Selbstoptimierung war gestern – IKIGAI ist heute

Wofür stehen wir eigentlich jeden Morgen auf? Diese Frage macht den Kern des Ikigai aus. Ikigai? Das ist das Geheimnis eines langen Lebens, wie die Allegria-Lektorin Patricia Holland-Moritz und unser Autor Francesc Miralles auf ihren Streifzügen durch Japan feststellen konnten.

von Patricia Holland-Moritz unter Mitarbeit von Francesc Miralles

Foto: Francesc MirallesDie Autoren Francesc Miralles (li.) und Héctor García in einem Altersheim auf Okinawa. 

Ein japanisches Sprichwort sagt: „Nur, wenn du aktiv bleibst, wirst du dir wünschen, hundert Jahre zu leben.“ Und beim ersten Mal las ich „attraktiv“ statt „aktiv“ und hätte das genauso unterschrieben.

Während sich der Okzident nun fleißig und geschäftstüchtig in Selbstoptimierung übt, kommt aus dem Orient ein Ding namens Ikigai als Schlüssel zum gesunden und damit möglichst langen Leben in Aktivität und Attraktivität. Und das ganz ohne Schnickschnack; es verlangt weder einen aufwendigen Ernährungsplan, noch schlauchende Trainingseinheiten oder teure Fitnessutensilien. Das Ikigai ist bereits das Utensil, ist die Smartwatch des bewusst lebenden Menschen. „Die Kunst zu altern und dennoch jung zu bleiben“ ist eine Eigenschaft des Ikigai, und jeder trägt sie bei sich, aber nur wenige sind sich der eigenen Kunstfertigkeit bewusst.

Spiritualität ist im Alltag angekommen

Obwohl es schon bemerkenswert ist, in welchem Maße spirituelle Themen Einzug in unsere rationale Gesellschaft gehalten haben: Nahezu jeder von uns kennt jemanden, der im Yoga oder Tai Chi Erholung von der 40-Stunden-Woche findet; sich vegan oder paleo ernährt; bei Beziehungsproblemen einem Coach vertraut und eine Meditation mit einem angesagten tibetischen Lama jeder Party vorzieht. Was sich vor noch nicht allzu langer Zeit „Esoterik“ nannte und wie Post vom Finanzamt so lange wie möglich ignoriert und dann kritisch begutachtet wurde, kann sich nun unter dem Begriff einer neuen Spiritualität zunehmender Sympathiepunkte erfreuen. Und nicht nur das: In Zeiten abnehmender politischer, religiöser und sozialer Werte hat der Mensch nur noch einen verlässlichen Partner, nämlich sich selbst. ‚Wer bin ich?‘ wird schon lange nicht mehr mit ‚Und wenn ja, wie viele?‘ beantwortet, sondern ist zu einer existentiellen Frage geworden.

Ein seismographisches Gespür für diese Entwicklung zeigen die Romane von Francesc Miralles. Schon lange interessiert sich der Autor für die Verbindung von Psychologie und Spiritualität. In Miralles` Romane kann man sich geradezu hineinfallen lassen, und sein Faible für Japan bringt er in „Das unvollkommene Leben oder Wie das Glück zu Samuel fand“ mit großer Poesie zum Ausdruck. Sein neuestes Buch – „Ikigai – Gesund und glücklich hundert werden“ – ist das erste Sachbuch des Romanautors, er hat es gemeinsam mit dem Computerspezialisten und Blogger Héctor García (Kirai) verfasst.

Héctor García lebt in Tokio. Von dort – der 13 Millionen-Metropole, die dem Rest der Welt immer einen Schritt voraus ist und dennoch wie ein schlafender Riese in sich zu ruhen scheint – zogen die beiden aus, um auf Okinawa das Geheimnis der Hundertjährigen zu erforschen, von denen es dort weltweit die meisten gibt.

Die Regeln des Ikigai

Was ist es, dieses Ikigai, das die Bewohner angeblich so alt werden lässt? Steht es für die Qualität der Nahrung, der Luft, des Wassers, der Sonneneinstrahlung, oder hat es gar einen mystischen Hintergrund?

Das Ikigai ist schnell beschrieben: Es ist das, wofür man lebt, es ist der Grund, morgens aufzustehen. Es ist kein abgezahltes Haus und auch nicht der gerade zurückliegende Urlaub. Es ist keine aktuelle Liebschaft, die sich morgen wieder erledigt haben kann. Ein Ikigai ist mehr, es ist nachhaltig und es war schon immer da, oft verschüttet von Verhaltensmustern, die unsereins sich schneller angewöhnt als diese zehn einfachen Ikigai -Regeln*:

  1. Bleiben Sie zeitlebens aktiv, setzen Sie sich nie zur Ruhe.
  2. Bewahren Sie die Ruhe.
  3. Essen Sie sich nicht satt.
  4. Umgeben Sie sich mit guten Freunden.
  5. Halten Sie sich fit für Ihren nächsten Geburtstag.
  6. Lächeln Sie.
  7. Nehmen Sie wieder Kontakt zur Natur auf.
  8. Bedanken Sie sich.
  9. Leben Sie den Augenblick.
  10. Folgen Sie Ihrem Ikigai. *

Wie nun seinem Ikigai folgen, wenn man zwar weiß, was es ist, aber nicht, ob man selbst eines hat? Eine Umfrage im Verlag und unter Lesern zeigte die Vielschichtigkeit des Ikigai – der Verlass auf die Familie, die Neugier auf jeden Tag, die Freiheit im Wochenendhaus, die immer wieder neue Verliebtheit in den eigenen Partner, oder – wie in meinem Falle – ich selbst und damit das gute Gefühl bei jeder getroffenen Entscheidung. Das Ikigai wechselt nicht mit dem Umfeld und ist unabhängig von der eigenen Tagesform. Es geht auch nicht verloren, wenn einem bei einer Trennung oder Pleite die Freundin oder das Vermögen abhanden kommen. Das Ikigai lässt uns jeden Lebensumstand bewusst erleben und auch den Ausweg aus einer ausweglos scheinenden Lage erkennen.

Diagramm kleiner für Text

 

Ikigai gegen Stress

Und wo liegt der Zusammenhang zwischen Ikigai und langem Leben? Im Stress und wie Ikigai ihn vermeidet. Stress steht einem langen Leben vermutlich entgegen, und viele Menschen wirken aufgrund von Stress viel älter, als sie tatsächlich sind. Stress setzt degenerative Prozesse im Körper frei, darunter leidet die – eingangs genannte, altersunabhängige – Attraktivität. Was dem Höhlenmenschen die reale Gefahr eines Raubtiers war, ist dem heutigen Menschen das Klingeln des Handys. In der realen Gefahrensituation schüttete der Körper des Höhlenmenschen eine erhöhte Menge an Cortisol zu seinem Schutze aus. Den heutigen Menschen durchströmen permanent kleinere Cortisolmengen.

Viele Menschen hierzulande fühlen sich der japanischen Kultur näher als ihrer eigenen. In Japan sind weder die Teller voll belegt noch die Wohnungen vollgestellt. Minimalismus zieht sich durch jeden Lebensbereich bis hin zur Mode. Das Auge, der Magen, das Äußere, das Umfeld wird von Ballast freigehalten. Nur was im Fokus steht, ist wichtig. Die vielfach belächelte Regelhörigkeit der Deutschen, ihre Disziplin bis hin zur Selbstaufgabe entpuppt sich schnell als Mär. Wir Deutschen sind groß im Verfassen von Regeln, doch im selben Zuge gilt es als hip, sie zu brechen. In Tokio geht man nicht bei Rot über die Straße. Und dieses Verhalten gilt auch bei einer leeren Kreuzung nicht als lächerlich. Regeln zu befolgen bedeutet, ich muss mich in diesem Moment um rein gar nichts kümmern, auch nicht darum, ob nicht doch ein Auto um die Ecke prescht oder ein Polizist in der Nähe ist. Ich kann hier stehen und warten und ganz bei mir sein, bis die Ampel auf Grün schaltet. Kleine Fluchten im Alltag, bewusstes Annehmen einer Situation, keinerlei Ablenkung durch die Möglichkeit anderer Möglichkeiten, Aufgeräumtheit statt Chaos machen es aus, das kleine gute Gefühl im Alltag und vermeiden ihn, den kleinen alltäglichen Stress.

 

Hachiko mit Mädchen Bild für TextInnehalten bei Hachikō, dem Inbegriff an Treue: Der Hund saß noch 10 Jahre nach dem Tod seines Herrchens, einem Universitätsprofessor, am Bahnhof Shibuya und wartete auf dessen Rückkehr. Foto Tokio 2016 © Patricia Holland-Moritz

Dem Ikigai näher kommen

Das Geheimnis jener zu lüften, denen ein langes und ganz offensichtlich glückliches Leben gegönnt ist, war den Autoren Ansporn für ihr Buch. Was kann es für uns alle Spannenderes geben, als das Rezept für ein langes Leben? Mit ihrer Vermutung, damit eine der größten Sehnsüchte des Menschen zu berühren, lagen die Autoren richtig: Ihr Buch „Ikigai“ wurde  unmittelbar nach seinem Erscheinen in Spanien ein großer Erfolg und binnen kurzer Zeit in 30 weitere Länder verkauft. Allein in den Niederlanden gab es im ersten Monat nach dem Erscheinen fünf Auflagen davon. Mittlerweile geht Autor Francesc Miralles mit einem Ikigai-Workshop europaweit auf Lesereise und berichtet von einem überwältigenden Interesse der Menschen. Das eigene Leben mit einem Sinn  und mehr Energie auszustatten, scheint eines der größten Ziele in diesem bewegten Zeiten zu sein. Mit Übungen und in Gesprächen über alles, was sie in ihrem Innersten bewegt, bringt Francesc Miralles jeden Teilnehmer auf die Spur zu dessen Ikigai und damit zu einer einzigartigen Erfahrung.

Sollten Sie nun noch immer nicht wissen, was Ihr Ikigai ist, dann sind das Lesen dieses Artikels und Ihr Nachdenken darüber schon die ersten Vorboten dafür, dass es nicht mehr lange dauern wird bis auch Sie ihn haben, den wahren Grund, morgens aufzustehen.

 

*aus: Francesc Miralles / Héctor García (Kirai): IKIGAI Gesund und glücklich hundert werden, S. 218ff „Zehn Ikigai-Regeln“


Das Buch

9783793423171Den Japanern zufolge hat jeder Mensch ein Ikigai. Ikigai ist das, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen, oder auch ganz einfach: der Sinn des Lebens. Es ist allerdings in uns verborgen, und wir müssen nach ihm forschen. Hier erhalten Sie die Anleitung dafür, wie Sie Ihr Ikigai ergründen können. Finden wir unser Ikigai, haben wir die Chance, gesund und glücklich alt zu werden.

Als Orientierung und Vorbild haben die Autoren die Einwohner der japanischen Insel Okinawa befragt. Dort nämlich leben die meisten Hundertjährigen, die uns hier ihr Geheimnis eines langen Lebens verraten.  Das Buch erscheint am 10. März 2017 bei Allegria. 

 

Links 

Die offizielle Website von Francesc Miralles

„Ikigai“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage 

Héctor García (Kirai)

Héctor García (Kirai)

Héctor García (Kirai) wurde 1981 in Spanien geboren. Nachdem er als Informatiker in der Schweiz gelebt hat, zog er 2004 nach Tokio, Japan, wo er in der Software-Entwicklung tätig ist.

Foto: © privat

Francesc Miralles

Francesc Miralles

Francesc Miralles ist ein Multitalent. Er macht Musik, schreibt, wurde vielfach ausgezeichnet, und arbeitete einige Jahre als Indie-Verleger. Zahlreiche seiner Bücher wurden Bestseller. Heute ist er in seiner Lieblingsstadt Barcelona zuhause.

Foto: © Yan Pekar

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