbeitete ich täglich an dem Manuskript. Doch je näher ich dem Ende kam, desto mehr wuchs die Unsicherheit, ob ich meine Geschichte tatsächlich veröffentlichen sollte. Schließlich hatte ich bis dahin mit sehr viel Energie einen Schutzmantel rund um meine Verletzlichkeit aufgebaut. Niemand hatte bislang derart tief in Innerstes blicken können. Und jetzt sollte ich mich quasi „nackt“ wildfremden Lesern präsentieren? Vertrauensvolle Gespräche mit dem Verlag und dem Kinderschutzbund gaben mir den Mut, das Buch zu veröffentlichen. Ich hoffe, dass es anderen Betroffenen den Mut gibt, ihren Schutzwall zu durchbrechen und darüber zu reden, worüber sie noch nie geredet haben. Es gibt Menschen, die ebenfalls beim Spaziergang im Park die Klagen eines Kindes hören. Die Klagen von 2,5 Millionen Kindern können und dürfen nicht überhört werden. Es ist Zeit hinzuhören!


 

Das Buch
VS_9783430201995-Breitscheidel-Nicht-auf-den-Kopf_U1.inddGewalt in der Familie ist ein Tabuthema – obwohl Jugendämter jährlich 45.000 Kinder deshalb in Obhut nehmen. Die Dunkelziffer liegt noch deutlich höher. Markus Breitscheidel wurde in seiner Kindheit und Jugend selbst Opfer von massiver Gewalt in der Familie. Mit diesem Buch liefert er uns einen emotional packenden Blick in den Alltag eines Kindes, das mit der allgegenwärtigen Angst aufwächst, geschlagen und gedemütigt zu werden. Und er beschreibt, wie Nachbarn, Lehrer, Ärzte, aber auch seine Großeltern jahrelang über die Gewaltexzesse seines Vaters hinwegsahen.
Breitscheidel stößt mit diesem sehr persönlichen Buch eine längst überfällige gesellschaftliche Debatte über das Tabuthema Gewalt in der Familie an.

Links
Nicht auf den Kopf! auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die offizielle Website von Markus Breitscheidel

Markus Breitscheidel

Markus Breitscheidel

Markus Breitscheidel, Jahrgang 1968, ist investigativer Journalist und Autor. Sein Buch Abgezockt und totgepflegt, ein Undercover-Bericht über die Zustände in deutschen Pflegeheimen, wurde zum Bestseller und löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus.

Foto: © J. Rammonat

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Ein Kommentar

  1. […] Gewalt ist alltäglich. Breitscheidel schreibt: „Es gibt in Deutschland rund 350 Frauenhäuser und Frauenschutz-Wohnungen. Dort suchen jährlich etwa 40.000 Frauen und Kinder Schutz. Zu viele. mehr als geschützte Plätze für sie vorhanden sind. Wegen Überfüllung abgeleht – und gehen `heim`.  Zum Schikanierer.“ Und fügt hinzu: „Ich will, dass sich das ändert. Deshalb schreibe ich dieses Buch.“ Seite 9. „Es ist erschreckend, dass wir keinerlei Indizien haben, dass die Zahl der unter Gewalterfahrungen leidenden Kinder im Sinken ist.“, schreibt die stellvertretende Geschäftsführerin beim Deutschen Kinderschutzbund, Cordula Lasner-Tietze. „`Es gibt ein gesellschaftliches Umfeld, das Gewalt an Kindern einfach ignoriert`, fügt Breitscheidel hinzu. Bei seinen Recherchen sei ihm klar geworden, dass sehr viele Kinder betroffen seien, dass aber kaum jemand ein Interesse habe, das Ausmaß öffentlich zu machen: `Das ist ein ungemeines Tabuthema.` Kinder würden noch zu sehr als Besitz ihrer Eltern angesehen, ihre Situation als Privatangelegenheit betrachtet.“ Quelle: T-Online Das es sich ändert, Gewalt in Familien eingestellt wird, ist kein leichtes Unterfangen. Breitscheidel konnte „von Glück1“ davon reden, einen sogenannten „Wissenden Zeugen“ gekannt zu haben: Die Eltern seines besten und viel zu früh an Krebs verstorbenen Freundes, er hatte Brüder, die zueinander hielten, eine Mutter, die trotz eigener schwerster Misshandlungen, zu dem Jungen stand. Man zog kurzfristig aus dem Haus aus, harrte, zu Viert, eine Weile in einer engen 3-Zimmer-Wohnung aus – nur weg vom Täter, dem Ehemann, dem  Vater – und: Geld- und Machthalter. Doch man scheiterte. Aus finanziellen Gründen. Der Vater, der Führer, der Misshandler, der Geld- und Machthalter hatte alles. Hinzu kamen die typischen sozialen Vorurteile. Wohnte man nicht im schicken Eigenheim, in seiner Gegend, galt man als asozial: Mit-denen-wollen-wir-nichts-zu-tun-haben. Ergo: Man zog zurück ins Terror-Eigenheim. „Glück2“ für Markus: Seinen Willen zu überleben, konnte der Vater nicht zerstören. Er schaffte Schule, fand Freunde, fröhnte Hobbies, die sein Selbstbewußtsein stärkten. Dennoch: das kleine Kind litt unter Überforderung, wie sollte er sich und seine Mutter schützen? Nach der körperlichen Gewalt, die Markus und auch seine Brüder mit der Zeit und dem Wachsen immer mehr zu widersetzen schafften, setzte der Vater eine „neue Art der Gewalt“ ein: „Untrerlassen“ (siehe Seite 161). Doch auch hier obsiegte der Junge, er erlangte gegen den Täter, seinen Vater, eine juristischen Niederlage und konnte den Täter zum Zahlen der Ausbildungskosten zwingen. Doch es kam noch besser: Nach 15 Jahren gelang es ihm, seine Brüder und seiner Mutter dass der Täter, der Vater, dass Haus verlassen musste, und es kam zur Scheidung.  Die Vergangenheit „läßt sich nicht ändern“, resumierte er am Ende seiner Autobiografie. „Das Buch zu schreiben hat mich noch mal in Unruhe versetzt. Das halte ich aus. Sprechen und Schreiben hilft. Mir. Vielleicht und hoffentlich auch anderen.“ Seite 180. Im Nachwort versuchen Sabine Andresen und Cordula Lasner-Tietz zu erklären, wie man der Gewalt im Elternhaus entrinnen kann, wie man Hilfe findet- und: wie Außenstehende eingreifen können. Es werden besprochen: „Wie lebt ein Kind mit Gewalterfahrung?“, „Was braucht ein Kind mit Gewalterfahrung?“, wie kann ein Kind dieses positive, aktive Selbstbild stärken“? „Was braucht es, um Gewalt an Kindern zu erkennen?“, „Die Bedeutung von Beratung?“, Welche Art der Hilfe gibt es?, Wie funktioniert eine solche Beratung? Was bedeutet `staatliches Wächteramt`“?. Abgerundet wird das Buch mit Informatonen des Deutschen Kinderschutzbundes Bundesverband e.V. (DKSB), eine Adressen-Liste mit Beratungsstellen sowie 8 Punkte, die der Deutsche Kinderschutzbund zum Schutze der Kinder vor Gewalt fordert. Fazit und Kritik Fazit: Breitscheidels Buch schildert teils detailgenau schlimmste Missshandlungen durch seinen Vater an sich, seine Brüder und Mutter. Es schockiert und könnte bei sensiblen Personen triggern. Der Autor ist nicht der erste, der über Misshandlungen berichtet, vieles ist nicht neu. Berichte über Gewalt gegen Kinder schrieben vor ihn schon u.a. auch Forscherinnen wie Alice Miller (in diversen Publikationen), Mediziner Michael Tsokos & Saskia Guddat („Deutschland misshandelt seine Kinder“) und Autoren wie Carl-Heinz Mallert (Untertan Kind), Mariella Mehr, Manfred Bieler (Still wie die Nacht. Memoiren eines Kindes), Eno S. (Muss denn Wahrheit eine Sünde sein), Ingrid Müller-Münch („Die geprügelte Generation“), Lloyd de Mause – „Hört ihr die Kinder weinen: Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“, .. um nur einige zu nennen. Aber: Es ist wichtig, dass solche Bücher erscheinen – und Breitscheidels Bericht ist einer der besseren, weil authentischeren und ehrlicheren seiner Art. Je mehr Opfer berichten, um so mehr rückt das Thema in den Vordergrund und in die Medien. Die Politik alleine, und das zeigt die Geschichte, ist beim Schutz von Kindern zu läppisch. Wir Bürger, Nachbarn, Lehrer sind mehr denn je gefragt, unsere Kinder zu schützen und bei Gewalt einzugreifen: kühl, überlegt und unter Hilfenahme der Behörden. Auch Behörden versagen, leider, teils aus Überforderung, teils aus Unterfinanzierung. Auch hier ist der Bürger gefragt, mit Aufmerksamkeit und Respekt – und Kontrolle. Kritik: Als Kritik sei zu nennen, dass in dem Buch viel zu kurz kommt, dass auch Mütter und Frauen ihre Kinder misshandeln, missbrauchen und töten, wie Alexander Markus Homes in seinem Buch „von der Mutter missbraucht“ und Michael Tsokos & Saskia Guddat, in ihrem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“, beschreiben. Auch fehlt dem Verfasser eine klare Aussage: Wenn Eltern ihre Kinder misshandeln, ist dieses alleine die Schuld der Täter/innen, es ist nichts zu beschönigen – und vor allem nichts zu verzeihen. Auch wird zu wenig über Fehlinterpretationen von Psychologen und Psychotherapeuten hingewiesen, die die Täter immer wieder in Schutz nehmen. Ebenso vermisse ich eine Forderung nach härteren Maßnahmen und Verurteilungen von Tätern und Täterinnen. Ebenso muss klar und deutlich hervorgehoben werden, dass ein Nichthandeln von Ehepartnern bei Gewalt, als Strafdelikt (Mithilfe durch Duldung) mehr geahndet werden muss. Eine Milliarde Kinder werden weltweit misshandelt Zum Schluß sei bemerkt, dass Gewalt in Familien und gegen Kinder ein weltweites Phänomen ist. Leider findet der Autor in seinem Buch darüber kein Wort. UNICEF hat in dem Report „Hidden in Plain Sight“ (hier als pdf)  festgestellt, dass extreme, tödliche Gewalt gegen Kinder zum Glück relativ selten vorkommt, jedoch gehören Schläge, Anschreien und andere Formen der Misshandlung für die meisten Kinder auf der Welt weiter zum Alltag. Sechs von zehn Kindern zwischen zwei und 14 Jahren erleben regelmäßig körperliche Strafen. Dies sind etwa eine Milliarde Kinder. Schwere Schläge – zum Beispiel ins Gesicht, auf den Kopf oder harte Prügel sind zwar weniger verbreitet. Die Auswertung von Daten aus 58 Staaten bestätigt solche Erziehungspraktiken dort jedoch für 17 Prozent der Kinder – also etwa jedes sechste Kind. Tipp: Bücherliste zum Thema Linktipp: Kriegsursachen, destruktive Politik und Kindheit Autorenwebseite Markus Breitscheidel Unter „resonanzboden.com“ erzählt Markus Breitscheidel, was ihn dazu bewogen hat mit dieser sehr privaten Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen (hier). […]

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