Ein leeres Theater, Wohnblocks ohne Fenster, zurückgelassene Familien – unser Autor Darragh McKeon hat sich in die noch immer verstrahlten Gebiete Weißrusslands und der Ukraine begeben. In seinem berührenden Essay verknüpft er seine Erlebnisse mit der aktuellen Forschung zu den Langzeitfolgen der Radioaktivität. Ein erschütterndes Dokument über die tragische Ignoranz des Menschen.
von Darragh McKeon
Geblieben sind uns nur der Ort und die Anhänglichkeit an den Ort
noch besitzen wir Tempelruinen Phantome von Gärten und Häusern
verlieren wir die Ruinen bleibt nichts zurück
— Zbigniew Herbert
1.
Wir fahren über die Hauptstraße ein, eine zweispurige Straße, deren Rand im Unkraut versinkt, während die flankierenden Hochhäuser von Tannen verhüllt werden. Wenn ich meinen Hals recke und nach oben schaue, kann ich Balkone erkennen, die von Kletterpflanzen überwuchert sind, die angrenzenden Fenster im mattschwarzen Schatten, luftleere Wohnräume. Braune Spuren der Karbonatisierung bahnen sich von einer Etage zur nächsten ihren Weg nach unten. Man fühlt sich an einen alten Mann erinnert, dem Soße oder Tabaksaft über sein Kinn läuft.
Als wir uns dem Stadtzentrum nähern, macht sich in mir ein starkes Gefühl der Deplatziertheit breit, so, als ob wir besser gar nicht hier sein sollten. Ich schiebe es auf die möglichen Gefahren, die der Ort mit sich bringt, die potenziellen gesundheitlichen Folgen unseres Besuchs. Vielleicht hängt es aber auch mit der bedeutungsschweren Geschichte der Stadt zusammen, damit, dass hierher zu kommen einen Akt der Entweihung oder Respektlosigkeit darstellt, als seien wir gerade dabei, unseren Dollar für die Freakshow einzuwerfen, um das Zelt zu betreten und mit dem Finger auf die bärtige Dame oder den dreibeinigen Mann zu zeigen. Aber mir wird klar, dass es das nicht ist. Wir gehören nicht hierher, weil niemand hierher gehört. Wenn man durch eine Stadt fährt, egal welche, kommt man selbst mitten in der Nacht irgendwo an einer Glühbirne vorbei, die über einer einsamen Veranda leuchtet, an einem Hund, der einen misstrauisch beäugt, oder einer Tankstelle, die geschlossen hat, weil der Inhaber in der Wohnung darüber schläft. Hier gibt es nichts und niemanden. Keine Einlasshäuschen. Keine Karte, auf der die Sehenswürdigkeiten markiert sind. Nicht einmal einen Bauern, der eine Abkürzung nimmt.
Man warnt uns, nichts zu berühren und darauf zu achten, nicht auf das Moos zu treten
Die Stadt ist ganz und gar tot.
Man begegnet ihr also nicht zuerst als ein Außenstehender, als ein Fremder, der mit den örtlichen Gepflogenheiten nicht vertraut ist, sondern als Pathologe, der den totenstarren Kadaver zerlegt.
Wir halten am Hauptplatz und steigen aus, um unseren Weg zu Fuß fortzusetzen. Der verstummten Vergangenheit bewusst, sprechen wir im Flüsterton. Schließlich ist Prypjat vor allem ein Ort vielsagender Abwesenheit.
Wir gehen bedächtig und achten gespannt auf jede einzelne unserer Bewegungen. Vielleicht, weil wir der Luft, die wir atmen, so große Aufmerksamkeit widmen, als würden wir unsere Glieder anweisen, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns in einer fremden Atmosphäre aufhalten.
Kolya, unser Führer, warnt uns, nichts zu berühren und darauf zu achten, nicht auf das Moos zu treten, das sich im Zickzack über dem gerissenen Beton ausbreitet. „Das ist ein Schwamm für Radioaktivität“, sagt er uns. Und so werden unsere Bewegungen noch zwanghafter. Wir schauen, wo wir hintreten, dann halten wir inne und schauen uns noch einmal um, dann schauen wir wieder, wohin wir treten, wie ein kleines Kind, das eine Treppe zu bewältigen versucht.
„Lasst das Atom einen Arbeiter und keinen Soldaten sein“
Die eckige Fassade des städtischen Palasts der Kultur, ein imposantes Gebäude, vor uns die Reihen von Stufen. Rechts davon steht die kommunistische Parteizentrale. Zu unserer Linken befindet sich der erste in einer Reihe vorschriftsgemäßer Wohnblocks. Auf seinem Dach prangt eine Reihe riesiger kyrillischer Buchstaben in dunkelgrau mit Rändern in kommunistischem scharlachrot. Das Russische ist eine Sprache, die sich dem an lateinische Schrift gewöhnten Auge verweigert; verschnörkelte Buchstaben mit scharfen geometrischen Kanten, die so aussehen, als ließen sie sich nur mit dem Meißel transkribieren. Ich bitte Kolya um eine Übersetzung. „Lasst das Atom einen Arbeiter und keinen Soldaten sein“, sagt er und zögert mit seiner Erklärung. „Im Grunde wollen sie sagen, dass sie es für die Elektrizität nutzen wollen und nicht für … du weißt schon … Bomben.“
Kolya ist zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig, trägt eine grüne Tarnuniform, obwohl er nicht beim Militär ist, und zählt ununterbrochen Informationen auf, was ihm den Anschein vorsätzlicher Unbekümmertheit verleiht.
- Das ist Reaktor 1.
- Das ist Reaktor 2.
- Prypjat hatte ungefähr vierzigtausend Einwohner.
- Das Dorf Tschernobyl hatte zwölftausend Einwohner.
- Heute sind es ungefähr tausend.
- Vor allem Wissenschaftler, Führer, Beamte, Sicherheitskräfte.
- Es ist langweilig hier, aber wir spielen Karten und vertreiben uns die Zeit.
- Natürlich schickt man uns regelmäßig nach Hause.
- Wir haben zwei Wochen Dienst, dann einen Monat frei.
„Lasst das Atom einen Arbeiter und keinen Soldaten sein“. Der Satz transportiert einen ausgesprochen sowjetischen Sinn für Kontrolle und Pflichterfüllung. Selbst das einfache Atom wird dazu gezwungen, eine Rolle einzunehmen, sich den Befehlen anderer unterzuordnen.
Kein Gebäude tanzt aus der Reihe
Die Formen sind hier klar definiert. Kein Gebäude tanzt aus der Reihe. Es handelt sich um eine Stadt, die Wert auf Ordnung und präzise Planung legt. Sie wurde in den 1970er Jahren auf der ukrainischen Seite der Wälder Polesiens errichtet, ein Gebiet, das bei Jägern beliebt ist. Daneben verläuft der zweihundert Meter weite Prypjat, der in den Dnjepr und weiter in Richtung Kiew fließt. Prypjat war die Stadt, in der die Arbeiter für das Kernkraftwerk Tschernobyl lebten. Sie waren dankbar für ihre Versetzung in eine Stadt, die einst das Aushängeschild sowjetischer Modernität war. Sie war ein Ort grenzenloser Versprechen. Eine Bevölkerung von gut ausgebildeten Fachkräften, die alle beim selben Arbeitgeber angestellt waren, sodass sie im Privaten sicher ähnlich einträchtig lebten. Man spürt, dass es einst ein Kinderparadies gewesen sein muss, frei von bösartigen Einflüssen. Hinter dem Palast der Kultur erstreckt sich ein Spielpark mit Autoscooter und Riesenrad. Wir durchqueren Kinderkrippen, die einst auf dem neuesten Stand waren. Räume mit emaillierten Metallbetten und ausgepolsterten Spielzonen und einer Unmenge an Puppen. Sie liegen immer noch verstreut in Fensternähe, der Länge nach ausgebreitet unter Minitischen und -stühlen.
Viele in die Jahre gekommenen Großeltern begleiteten in der Hoffnung, dem Alltag größerer Städte zu entkommen, ihre Kinder und Enkelkinder hierher. Familien, die auf engem Raum in Wohnungen zusammengepfercht waren. An das gemeinschaftliche Zusammenleben waren sie bereits gewöhnt. Mit dem Fluss in der Nähe, in dem man fischen konnte, und Wäldern, die zum Wandern einluden, fiel es ihnen hier zweifelsohne sehr viel leichter.
Über eine Ladetür gelangen wir in den Backstage-Bereich des Palasts der Kultur. An der Wand lehnen Bühnenkulissen für die Feierlichkeiten zum 1. Mai, die 1986 sechs Tage nach der Katastrophe und fünf Tage nach der Evakuierung hätten stattfinden sollen.
Es handelt sich um gedruckte Porträts prominenter kommunistischer Parteiführer. Ihre Gesichter sind sechs Meter hoch. Ich erkenne Lenin und Breschnew, der von Mitte der 60er Jahre an fast zwei Jahrzehnte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei war. Die anderen kann ich nicht zuordnen. Ich frage Kolya, ob er sie benennen kann, aber er schüttelt nur den Kopf. „Als ich geboren wurde, war das alles schon vorbei.“
Der Zuschauerraum beeindruckt noch immer
Ihrem Vergessensein überlassen starren die Gesichter gleichgültig vor sich hin.
Der Zuschauerraum beeindruckt noch immer.
Alles intakt. Es ist noch keine Feuchtigkeit eingetreten. Der Teppich macht einen makellosen und gepflegten Eindruck, als sei er vor kurzem gesaugt worden. Die Sitzreihen warten auf Gäste. Ein Zwischengeschoss blickt auf uns herab.
Die Stille hier hat eine andere Qualität als draußen. Sie fühlt sich vertraut an. Ich habe den größten Teil meiner Zwanziger als Theaterregisseur gearbeitet, und obwohl meine Produktionen meist in kleinen schwarzen Studios oder an kalten, improvisierten Schauplätzen stattfanden, habe ich oft auf einer stillen Bühne gestanden. Wie bei anderen Räumen, die für öffentliche Veranstaltungen gebaut worden sind, einem Gerichtssaal oder einem Stadion etwa, handelt es sich um einen Ort, der von Natur aus etwas Erwartendes ausstrahlt.
Ich denke an Nikolai Ryschkow, der zum Zeitpunkt der Katastrophe dem Ministerrat der UdSSR vorsaß. Vielleicht steckt auch sein Gesicht in den feierlichen Porträts hinter mir. Er besuchte die Anlage am 2. Mai und kam in Begleitung von Jegor Ligatschow, dem Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei.
Sie setzten sich für ein paar Tage mit den wissenschaftlichen Delegationen zusammen und beeindruckten sie mit ihrer Bereitschaft, dem versammelten Expertenwissen zu lauschen und sich auf die immense Komplexität des Problems einzulassen. Man bildete an Ort und Stelle eine Regierungskommission, deren Leitung Ryschkow persönlich übernahm. Am vierzehnten Juli überraschte und bestärkte er die Chefs der Reinigungsteams mit einer Rede in Moskau, indem er erklärte, dass der Unfall von Tschernobyl „kein zufälliges Ereignis“ gewesen sei, sondern feststellte: „Er war unvermeidlich“. Ein außergewöhnliches Eingeständnis aus dem Munde eines so ranghohen Staatsvertreters.
Der Widerhall der leeren Bühne scheint mit der Umgebung in Widerspruch zu treten. Anders als die benachbarten Gebäude beschwört der Zuschauerraum keine vergangene Herrlichkeit. Stattdessen verharrt er in stoischer Erwartung seiner Zukunft, bereit für das, was kommen mag.
2.
Am Abend zuvor bin ich am Flughafen Minsk gelandet. Ich bin hierher gekommen, um mich einer Delegation der irischen Wohltätigkeitsorganisation Chernobyl Children International anzuschließen, die seit zwanzig Jahren in Weißrussland tätig ist. Die Gründerin, Adi Roche, hat mich eingeladen, mir aus erster Hand einen Eindruck von einigen ihrer Projekte zu machen.
Als ich in die Ankunftshalle trete, scheint das Licht wie von Zigaretten verfärbt, eine Tünche aus Ocker- und Beigetönen. Der Raum ist niedrig, und bis zu den Türen sind es nicht mehr als fünf Meter. Vor der Wechselstube hat sich eine Warteschlange gebildet. Daneben befindet sich ein Café mit dunklen Kunststofftischen. An den Kassen liegen russische Salate auf weißen Styroporschalen aus, die mit Frischhaltefolie abgedeckt sind. Der in der Luft hängende Fettgeruch legt sich mir auf die Kehle.
Eine Flasche Whiskey wird geöffnet. Tullamore Dew, mir zu Ehren gewählt
Ich stoße zu unserer Gruppe und wir gehen zum Parkplatz, wo Alexi, unser Fahrer, gegen einen maroden, deutschen Kleinbus lehnt, sein Gesicht knochenbleich. Er nickt zum Gruß, öffnet die Ladetüren und wir schleudern unsere Taschen hinein, bevor wir unsere Sitze für die sechsstündige Fahrt zur Sperrzone von Tschernobyl einnehmen.
Die Konversation verläuft holprig, aber freundlich. Zwei von uns sind aus den USA, zwei aus Irland angereist. Wir sind geistig ermattet, die Last der durchquerten Zeitzonen beschwert unsere Gedanken. Wir wischen die Feuchtigkeit von den beschlagenen Fensterscheiben. Auf dem Glas sammeln sich mit den vergehenden Stunden Schichten von Handabdrücken an.
Die Landschaft ist zu dunkel, um nicht irgendwie vertraut zu sein. Gelegentlich kann ich den Schimmer von Weißbirken ausmachen. Ladas und UAZ-Lieferwagen sausen regelmäßig an uns vorbei, klassische stupsnäsige Sowjetfahrzeuge in natürlicher Umgebung.
Eine Flasche Whiskey wird geöffnet. Tullamore Dew, mir zu Ehren gewählt, in der Stadt meiner Kindheit, daheim in den Mooren Irlands destilliert. Nach zwei Drinks drehe ich mich wieder zum Fenster, und eine Zeile von Pasternak löst sich aus meinem Gedächtnis.
„Die rennenden Birken auf der Jagd nach bleiernen Momenten.“[1]
3.
In Prypjat betreten wir Wohnblocks. Die Namen stehen noch immer auf den Briefkastenwänden in den Eingangshallen. Die Geländer der Treppenhäuser sind entfernt und als Altmetall verkauft worden. In den Wohnungen in man ähnlich verfahren. Alle Besitztümer wurden geplündert, ihre radioaktiven Inhalte auf den Märkten unbekannter Städte und Dörfer an ahnungslose Käufer verschachert. Bis auf ein paar Reste von Möbelskeletten ist nichts übrig. Ein paar Regaleinheiten aus Spanplatten, ein Bettgestell.
Die Wohnungen unterscheiden sich nur in der Wandtapete. Die Wände sind einheitlich beige, magnolienweiß oder himmelblau.
„Ich kann noch immer das hell purpurne Leuchten sehen“
Ich schiebe die Tür zu einem Balkon auf und blicke in den gemeinschaftlichen Innenhof hinunter, der ein kleines Klettergerüst und eine Rutsche beherbergt. Daneben wahrt ein Wäldchen schmächtiger Bäume noch immer seine landschaftlich vorgegebene Form. Vor mir breiten sich Szenen der Evakuierung aus. Mein Verstand springt unkontrolliert vor und zurück, die zeitlichen Ebenen überlappen einander.
Was aufsteigt, ist das Fragment eines Zeugnisberichts einer ehemaligen Bürgerin Prypjats, Nadezhda Vygovskaya, das ich irgendwo aufgeschnappt habe. Familien versammeln sich in der Nacht nach der Explosion auf diesen Balkonen, um den magentafarbenen Himmel zu bestaunen, ein in wehmütigen Tönen geschilderter Abend. Eine Woche später, zurück in meiner eigenen Wohnung, nehme ich ein Buch aus dem Regal und lausche Nadezhda, wie sie den Tag, der ihr Leben unwiderruflich veränderte, rekapituliert:
Ich kann noch immer das hell purpurne Leuchten sehen. Es war, als würde der Reaktor glühen. Das war kein gewöhnliches Feuer, es war eine Art Strahlung. Es war hübsch. Selbst im Film hatte ich so etwas noch nicht gesehen.
An diesem Abend strömten alle auf ihre Balkone, und die selbst keine hatten,gingen zu Freunden. Wir wohnten im neunten Stock und hatten eine tolle Aussicht. Die Menschen brachten ihre Kinder nach draußen, hoben sie in die Höhe und sagten: „Schau genau hin! Behalte das in Erinnerung!“ Und das waren Leute, die im Kraftwerk arbeiteten – Ingenieure, Arbeiter, Physiker.
Sie standen im schwarzen Staub
Sie standen im schwarzen Staub, sprachen, atmeteten, staunten darüber. Von überall her kamen die Leute mit ihren Autos und Fahrrädern, um einen Blick darauf zu werfen. Wer hätte gedacht, dass der Tod so schön sein kann. Ich kann zwar nicht behaupten, dass es nicht roch, aber es war weder ein Frühlings- noch ein Herbstduft, sondern etwas anderes, und es war nicht der Geruch von Erde. Meine Kehle juckte, und meine Augen tränten.
… Am Morgen wachte ich auf und sah mich um. Ich erinnere mich an das Gefühl – und das ist nichts, was ich im Nachhinein dazuerfunden habe; ich dachte es genau in diesem Moment –, dass irgendetwas nicht stimmte, dass sich etwas für immer verändert hatte. Um acht Uhr waren an diesem Morgen bereits Militärangehörige in Gasmasken auf den Straßen …
Den ganzen Tag wurden die Menschen per Radio dazu aufgefordert, sich auf die Evakuierung vorzubereiten: Man wolle uns für drei Tage entfernen, alles waschen und kontrollieren. Die Kinder wurden angehalten, ihre Schulbücher mitzunehmen. Mein Mann packte trotz allem unsere Dokumente und unsere Hochzeitsfotos in seine Aktentasche. Das einzige, was ich mitnahm, war ein Gazehalstuch für den Fall, dass das Wetter kippte.
Später teilt uns Nadezhda mit, dass es nicht lange dauerte, bis ihre Zukunft sich herauskristallisierte. „In Kiew“, sagt sie, „erlitten viele Herzinfarkte und Schlaganfälle, direkt auf dem Bahnhof, in den Bussen“.[2]
4.
Im Frühjahr 1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, veröffentlichte H. G. Wells The World Set Free (Befreite Welt). Der Roman imaginiert eine Bombe aus Atomenergie, eine Waffe, die so leistungsstark ist, dass sie unentwegt Radioaktivität in die Atmosphäre emittiert, noch lange, nachdem die erste Explosion abgeklungen ist.
Auf der Karte nahezu aller Länder der Welt markieren drei oder vier rote Kreise mit einem Durchmesser von vielen Meilen die Positionen der erlöschenden Atombomben und die Todeszonen, die von den Menschen rundherum verlassen werden mussten.
Die „Todeszonen“ sind nicht etwa verlassen worden – ganz im Gegenteil
Wells’ Passage liest sich heute wie eine erstaunliche Vorahnung. Wenn man sich die Ausbreitung der Radionuklide in den Wochen nach dem Unfall von Tschernobyl anschaut, sind die körnigen schwarzen Punkte, die auf Radioaktivität hinweisen, wie eine Handvoll Eisenspäne, die wahllos auf eine Karte geworfen wurden, verteilt.
Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen der Fiktion von Wells und der Realität von heute. Die „Todeszonen“ sind nicht etwa verlassen worden. Ganz im Gegenteil.
Über 50 Prozent der Fläche von dreizehn europäischen Nationen und 30 Prozent von acht weiteren Nationen sind vom Tschernobyl-Fallout betroffen.[3] 1986 betrug die Zahl der Menschen, die in Gebieten mit ausgeprägter Tschernobyl-Kontamination lebten, mindestens 150 Millionen.[4]
Ich zitiere im Folgenden aus einer Untersuchung, die 2009 von der New York Academy of Sciences veröffentlicht wurde und den umfassendsten verfügbaren Bericht zu den Folgen von Tschernobyl darstellt:
Über die letzten 23 Jahre ist deutlich geworden, dass der Kernkraft eine Gefahr innewohnt, die weit über jene von Atomwaffen hinausgeht. Die Emissionen dieses einen Reaktors überschritten die radioaktive Kontamination der Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, um ein Hundertfaches. Kein Bürger kann sich, in welchem Land auch immer, vor radioaktiver Kontamination sicher fühlen. Ein einziger Kernreaktor hat das Potential, die halbe Welt zu verseuchen. Der Tschernobyl-Fallout betraf die gesamte Nordhalbkugel.[5]
Diese Zahlen sind unglaublich, aber die Beweislage dahinter ist eindeutig. Nach dem, was wir über Gesetze der Biologie wissen – und es gibt gewaltige Wissenslücken in Bezug auf das Verhältnis zwischen Körper und Radionuklid –, sind die Nachwirkungen der Katastrophe noch gar nicht voll zum Tragen gekommen.
Chronische Strahlung spielt sich sehr viel mehr im Verborgenen ab
Im Großen und Ganzen lässt sich die Strahlenbelastung in zwei Gruppen unterteilen.
Akute Strahlung ist eine starke kurzfristige Belastung, die in der Regel von außen erfolgt und für die ersten Todesfälle der Art verantwortlich ist, wie sie Nadezhda Vygovskaya bezeugt hat, jene also, die sich kurz nach der Katastrophe in den am stärksten betroffenen Ländern ereignet haben: Ukraine, Weißrussland und Russland.
Chronische Strahlung spielt sich sehr viel mehr im Verborgenen ab. Sie baut sich über lange Zeit unmerklich auf und wirkt von innen auf den Körper, wobei sie eine ganze Reihe zersetzender Krankheiten auslöst, allen voran Krebs. Wir können mit Sicherheit sagen, dass mehrere zukünftige Generationen dieser Gefahr mindestens so sehr ausgesetzt sein werden wie wir heute.
Einfacher ausgedrückt: Die akute Strahlung ist der Hase, die chronische Strahlung die Schildkröte.
John Gofman, ehemaliger Professor für Molekular- und Zellbiologie an der University of California Berkeley, schrieb ganz offen, dass „es sich bei niedrig dosierter ionisierender Strahlung um die wichtigste Einzelursache für Krebs, Geburtsfehler und genetische Erkrankungen handeln könnte“.[6]
Ob nun als Arbeiter oder als Soldat, der Energiefluss aus der Atomspaltung strömt direkt ins Energie- und Machtzentrum einer Nation. Die damit verbundenen Möglichkeiten besetzen die Schnittstelle zwischen immensen militärischen und wirtschaftlichen Interessen. Oder wie die Romanautorin und Essayistin Marilynne Robinson sagt: „Die Industrie wird weltweit durch Geheimhaltung geschützt, aufgrund ihrer Rolle für den Prestigeerhalt von Regierungen und ihrer militärischen Bedeutung, ob als legaler oder illegaler Zulieferer von spaltbarem Material oder als potenzielles Ziel“.[7]
5.
Homel, Weißrussland. 215 Kilometer von Tschernobyl entfernt.
Am Morgen nach unserem Besuch in Pripyat öffnen wir die Tür zu einer Wohnung und stoßen auf einen Mann, der vor unseren Augen einen Zusammenbruch erleidet.
In der Küche ist eine Krankenschwester
Er ist groß und schlank. Die Streifen auf seiner Jogginghose setzen die Linie seines strähnigen Haars und länglichen Gesichts fort. Das Haar löst sich von hinter seinen Ohren, als er sich nach vorne beugt, eine Hand verdeckt sein Gesicht, seine Tränen gewinnen an Fahrt. Das einzige Geräusch kommt von seinem schweren Atmen. Es scheint, als hielte ihn nur die Struktur seines Skeletts aufrecht. Seine Muskeln sind erschlafft, sein Kopf liegt auf einem schwankenden Unterarm. Roche geht auf ihn zu, um ihn in den Arm zu nehmen, und er verschwindet in ihrer Schulter. Er stößt krampfartig Schreie aus. Behutsam schließen wir die Tür hinter uns und stehen in seinem orangefarbenen Flur, der so eng ist, dass wir ihn fast berühren. Um ihm etwas mehr Privatsphäre zu verschaffen, werfen wir einen Blick in die anderen Zimmer.
Roches Wohltätigkeitsorganisation kümmert sich um den Hospizdienst für Vasilys Tochter Sasha. Sie stellen sicher, dass drei bis vier Mal pro Woche eine Krankenschwester die Wohnung aufsucht und Windeln, Wischtücher und Babynahrung vorbeibringt. Vasily erhält auch einen kleinen Lohn, der ausreicht, um die Versorgung für sich und seine Tochter abzudecken, nicht aber seine Spielleidenschaft. Das ist sein einziges Einkommen. Sie erhalten keine staatlichen Leistungen. Unser Besuch ist ein Routinebesuch. Obwohl Roche schon mehrmals hier gewesen ist, können wir an ihren Augen ablesen, dass ihr Empfang zum ersten Mal so ausfällt. Es muss etwas passiert sein.
Vor kurzem hat sich Sashas Gesundheit schlagartig verschlechtert
In der Küche ist eine Krankenschwester. Unser Übersetzer geht hin, um mit ihr zu sprechen. Während wir warten, bemerke ich den Gestank: getreidig und abgestanden. Ein Geruch von Schweiß und Kot, der von einer erdrückenden Hitze gesteigert wird. Es ist so heiß, dass ich spüre, wie sich unter meinem Mantel Dampf bildet und abfließt. Später erfahre ich, dass sich die Fenster nicht öffnen lassen, offenbar ein typisches Merkmal sowjetischer Hochhäuser. Die Bewohner haben keine Kontrolle über die Temperatur. Im Winter sind die Wohnblocks in Weißrussland stickig wie eine Sauna.
Vor kurzem hat sich Sashas Gesundheit schlagartig verschlechtert. In den letzten Tagen hat sie eine Lungenentzündung entwickelt. Vor einer Stunde war ein Arzt da und hat angeordnet, dass sie in ein fünfzehn Meilen entferntes Landkrankenhaus gebracht wird. Der Krankenwagen soll diesen Nachmittag kommen.
Vasily besitzt kein Auto und wird nicht bei ihr bleiben dürfen. In der Stadt hat nur die Kinderklinik einen Platz verfügbar. Sie weigern sich, sie aufzunehmen. Die Altersgrenze liegt bei vierzehn Jahren. Da Sasha siebzehn ist, würde ihr Tod in der Klinik zusätzlichen Erklärungsbedarf und bürokratischen Mehraufwand bedeuten.
Vor sieben Jahren ging Vasilys Ehe in die Brüche. Er gab seine Stelle als Nachtwächter auf, um alleine die Pflege seiner Tochter auf sich zu nehmen, eine Stellung, die er nur für ein oder zwei Stunden pro Woche verlassen kann, wenn die Krankenschwester kommt, um nach dem Rechten zu sehen oder jemand aus seiner Verwandtschaft ihn ablöst, damit er einen Abend nach draußen kann. Sasha war seit einem Jahrzehnt nicht mehr an der frischen Luft.
Die einzigen Möbelstücke im Zimmer zu meiner Linken sind ein großer Sessel und ein Fernsehgerät, das auf einem heruntergekommenen Sockel in Fensternähe steht. Um die Armlehne des Sessels ist ein fleckiges Handtuch drapiert. Ein Meer an Pflegeutensilien umgibt ihn: Windeln und Windelcreme, Baby-Feuchttücher und Talkumpuder, Bandagen, Gels, Handtücher, eine Saugflasche, Feuchtigkeitscreme, Wattebällchen. Der Stuhl zeigt die Vertiefungen von vielen Stunden des Gebrauchs.
Vasily hat die Möglichkeit, Sasha in ein Waisenhaus zu geben, aber er weigert sich
Durch das Fenster des Wohnzimmers blicke ich auf einen benachbarten Block. Die Stürze und Brüstungen der Fenster sind bonbonrosa, die Türen und Türbögen babyblau gestrichen. Risse laufen venenartig über die Fassade. Es tropft aus ihnen auf den Bürgersteig und in die Schlaglöcher der Einfahrt, wo eine ältere Frau den Staub aus einem Teppich klopft. Erschöpft winkt Vasily uns herbei. Wir treten ins Wohnzimmer, und er zeigt auf das Sofa. Hier ruht Sasha.
Obwohl es sich nur um einen Zweisitzer handelt, bietet das Sofa ihr ausreichend Platz, um ausgestreckt darauf zu liegen. Sie liegt mit dem Gesicht zur Wand. Der Umriss ihres Körpers ist durch die Decke, in die sie fest eingewickelt ist, deutlich zu erkennen. Sie hat den Körper einer Sechsjährigen. Ein kleines, fragiles Gerippe ohne Konturen. Ihr Kopf löst Schrecken und Mitleid aus. Sasha leidet an Hydrozephalie, einer angeborenen Erkrankung, die ihren Kopf auf ein groteskes Maß anschwellen lässt. Mit einem Gewicht von 20 Pfund ist er fast so groß wie ihr Oberkörper und hat die Form einer Sprechblase – eine enorme Wölbung, die in ein zierliches Kinn übergeht. Sie liegt in der Embryohaltung. Jeder Atemzug ist ein Kampf, das Einatmen schmerzt in ihren Nebenhöhlen. Sie ist fast haarlos. Ein zarter Flaum bedeckt ihren Schädel, der mit großen, eitrigen Schwielen übersät ist. Vasily hat sie mit einem weißen antiseptischen Pulver behandelt, um die Reizung zu trocknen und zu lindern. Um Stirn und Hinterkopf trägt sie einen Verband, der die austretende Flüssigkeit auffangen soll. Sie ist blind und verletzlich wie ein Neugeborenes. Das Sofa ist keine provisorische Ruhestätte, es ist ihr Bett. Normalerweise hebt Vasily sie tagsüber in den Sessel und legt sie nachts hierher. Dann breitet er neben ihr auf dem Boden eine Matratze aus, auf der er sich für die Nacht niederlässt, wobei er zur Beruhigung eine Hand auf Sashas Körper legt.
Das Leben von Sasha und Vasily hat sich kaum verändert, seit ihre Mutter sie verlassen hat. Vasily hat die Möglichkeit, Sasha in ein Waisenhaus zu geben, aber er weigert sich. Vernachlässigung ist dort garantiert. In diesen Einrichtungen werden Kinder mit angeborenen Deformationen sogar in der offiziellen Dokumentation als Dummköpfe und Zurückgebliebene bezeichnet. Trotz ihrer Anzahl werden sie nicht als Teil der allgemeinen Bevölkerung angesehen. Geschichten von sexuellem Missbrauch in den Waisenhäusern sind – selbst bei schwersten Krankheitsfällen – weit verbreitet.
Da sie zehn Jahre nach der Katastrophe geboren wurde, lässt sich nicht unwiderlegbar nachweisen, dass Sashas Zustand mit dem radioaktiven Niederschlag in Verbindung steht.
Ihre Eltern, Olga und Misha, waren im April 1986 noch gar nicht geboren
Auch, dass die angeborene Erkrankung von Denis und Georg – unser nächster Anlaufpunkt – nicht einfach nur auf Pech zurückgeht, kann nicht eindeutig belegt werden. Sie sind vom Cockayne-Syndrom betroffen, einer Krankheit, die außerhalb von Russland, der Ukraine und Weißrussland nur selten auftaucht. Das Syndrom verursacht eine vorzeitige Alterung, sodass die beiden Brüder, obwohl sie erst 2010 und 2011 geboren wurden, Gesichter wie Zehn- bis Zwölfjährige haben, die sich in Falten legen, um auf ihre kleinen Köpfe zu passen. Der Zustand beeinträchtigt auch das Wachstum. Von hinten betrachtet könnte man die beiden leicht für Säuglinge halten. Wie Sasha, haben auch sie nur selten, wenn überhaupt, frische Luft auf ihrer Haut gespürt. Anders als Sasha haben sie nie Sonnenlicht gesehen. Die akute Empfindlichkeit ihres Nervensystems führt dazu, dass sie sich in einem abgedunkelten Raum aufhalten müssen – in dieser kochend heißen Wohnung. Ihr Bett, eine ausgebreitete Futonmatte.
Ihre Eltern, Olga und Misha, waren im April 1986 noch gar nicht geboren. Sie wiegen ihre Jungen, tragen sie auf der Schulter, singen ihnen etwas vor, klopfen ihnen tröstend auf den Rücken. An der Wand hängt ein Hochzeitsfoto, aufgenommen vor fünf Jahren, als Misha dreiundzwanzig und Olga zwanzig war. Sie im saphirblauen Kleid, er im schwarzen Anzug, schwarzes Hemd, ohne Krawatte. Sie bekommen selten Besuch, weshalb sie sich freuen, uns zu sehen. Wie auch Vasily, erhalten sie keine Hilfe vom Staat.
Wir setzen uns hin und schauen Georg dabei zu, wie er vorsichtig ein paar Schritte versucht, hören, wie er ein paar Worte spricht. Vor einem Jahr war auch Denis noch dazu imstande, bis er eine Enzephalitis entwickelte, eine Schwellung des Gehirns, die ihn stumm und fast unbeweglich gemacht hat. Georgs junge Eltern lächeln und klatschen zur Ermunterung.
Diese Fälle sind alles andere als Ausnahmen in diesem Land. Während der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko (Europas amtsältester Diktator) den Grundstein für ein neues Kernkraftwerk legt, ist der Anteil der Kinder mit chronischen Krankheiten in seinem Land weitaus größer als in den Jahren unmittelbar nach der Tschernobyl-Katastrophe. Experten schätzen, dass sich nur zehn Prozent der zu erwartenden Gesamtschäden im Sinne angeborener Deformationen in der ersten nach der Katastrophe geborenen Generation beobachten lassen.[8]
„Aus unserem Elend wird der Welt ein Herz erwachsen“
Der russische Schriftsteller Andrei Platonow setzte sich in den 1930er Jahren mit der Hungersnot in der Ukraine auseinander. Die Menschen, die er beschrieb, nannte er dushevny bednyak, was wörtlich „arme Seelen“ bedeutet. Platonow nutzte diesen Ausdruck eher beschreibend als mitfühlend. Er begründete ihn damit, dass, wenn einem im Leben alles genommen worden ist, nur noch die Seele übrig bleibt, die Fähigkeit zu fühlen und zu leiden. „Aus unserem Elend“, schreibt er, „wird der Welt ein Herz erwachsen“.[9]
Zwischen 1986 und 1988 litten in der stark kontaminierten Verwaltungseinheit Luninez 167 von 1000 Kindern an diagnostizierten Krankheiten. Zwischen 1992 und 1994 hatte sich diese Zahl auf 611 von 1.000 erhöht.[10] Dann, 1998 wiesen 68 Prozent der weißrussischen Kinder, die in stark kontaminierten Gebieten lebten, eine vaskuläre Dystonie und ein Herz-Syndrom auf, das sich durch Schwindel, Atembeschwerden und Müdigkeit auszeichnet. Drei Jahre später waren es 74 Prozent. In weniger kontaminierten Gebieten stieg diese Zahl von 40 auf 53 Prozent.[11]
6.
Für ein paar kurze Jahre stand Homel an der Spitze der medizinischen Forschung zur nuklearen Verseuchung. Dr. Yury Bandazhevsky, ein Pathologe, zog 1990 mit seiner Frau Galina, einer Kinderärztin, dorthin. Der Umzug der Eheleute in die Stadt war nicht durch Karriereabsichten begründet. Vielmehr hielten sie es für ihre Pflicht, ihr Wissen jenen zur Verfügung zu stellen, die keine andere Wahl hatten, als mit der chronischen Strahlenbelastung zu leben. Nachdem er den Posten des Rektors am medizinischen Institut von Gomel eingenommen hatte, stieß Bandazhevsky unter den einheimischen Kindern auf ein alarmierendes Muster aus Herzproblemen, Schlaganfällen und seltenen Geburtsfehlern. Im Zuge dessen begann er mit einer Reihe langfristiger biologischer Untersuchungen an einer Probegruppe von Betroffenen.
Im Anschluss an seinen Vortrag ließ Lukaschenko ihn festnehmen
Nach neun Jahren systematischer Datenerfassung und -auswertung, die die Entwicklung und Herstellung fortschrittlicher dosimetrischer Instrumente einschloss, stellte Bandazhevsky seine Forschungsergebnisse vor dem weißrussischen Parlament und dem Präsidenten Alexander Lukaschenko vor. Im Anschluss an Bandazhevskys Vortrag ließ Lukaschenko ihn festnehmen. Während er seinem Prozess entgegenharrte, fasste Bandazhevsky seine Forschung in der Studie „Radioaktives Cäsium und das Herz“ zusammen. Er wurde zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt und in den Anfangsmonaten seiner Haft wiederholt gefoltert.
Die weißrussische Geheimpolizei führte außerdem umgehend eine Razzia in seinen Büroräumen am medizinischen Institut von Homel durch und vernichtete seine archivierten Folien und Proben. Die meisten von Bandazhevskys Institutskollegen wurden entlassen, viele zusätzlich strafrechtlich verfolgt. Man ernannte einen neuen Rektor, der Bandazhevskys Arbeit verunglimpfte, und schloss seine Forschungskliniken. Ein paar Jahre später wurden diese ruchlosen Taten auf die Zerstörung aller medizinischen Dateien, die Informationen über weißrussische Tschernobyl-Opfer enthielten, ausgeweitet. Als Bandazhevsky drei Jahre später freikam, waren viele von denen, die man nach der Kernschmelze evakuiert hatte, wieder in stark kontaminierte Gebiete rückgesiedelt worden. Gegenwärtig hält sich Bandazhevsky im Exil auf.
Sein wichtigstes Untersuchungsergebnis bestand darin, dass die regelmäßige Einnahme radioaktiv verseuchter Lebensmittel unmittelbar zu Herzrhythmusstörungen und irreversiblen Schäden des Herzgewebes und anderer lebenswichtiger Organe führt. Diese Befunde sind für sich genommen schon wichtig, noch bedeutsamer ist allerdings Bandazhevskys Entdeckung, dass sich Caesium-137 – eines der am häufigsten vorkommenden Radionuklide, die von Tschernobyl aus in die Atmosphäre verteilt wurden – in den Organen konzentriert, statt sich gleichmäßig über den Körper zu verteilen. Das entlarvt die Vorstellung von einer „vertretbaren Dosis“ als Trugschluss.
Genau wie radioaktive Materie sich willkürlich über einen Landstrich verteilt und radioaktive Schwerpunkte bildet, so absorbiert auch der Körper Radioaktivität ungleichmäßig und verarbeitet sie durch die Bauchspeicheldrüse, das Gehirn, die Schilddrüse, die Nebennieren, das Herz, die Darmwände und zweifelsohne auf noch viele andere Weisen, die wir erst noch entdecken müssen.
Manche Menschen können beträchtliche Dosen ohne erkennbare Schädigung absorbieren, während bei anderen schon eine winzige Menge ausreicht, um Krebs oder schwere Organdefekte auszulösen. Am stärksten von Langzeitschäden betroffen sind geborene und ungeborene Kinder. Ihr Immunsystem ist noch nicht ausgereift, und ihre Zellen entwickeln sich sehr viel schneller, sodass jedwede Veränderung innerhalb der Struktur einer Zelle (durch Strahlenbelastung) größer ausfällt und sich in einem sehr viel höheren Maße auswirkt als bei Erwachsenen.
Jeder Kernreaktor bläst regelmäßig radioaktive Gase in die Atmosphäre
Selbst wenn man Bandazhevskys Ergebnisse beiseite lässt, hat das Beweismuster in den am stärksten von Tschernobyl betroffenen Regionen deutlich gemacht, dass eine chronische Niedrigdosis-Belastung zu Erkrankungen des Kreislaufsystems, des endokrinen Systems, des Immunsystems und des Atemtrakts führt; daneben zu Fortpflanzungsstörungen, zu Veränderungen der Knochenstruktur, zu Hirnschäden, zu Blindheit, zu angeborenen Fehlbildungen und Anomalien, zu Schilddrüsenkrebs, zu Leukämie, zu verstärkten Infektionen, zu Organversagen (insbesondere bei Föten, die im Mutterleib bestrahlt wurden), zu vorzeitiger Alterung, zu Genmutationen, zu „Tschernobyl-Aids“, „Tschernobyl- Herz“, „Tschernobyl-Gliedmaßen“ und „vegetativzirkulatorischer Dystonie“. Die letzten Ausdrücke in dieser Aufzählung sind Sammelbegriffe für eine Vielzahl neuer Syndrome, die von Medizinern ausschließlich in den Jahren nach der Tschernobyl-Katastrophe entdeckt wurden. Die Symptome sind so vielfältig und variantenreich, dass die Ärzte gezwungen sind, sie unter relativ generische Bezeichnungen zusammenzufassen.[12]
Bandazhevskys Entdeckungen stellen für die Nuklearlobby eine große Gefahr dar, weil jeder Kernreaktor regelmäßig radioaktive Gase in die Atmosphäre bläst. Diese „Entlüftungen“ sind keine Ausnahmen; sie sind vorgesehen, genehmigt und systemimmanent.
In den meisten Fällen werden stündlich ungefähr einhundert Kubikmeter radioaktive Gase von den Kondensatoren eines jeden Reaktors ausgestoßen. Wird ein Reaktor vorübergehend wegen einer mechanischen Störung abgeschaltet, erhöhen sich diese Entlüftungen in Häufigkeit und Ausmaß.[13]
Obwohl Strahlung als Phänomen auch in der Natur vorkommt, sind langlebige Radionuklide, wie sie von Kernreaktoren ausgestoßen werden (beispielsweise Cäsium-137), für uns als Spezies neu. Sie haben auf der Erde während der gesamten Evolutionsgeschichte komplexer Lebensformen nicht in nennenswerter Menge existiert und sind millionenfach giftiger als natürlich vorkommende Radionuklide.
Um sich etwas mehr Klarheit über die Gesamtsituation zu verschaffen, kann auch hier Professor John Gofman herangezogen werden:
Die Lizenzierung eines Kernkraftwerks entspricht aus meiner Sicht der Lizenzierung eines wahllosen vorsätzlichen Mords […] Es herrscht Einigkeit: Strahlung erzeugt Krebs, und der Beweis dafür ist bis hinunter zu niedrigsten Dosen erbracht.[14]
7.
2006 erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Strahlenschutzkommission der Ukraine, Dr. Nikolai Omelyanets:
Wir haben festgestellt, dass die Kindersterblichkeit aufgrund der chronischen Strahlenbelastung nach dem Unglück um 20 bis 30 Prozent angestiegen ist. Alle diesbezüglichen Informationen sind von der IAEO [Internationale Atomenergiebehörde] und der WHO [Weltgesundheitsorganisation] ignoriert worden.[15]
Selbst für die ferne Zukunft gilt eine Verschlechterung der Situation als wahrscheinlich
1989 war es für ukrainische Kinder in stark kontaminierten Gebieten typisch, große Organbeschwerden aufzuweisen, die mit Hormon- oder Immunstörungen einhergingen. 1996 waren diese chronisch und unheilbar geworden.[16]
2004 lag die Sterblichkeitsrate ukrainischer Erwachsener und Jugendlicher in stark kontaminierten Gebieten bei 573 pro 1.000.[17] 2011 galten nur 5 bis 10 Prozent der Kinder in diesen Gebieten als gesund.[18]
2004 waren in der ukrainischen Hauptstadt Kiew 99,9 Prozent der Kräfte, die bei den Aufräumarbeiten von Tschernobyl eingesetzt worden waren, offiziell krank. In der Provinz Sumy waren es 96,5 Prozent, in der Provinz Donetsk 96 Prozent.[19]
Selbst für die ferne Zukunft gilt eine Verschlechterung der Situation als wahrscheinlich, da sich die genetischen Effekte aus der Katastrophe erst noch entfalten müssen. Die Forschung an Tieren weist darauf hin, dass nach zwanzig Generationen die Widerstandsfähigkeit gegen Radioaktivität unter denjenigen, die ihr ausgesetzt sind, deutlich abnimmt, was in vierhundert Jahren wahrscheinlich zu noch vielfältigeren und bösartigeren Krankheiten führen wird.[20]
Bei all dem sind noch nicht einmal die Probleme in Verbindung mit der Atommülllagerung berücksichtigt. Probleme, die so groß und komplex sind, dass nicht einmal die Atomlobby leugnen kann, dass sich über mehrere hunderttausend Jahre jede einzelne Generation unserer Nachkommen um unser toxisches Erbe wird kümmern müssen.
8.
In meinem Minsker Hotelzimmer packe ich für meinen Flug nach Hause. Man hat mich angewiesen, sämtliche Kleidung, die ich in der Sperrzone getragen habe, zu entsorgen, sodass ich, was noch übrig geblieben ist, gefaltet in eine Sporttasche lege. Die Tapete um mich herum zeigt ein Backsteinmuster mit Bereichen, wo die Steine heruntergefallen zu sein scheinen und wiederholt den Blick auf ein ländliches Bauernhaus freigeben. Am Rande dieser Szene wirft eine Frau ihren Hühnen Futter über einen Lattenzaun zu. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das Management mich zur Abreise ermuntern will, um eine Auszeit von der zermürbenden Beklemmung zu nehmen.
Auf dem Fernseher in der Ecke bereitet ein Koch mit der einer Kochshow gebührenden Etikette Spaghetti Carbonara zu. Dann bricht er plötzlich aus seiner Rolle aus und macht gewissenhaft mit einer Sprühflasche und einem weichen Tuch sauber. Er lächelt, streckt die Flasche Backofenreiniger in die Kamera und preist dessen Qualitäten.
„Habt ihr mit ihm darüber gesprochen?“ – „Willst du mich verarschen?“
Alexi bringt mich in seinem heruntergekommenen grauen Kleintransporter zum Flughafen zurück. Wir sind allein und still. Er lenkt mit einer Hand, in der anderen hält er zwischen Daumen und Zeigefinger eine Zigarette. Die Landschaft ist in Nebel gehüllt.
„Mein Vater war bei den Aufräumarbeiten dabei.“
Ich drehe mich zu ihm um. „Tschernobyl?“
„Ja.“
„Das hättest du erwähnen sollen. Ich hätte gern mit ihm gesprochen.“
„Ihm geht’s nicht gut. Er wäre zu einem Gespräch nicht in der Lage gewesen.“
„Wie lange ist er schon krank?“
„Sieben Jahre. Er hat zwei Herzinfarkte und einen Schlaganfall gehabt. Er ist sechsundfünfzig.“
„Das tut mir leid.“
„Das ist normal. Seine Freunde sind auch alle krank. Sie können ihre Häuser nicht verlassen. Sie kriegen sich nie zu Gesicht.“
„Hast du Erinnerungen an diese Zeit?“
Er schnippt die Zigarette aus dem Fenster.
„Nicht viele. Ich weiß noch, dass ich am Tag seiner Rückkehr sehr aufgeregt war. Ich dachte, er würde mir eine Militärgürtelschnalle oder so mitbringen.“
„Habt ihr mit ihm darüber gesprochen?“
„Willst du mich verarschen?“
Seine Blässe schlägt auf sein Verhalten durch, als habe man das letzte bisschen Leben aus ihm herausgewaschen.
„Wie sieht es mit deinen Freunden aus? Wenn ihr gemeinsam einen trinkt, reden sie dann über das, was sie wissen?“
Er blickt weiter auf die Straße. Dann legt er seinen Kopf in den Nacken und kichert ironisch.
„Du begreifst es einfach nicht. Ich habe das Wort ,Tschernobyl‘ in meinem Leben vielleicht vier Mal in den Mund genommen.“
9.
H.G. Wells Vorhersagen sind so aktuell wie eh und je. Als er 1921, drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, fünfundsechzig Jahre vor der Explosion in Tschernobyl, über The World Set Free („Die befreite Welt“) nachdachte, stellte er fest:
Entweder ist die Katastrophe noch nicht groß genug ausgefallen oder sie hat sich nicht zügig genug vollzogen, um den notwendigen moralischen Schock nach sich zu ziehen und die notwendige moralische Abscheu zu erzeugen. So, wie die Welt des Jahres 1913 an zunehmendem Wohlstand gewöhnt war und davon ausging, dass dieser Anstieg sich ewig fortsetzen würde, so scheint die Welt sich zunehmend mit einer steten gesellschaftlichen Auflösung abzufinden und meint, dass auch dieser Prozess sich unentwegt fortsetzen kann, ohne jemals auf ein endgültiges Hindernis zu stoßen. So schnell setzen sich Gebräuche und Sitten durch, dass selbst die flammendsten und donnerndsten Lektionen verblassen.[21]
Einfacher hat Vladimir Gubarev, der erste Journalist, der nach dem Unfall die Anlage von Tschernobyl erreichte, ausgedrückt:
Diese Tragödie sollte uns allen eine Lektion und ein Vorwurf an all jene sein, denen ein ruhiges Leben voll materieller Vorzüge über alles geht.[22]
Strahlung ist der ultimative Killer
Es ist erst ein paar Jahrzehnte her, dass die Tabakindustrie medizinische Studien veröffentlichte, die die gesundheitlichen Vorteile des Rauchens priesen. Vielleicht ist es also einfach nur angemessen, dass Lord Walter Marshall Berichten zufolge für seinen Vortrag bei einem Treffen des British Nuclear Forum im Jahr 1986 eine Runde Applaus geerntet haben soll, als er behauptete, dass die Auswirkungen der Strahlenbelastung innerhalb der Sperrzone von Tschernobyl „nicht schlimmer als das Rauchen ein paar zusätzlicher Zigaretten pro Jahr“ seien.[23]
An der Haltung hat sich nichts geändert. Die Organisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) hat vorausgesagt, dass die durch die Atomkatastrophe in Fukushima verursachten Leiden eine ähnliche Größenordnung wie jene nach Tschernobyl haben und haben werden.[24]
Strahlung ist der ultimative Killer. Sie ist unsichtbar, lautlos, geschmacklos, gestaltlos und geruchlos. Sie weidet den menschlichen Körper aus und ersinnt Leidensformen von sadistischem Einfallsreichtum. Und sie wird damit fortfahren, solange wir die Erde bewohnen. Und wir erzeugen sie, um Wasser zum Kochen zu bringen.
[1] Boris Pasternak: Träumerei.
[2] Svetlana Alexievich: Voices from Chernobyl, S. 151 f.
[3] Ian Fairlie und David Sumner: The Other Report on Chernobyl, S. 48. M. Goldman: Chernobyl. A Radiological Perspective,
Science no. 238 (1987): S. 622 f.
[4] Alexey V. Nesterenko, Vassily B. Nesterenko und Alexey V. Yablokov: Chernobyl. Consequences of the Catastrophe for People and the Environment, S. 26.
[5] Nesterenko, Nesterenko und Yablokov, Chernobyl, S. 1.
[6] Alla Yaroshinskaya: Chernobyl, S. 4.
[7] Marilynne Robinson: Mother Country, S. 8.
[8] Sebastian Pflugbeil, Henrik Paulitz, Angelika Claussen und Inge Schmitz-Feuerhake: Health Effects of Chernobyl, S. 6.
[9] John Berger: Hold Everything Dear, S. 95.
[10] B. K. Voronetsky, N. E. Porada, N. E. Gutkovsky und T. V. Blet’ko: Morbidity of Children Inhabiting Territories with Radionuclide Contamination, S. 9 f.
[11] Nesterenko, Nesterenko und Yablokov: Chernobyl, S. 38.
[12] Nesterenko, Nesterenko und Yablokov: Chernobyl, S. 320 ff.
[13] Helen Caldicott: Nuclear Power Is Not the Answer, S. 54 f.
[14] Leslie Freeman: Nuclear Witness.
[15] John Vidal: UN Accused of Ignoring 500,000 Chernobyl Deaths, in: The Guardian vom 24. März 2006.
[16] E. Stepanova, V. Kondrashova,
T. Galitchanskaya und V. Vdovenko: Immune Deficiency Status in Prenatally Irradiated Children, in: Haemat 10, S. 25.
[17] Nesterenko, Nesterenko und Yablokov: Chernobyl, S. 38.
[18] Dr. Evgenia Stepanova: Interview in Chernobyl Forever, Regie: Alain de Halleux.
[19] Nesterenko, Nesterenko und Yablokov: Chernobyl, S. 38.
[20] A. I. Il’enko und T. P. Krapivko: Impact of Ionizing Radiation on Rodent Metabolism, USSR Academy of Sciences, Biology 1, S. 98–106.
[21] H. G. Wells: The World Set Free, Vorwort zur Neuauflage.
[22] Testament, in: Pravda vom 20. Mai 1988.
[23] The Chernobyl Syndrome: The Day the Impossible Happened, in: The Observer vom 4. Mai 1986.
[24] Pflugbeil, Paulitz, Claussen und Schmitz-Feuerhake: Chernobyl, S. 8.
Weblinks
Die offizielle Website von Darragh McKeon
„Alles Stehende verdampft” auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Tschrnobyl war ein Unfall Hroshima und Nagasaki ist ein Verbrechen
an der Menschheit und kein Mensch würde besstraft für diesen Massenmord.
Suche noch einen Anwalt mit viel Mut der sich traut dieses Verbrechen
zu rächen.
[…] 464 Seiten, 22 Euro). Im schönen Ullstein-Blog Resonanzboden könnt ihr einen Essay von Darragh McKeon über seine Reise durch das verseuchte Gebiet […]