Interview mit Gard Sveen

Wenn Krimi-Autoren historische Ereignisse als Hintergrund der Handlung wählen, stellen sich immer Fragen nach dem Verhältnis von Fiktion und Wahrheit. Wir sprachen mit dem norwegischen List-Autor Gard Sveen über sein Krimidebüt „Der letzte Pilger“, das von einer Schlüsselfigur des norwegischen Widerstands im zweiten Weltkrieg und seinem geheimnisumwitterten Tod ausgeht und eine Geschichte erzählt, die bis ins Heute reicht.

Sie erzählen vom Tod zweier norwegischer Widerstandskämpfer. Der eine wird 2003 ermordet, der andere starb 1945. Wie sind Sie zu Ihrem Krimistoff gekommen?

Angeregt hat mich die wahre Geschichte von Kai Holst. Er war eine der führenden Persönlichkeiten der norwegischen Widerstandsbewegung, ist heute aber fast vergessen. Bevor ihn die Gestapo fassen konnte, ging er nach Stockholm und war seit 1943 für den britischen Geheimdienst tätig. Im Juni 1945 starb er in Stockholm. Offizielle Todesursache war Selbstmord, vermutlich wurde er aber ermordet. Mich hat die Frage beschäftigt, warum er sterben musste. Und warum er von seinen früheren Weggefährten vergessen wurde, die später die mächtigsten Politiker Norwegens wurden.

Sie erzählen vom norwegischen Widerstand in einem Krimi. Worum ging es Ihnen dabei vor allem?

Ich wollte Helden nicht einfach nur als Lichtgestalten sehen und Böse als nur böse abstempeln. Es gibt Grauzonen, insbesondere im Krieg, der das Beste und das Schlimmste zum Vorschein kommen lässt, und manchmal sind Menschen beides. Die Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs in Norwegen war aber lange Schwarz-Weiß. Ehemalige Widerstandskämpfer und einige Historiker kontrollierten, welche Geschichten erzählt wurden und welche nicht. Erst im letzten Jahrzehnt gab es eine offenere Debatte.

War es für Sie eine Option, darüber ein Sachbuch zu schreiben?

Nein, auch deshalb nicht, weil der Hintergrund meines Krimis auf dem basiert, was das vermutlich dunkelste Geheimnis norwegischer Nachkriegsgeschichte ist. Wenn ich ein Sachbuch geschrieben hätte, hätte ich alle Behauptungen belegen müssen. Das ist aber nicht möglich, da fast alle Unterlagen über Kai Holst verschwunden sind, sowohl aus schwedischen als auch aus norwegischen Archiven. Ich nenne ihn in meinem Krimi dann auch Kaj Holt.

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Eine andere starke Hauptfigur ist Agnes Gerner: eine schöne Frau, die im Auftrag des Widerstands mit Nazis anbandelt, um ihre Geheimnisse zu erfahren. Sie kommen dieser Figur sehr nahe, ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung. Wie sind Sie auf sie gekommen?

Wie bei Kaj Holt verwebe ich auch hier Realität und Fiktion. Agnes Gerner ist an die norwegische
Schauspielerin Sonia Wigert angelehnt und außerdem an dänische Widerstandskämpferinnen.

Einige Szenen Ihres Krimis spielen in Berlin. Welche Verbindungen haben Sie dorthin?

Ich arbeite für das Verteidigungsministerium in Oslo und habe berufliche Verbindungen nach Deutschland. In Berlin habe ich zum Beispiel im Intercontintal Hotel in der Budapester Straße übernachtet oder im Hotel Berlin am Lützowplatz. Deshalb steigt mein Ermittler Tommy Bergmann in diesen Hotels ab. Ich habe zudem mit dem früheren norwegischen Verteidigungsattaché über Berlin gesprochen, auch über wohlhabende Gegenden im Westen der Stadt, in denen dann einige der Krimiszenen spielen. Oder bei einem Abendempfang meinte ein deutscher Marineoffizier, dass der norwegische Verteidigungsattaché dem Schauspieler Ben Becker ähnelt. Er erzählte von dem Film über die Comedian Harmonists, für den Becker vor der Kamera stand. Deshalb spielt auch eine ihrer Schallplatten eine kleine Rolle in „Der letzte Pilger“.

Sprechen Sie Deutsch?

In der Schule habe ich es fünf Jahre lang gelernt, und ich habe ein Zertifikat „Deutsch als Fremdsprache“ vom Goethe Institut in Oslo. Ich wollte auch mal in Deutschland Medizin studieren. Meine Sprachkenntnisse sind aber eingerostet.

Sie haben Politik studiert und in verschiedenen Ministerien gearbeitet. Wie sind Sie von einer trockenen Behörden- zu einer literarischen Sprache gekommen?

Auf die harte Tour: über Ablehnungen von Verlagen. „Der letzte Pilger“ ist das erste Buch von mir, das veröffentlicht wurde, aber das dritte, das ich geschrieben habe. Ich habe vieles ausprobiert und schließlich auch von dem Lektor meines Krimis sehr viel über Sprache gelernt.

Wie finden Sie neben Ihrer Arbeit noch Zeit zum Schreiben?

Ich konnte mir ein Sabbatjahr nehmen, weil „Der letzte Pilger“ allein in Norwegen 50.000 Mal verkauft wurde. Gerade habe ich also den ganzen Tag Zeit zum Schreiben. Mein Krimidebüt habe ich aber neben der Arbeit im Ministerium geschrieben, abends, an den Wochenenden, im Urlaub. Für meinen Job bin ich viel unterwegs, oft bin ich in Brüssel. Teile des ersten Krimis entstanden dort am Flughafen und in Hotels.

Blieb nebenbei noch Zeit für anderes, was Sie neben Arbeiten und Schreiben gern tun?

Ich trainiere die Fußballmannschaft meiner jüngsten Tochter. Aus 14, 15 Jahre alten Mädchen ein gutes Team zu formen, ist manchmal herausfordernder, als Krimis zu schreiben. Aber es macht Spaß
– und erinnert daran, dass das Leben mehr ist, als zu arbeiten und zu schreiben.

Sie trainieren Fußballerinnen, Ihr Ermittler Tommy Bergmann trainiert Handballerinnen. Gibt es noch mehr Ähnlichkeiten – ist er Ihr Alter Ego?

Nein, ich habe ihm nur einige meiner Kindheitserfahrungen mitgegeben. Tommy wuchs in einer Arbeitergegend im östlichen Oslo auf, in der ich auch zum Teil aufgewachsen bin. Es ist eine sehr harte Gegend. Dort hat sich auch die berüchtigste norwegische Verbrechergang gegründet.

Kommissar Tommy Bergmann ist kein strahlender Held. Er hat seine Freundin geschlagen, und sie hat ihn verlassen. Warum haben Sie sich für diesen Protagonisten entschieden?

Ich habe von verschiedenen Seiten gehört, dass man jemanden wie ihn nicht zum Helden eines Krimis machen kann. Aber ich sehe das anders. Die Hauptfigur eines Krimis muss Fehler und dunkle Seiten haben, und Tommy hat eben dieses Problem, das es in der Realität leider oft gibt. Ich erzähle von einem Mann, der bereut, was er getan hat, dem es aber schwerfällt, seinen Aggressionen auf den Grund zu gehen und sich zu verändern. Ein Psychologe, mit dem ich befreundet bin, hat mir dabei geholfen.

Wie wird es weitergehen mit Tommy Bergmann?

Der zweite Band mit ihm wurde in Norwegen bereits veröffentlicht, die deutsche Übersetzung wird voraussichtlich im Sommer 2017 erscheinen. Dieser zweite Band basiert zum Teil auf realen Geschichten, befasst sich zum Beispiel mit dem mutmaßlichen schwedischen Serienkiller Thomas Quick, dessen Geständnisse wohl erfunden waren und der inzwischen freigelassen wurde.

Das Gespräch führte Katrin Fieber.


Das Buch

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Es ist Frühling in Oslo, als ein grausames Verbrechen geschieht: Der ehemalige Widerstandskämpfer Carl Oscar Krogh wird brutal ermordet. Während des Krieges stand er stets auf der richtigen Seite. Wer bringt einen Mann um, den alle bewundern? Kurz zuvor findet man in der Nordmarka drei Leichen. Unter ihnen ein kleines Mädchen. Kommissar Tommy Bergmann, scharfsinnig, klug und ein Selbsthasser voller innerer Abgründe, sieht einen Zusammenhang: Die Toten stehen in Verbindung zu Agnes Gerner, einer Agentin des Widerstandes. Je mehr Tommy Bergmann über die schöne und hochintelligente Frau herausfindet, umso gefährlicher erscheint sie ihm.

Links
„Der letzte Pilger“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage

Gard Sveen

Gard Sveen

Gard Sveen, geboren am 8. März 1969 in Hamar, Norwegen, hat Politikwissenschaft an der Universität Oslo studiert. Er war für das norwegische Familien-, das Kultur- sowie für das Transport- und Kommunikationsministerium tätig. Aktuell arbeitet er als Senior Adviser für das Verteidigungsministerium. Gard Sveen ist geschieden und hat drei Kinder. Er lebt in Enebakk, einem kleinen Ort bei Oslo. Der letzte Pilger ist sein Krimidebüt und der Auftakt seiner Serie um Kommissar Tommy Bergmann. Er wurde mit dem Rivertonpreis 2013 und mit dem Glass Key Award 2014 ausgezeichnet, dem wichtigsten skandinavischen Krimipreis.

Foto: © Charlotte Hveem

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