Anlässlich des 80. Geburtstags von Joan Didion am 5. Dezember erzählt Ullstein-Verlegerin Siv Bublitz, wie sie die Autorin für sich entdeckte – erst als Leserin, später als Lektorin und Verlegerin. Ein persönlicher Blick auf eine Meisterin des literarischen Erzählens.
von Siv Bublitz

© Phillip Capper / Creative Commons 2.0
„Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“ Das war der erste Satz, den ich von Joan Didion las. Ich studierte damals in England und war beim Stöbern in einer Buchhandlung auf ihre Essaysammlung „Das weiße Album“ gestoßen. Der Satz beindruckte mich. Es waren die frühen 80er Jahre, die Literatur war eher ironisch, die Literaturwissenschaft gab sich spielerisch. Und dann dieser Anfang für ein Buch: schlicht und voller Pathos.
„Das weiße Album“ beschreibt Kalifornien in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Es ist eine Zeit der Paranoia und Gewalt, der Titel spielt auf den Mörder Charles Manson an, der behauptete, er sei durch einen Song auf dem Album der Beatles inspiriert worden. Joan Didions Essay schildert die Bruchstücke einer aus den Fugen geratenen Welt mit analytischer Präzision und Sinn für einprägsame Details. Ihre überempfindliche Wahrnehmung ist Medium und zugleich Teil der verschwimmenden Wirklichkeit, ihr Schreiben ein Versuch, das Chaos zu bezwingen, es mit den Mitteln der Sprache zu ordnen und zu deuten. Das ist ein Leitmotiv in Didions Werk: Die Welt befindet sich in Auflösung, die Perspektiven verschieben sich, „Die Mitte hält nicht mehr“, wie es in „Stunde der Bestie“ nach einem Gedicht von Yeats heißt. Die Gegenwart ist eine Art apokalyptischer Dauerzustand, den sie, die Schriftstellerin, durch ihre Beschreibung bannt. Die Unordnung des Seins ist chancenlos gegen die Klarheit und Schönheit ihrer Prosa.
Fortwährend entdeckte ich neue Seiten an dieser merkwürdig unzeitgemäßen Autorin: etwa ihre nahezu romantische Verklärung der kalifornischen Landschaft, der archaischen Welt der frühen Siedler und später der reichen Grundbesitzer, die das Land urbar machten und unter sich aufteilten, um es zu beherrschen und gegen die Moderne zu verteidigen. Didion selbst stammt aus diesem Milieu, ihre Vorfahren kamen mit den großen Trecks des 19. Jahrhunderts nach Kalifornien. Mit den Erzählungen von Hunger, Krankheit, Schneestürmen in der Sierra Nevada und qualvollen Märschen durch die Wüste wuchs sie auf. Didions erster Roman, „Menschen am Fluss“, schildert den Niedergang der Rancherfamilie McClellan als spätes Erbe jener martialischen Pionierzeit. Das Sacramento Valley ist in diesem Roman mehr als ein Schauplatz, es ist ein mythischer Ort, an dem sich Geschichte vollendet. In dem Essay „Notizen einer Tochter des Landes“ zitiert sie eine Frage aus dem Curriculum der Sonntagsschule: „Inwiefern ähnelt das Heilige Land dem Sacramento Valley?“ Da mag Ironie mitschwingen, dennoch bleibt der Mythos des Westens für Didion das Urbild des amerikanischen Traums. Sie selbst hat diesen nostalgischen Blick durchaus kritisch gesehen, doch verdankt sie ihm einige ihrer schönsten Texte, zum Beispiel den Essay „John Wayne, ein Liebeslied“, mit dem sie dem schwer kranken Helden ihrer Jugend ein Denkmal setzt.
Es war meine erste bewusste Begegnung mit einem Phänomen, das die Amerikaner „narrative non-fiction“ nennen, was mit „erzählendes Sachbuch“ nur unzulänglich übersetzt ist. Auch der Begriff Journalismus oder „new journalism“ trifft es nicht. Es ist ein literarisches Erzählen und fester Bestandteil einer Kultur, die Schriftsteller wie Mark Twain, Hemingway oder F. Scott Fitzgerald hervorgebracht hat. Mit Didion hatte ich für mich etwas Neues entdeckt, eine Erzählform, die ganz in der Gegenwart verankert war und dabei über sie hinauswies, und eine Autorin, die fest auf die Macht des Wortes vertraute. Nach und nach las ich alle ihre Bücher, die Essays noch lieber als die Romane. Didions kühler, klarer Ton begleitete mich fortan durch mein Leben und meine Lektüre.
Jahre später schloss ich mein Studium ab und wurde Lektorin. Als ich für meinen damaligen Verlag ein Projekt mit gutem Ergebnis zu Ende gebracht hatte, bekam ich zwar keine Gehaltserhöhung, durfte mir aber etwas wünschen. Ich wünschte mir Didion. Finanziell wäre die Gehaltserhöhung für den Verlag günstiger ausgefallen: Einige Bücher der Autorin lagen bereits in anderen Häusern auf Deutsch vor, mit sehr bescheidenen Absatzzahlen. Doch der Verlag war auch deshalb erfolgreich, weil er nicht nur in ökonomischen Kategorien dachte, und so entstand im Windschatten von John Updike und Rosamunde Pilcher eine ansehnliche Didion-Edition: Auf die deutschen Erstausgaben von „Menschen am Fluss“ und „Stunde der Bestie“ folgten Neuausgaben der bereits übersetzten Romane und Essays. Das Interesse war verhalten, es gab einige gute Rezensionen, doch die Buchhändler kauften diese Titel kaum ein und die Leser fragten nicht danach. Der Verlag blieb tapfer, irgendwann trennten sich unsere Wege dennoch, und ich ging zu Ullstein.

Joan Didion (© Brigitte Lacombe)
Im Jahr 2005 erschien „Das Jahr magischen Denkens“ in den USA. Didion erzählt darin vom ersten Jahr nach dem Tod ihres Mannes. Diesmal ging es nicht um die Auflösung der Welt um sie herum, sondern um den Zusammenbruch ihres eigenen privaten Lebens. Es ist ein nahezu verzweifeltes Ringen um die Wiederherstellung ihrer persönlichen Ordnung, der Existenzgrundlage ihres klaren Verstandes. Sie kämpft brillant, mit allen Mitteln ihrer Kunst: Sie analysiert, sie deutet, sie zwingt ihre Emotionen in die Form einer genauen, eleganten, fast lyrischen Sprache. Und sie scheitert. Wo sie vorher das Chaos stets mit der Kraft ihrer Worte bannen konnte, steht am Ende dieses Buches eine Kapitulation: „Die Verrücktheit lässt nach, aber keine Klarheit ersetzt sie. Ich suche nach einem Schluss und finde keinen.“
„Das Jahr magischen Denkens“ fand in den USA Hunderttausende von Lesern. Joan Didion bekam dafür den National Book Award. Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel, eine Didion-Leserin der ersten Stunde, übersetzte das Buch hervorragend, es war auch in Deutschland ein großer Erfolg. Im Herbst 2005 besuchte ich die Autorin in ihrer Wohnung in Manhattan. Es war ein freundliches, entspanntes Gespräch, ich hatte das Gefühl, sie schon seit Jahren zu kennen. Ein wenig stimmte das ja auch. Am Ende unserer Unterhaltung sagte sie mir, im vergangenen Sommer sei ihre einzige Tochter gestorben. Darüber schrieb sie in ihrem nächsten und vorerst letzten Buch, „Blaue Stunden“. Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.
Weblinks
Joan Didion auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die offizielle Facebookseite von Joan Didion