Wie übersetzt man einen Klassiker neu? Noch dazu dann, wenn es sich um einen der skandalträchtigsten Romane der 1950-er Jahre handelt. Als Rainer Moritz das Angebot erhielt, Francoise Sagans „Bonjour tristesse“ neu zu übersetzen, zögerte er: Würde es ihm gelingen, dem Text einen frischen Tonfall zu verleihen, ohne dabei auf den Sagan’schen Duktus zu verzichten? Wie er sich der Herausforderung stellte und weshalb Sagans Roman, nach über sechzig Jahren, nicht an Bedeutung verliert, erzählt der Übersetzer im Essay.
Von Rainer Moritz
Die Ehrfurcht vor dem Klassiker
Manchen Büchern, die zu Klassikern geworden sind, tritt man mit Scheu und Ehrfurcht gegenüber. Manche Bücher sind zu Legenden, zu Mythen geworden, die eine selbstverständliche, unkomplizierte Annäherung kaum zu erlauben scheinen. Wie soll es zum Beispiel gelingen, sich Fitzgeralds „Der große Gatsby“, Hemingways „Wem die Stunde schlägt“, Camus’ „Der Fremde“ oder Ingeborg Bachmanns „Malina“ unbefangen zu nähern? Zu viele Geschichten, zu viele Interpretationen ranken sich um diese Bücher; zu viel weiß man über das Leben ihrer Verfasser und fühlt sich fast außerstande, all das beim (Wieder-)Lesen zu vergessen.
Françoise Sagans „Bonjour tristesse“ ist ein solcher respekteinflößender Roman. Das hat viel mit der Geschichte seines Entstehens zu tun, mit dem oft zitierten fulminanten Auftritt einer Achtzehnjährigen, die mit ihrem in wenigen Wochen geschriebenen Erstlingsroman 1954 einen Welterfolg vorlegte. Was hatte es mit diesem anfangs als Skandal empfundenen Werk auf sich? Hatte das junge Mädchen diese eigentümliche, vom Mittelmeerduft umspielte „ménage à cinq“ wirklich selbst geschrieben? Wie ließ sich der aufmüpfige, vor Selbstbewusstsein strotzende Geist dieses schmalen Romans begreifen? Wie war es Sagan geglückt, die emotionale Wildheit ihrer jungen Heldin mit einer allgegenwärtigen Melancholie zu verknüpfen und den Zeitgeist der existenzialistischen Jahre spürbar zu machen, ohne sich von diesem vereinnahmen zu lassen?
„Bonjour tristesse“ – der auf ein Gedicht Paul Éluards zurückgehende Titel ist sprichwörtlich geworden, und es ist nahezu unmöglich, dieses Debüt zu lesen, ohne Sagans abenteuerliche, skandalreiche, tragische Biografie im Hinterkopf oder die Bilder der Hollywood-Verfilmung mit David Niven, Deborah Kerr und Jean Seberg in den Hauptrollen vor Augen zu haben.
Als ich das Angebot erhielt, Sagans berühmtes Buch neu zu übersetzen, zögerte ich ein paar Tage. Meine erste Lektüre lag lange zurück. Ich nahm Helga Treichls aus dem Jahr 1955 stammende Übersetzung zur Hand, dazu deren sehr zurückhaltende Bearbeitung, die 2009 im Verlag SchirmerGraf erschienen war, und natürlich das 2014 als Reprint neu aufgelegte Original der Éditions Julliard.
Die Begeisterung wuchs mit jedem Absatz
Ängstlich las ich die ersten Seiten, denn wie viele Romane aus den 1950er- und 1960er-Jahren schließlich gibt es, die nur noch von historischem Interesse sind und über deren Prosa inzwischen eine leicht muffig riechende Patina liegt? Meine Besorgnis verflog schnell: „Bonjour tristesse“ war und ist ein bedeutendes Buch, das nach über sechzig Jahren nichts von seiner Kraft verloren und zeitlose Lebensgefühle in eine wunderbar nonchalante Erzählung verpackt. Meine Begeisterung wuchs mit jedem Absatz: Ja, diesen modernen Klassiker wollte ich übersetzen, ihm ein neues, vielleicht zeitgemäßeres Gewand überstreifen. An Helga Treichls alter Übersetzung konnte ich mich reiben, mich abarbeiten. Natürlich atmet sie den Geist ihrer Entstehung, greift sie mitunter auf altbackene Wendungen zurück. So ging es mir vor allem darum, für „Bonjour tristesse“ einen Tonfall, eine Sprache zu finden, die dem Original Frische zurückgibt und versucht, dem manchmal sprunghaften Sagan’schen Duktus angemessen wiederzugeben, zu bewahren.
Francoise Sagan 1954
Sagan zu übersetzen, das bedeutet nicht, sich mit hoch komplexen Satzperioden, wie sie Marcel Proust oder Claude Simon schrieben, herumzuschlagen und en détail den unterschiedlichen Weisen, wie im Französischen und im Deutschen Sätze gebaut werden, gerecht zu werden. „Bonjour tristesse“ ist auf den ersten Blick ein eingängiger, unkomplizierter Text. Die Dialoge sind knapp und pointiert, die Beschreibungen der Côte d’Azur nicht von großer Weitschweifigkeit. Doch genau diese Konzentriertheit schafft Probleme: Wie mit den kleinen Leerstellen umgehen, die Sagan zwischen ihre einfach gebauten Sätze einschiebt, wie mit den Gedankensprüngen, die nicht immer logisch konsistent wirken?
Schnell stellte sich mir die alte Übersetzerfrage, wie weit man sich vom Originaltext zu entfernen habe, um den Esprit zu erfassen, mit dem Sagan Langeweile und Sinnlichkeit, Überdruss und Traurigkeit in eine sich zur Katastrophe hochschaukelnden Sommererzählung einfließen lässt. Anfangs war ich zu zaghaft, klebte zu sehr an den Originalvokabeln. Dank der klaren Intervention der mit Sagan bestens vertrauten Lektorin Waltraud Schwarze wurde ich mutiger, nahm ihre Vorschläge gerne auf – was am Ende, so die Hoffnung, zu einem deutschen Text geführt hat, der die Lebendigkeit von „Bonjour tristesse“ bewahrt und zeitgenössischen Leserinnen und Lesern nie den Eindruck vermittelt, mit antiquierten Gefühlen konfrontiert zu werden.
Mehr als eine Coming-of-Age-Geschichte
Nein, was die 17-jährige Protagonistin Cécile erlebt, wie sie die Liebhaberinnen ihres langsam in die Jahre kommenden Vaters ausbootet und wie sie in ihrem Tun zwischen Indifferenz und Selbstzweifel laviert, das ist viel mehr als eine – wie man heute sagt – Coming-of-Age-Geschichte. Genuss, Weltekel, Lust und Moral hängen zusammen, und der Einzelne, die Einzelne muss jeden Tag aufs Neue entscheiden, wohin das Pendel ausschlagen soll – wenn es denn in seiner, in ihrer Macht steht, das Pendel selbst zu bewegen. Und natürlich ist „Bonjour tristesse“ heute kaum weniger als damals auch ein feministisches Buch, ohne dass ihm dieses Etikett penetrant aufgeklebt wäre. Cécile, Anne und Elsa verkörpern die ganz unterschiedlichen Haltungen dreier Frauen, die die männlich dominierten gesellschaftlichen Vorgaben mal stürzen, mal umgehen, mal akzeptieren. Dass Raymond trotz aller Defizite und Männlichkeitsattitüden auch als liebenswürdiger Mensch gezeichnet ist, kommt Sagans Roman sehr zugute. Gut und Böse, Richtig und Falsch sind nicht eindeutig zu fixieren.
„Bonjour tristesse“ übersetzen zu dürfen, das hat den Text für mich profunder gemacht, und es ist und bleibt erstaunlich, mit welch sicherer Hand eine so junge Frau die scheinbar glatte Oberfläche ihrer Geschichte mit unterschwelligen Schichten anzureichern verstand. „Bonjour tristesse“ erzählt von der Lust aufs Leben, von der Sehnsucht, wahrhaftig zu fühlen, und von der Schwierigkeit, mit überkommenen Wertestrukturen zurechtzukommen. Das ist nicht wenig für einen Roman von gut einhundertsechzig Seiten.
Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren, leitet das Literaturhaus Hamburg, ist Literaturkritiker, Essayist und Autor zahlreicher Publikationen, darunter „Mit Proust durch Paris“, „Und das Meer singt sein Lied“ und „Abseits“.
Foto: Isabel Köster
Das Buch
Cécile verbringt den Sommer mit ihrem Vater Raymond und seiner jungen, naiven Geliebten Elsa in einem Haus an der Côte d’Azur. Es gelingt ihr, die Erwachsenen von sich abzulenken und die Wochen in großer Freiheit zu genießen – mit ihrer ersten Liebe, dem Schönling Cyril. Doch dann taucht die hinreißend elegante Anne auf und schafft es, Raymond für sich zu gewinnen. Cécile rebelliert gegen Anne und alles, was sie darstellt: mütterliche Sorge, Lebensplanung, Ernsthaftigkeit. Erfolgreich spinnt sie schließlich eine bösartige Intrige, um ihren Vater und seine neue Gefährtin auseinanderzubringen.
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„Bonjour tristesse“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage