Wenn Krimi-Fans den Namen Jo Nesbø hören, verbinden sie diesen unmittelbar mit einem weiteren: Harry Hole. Der frühere Kommissar und Spezialist für Serientäter, der jetzt an der Polizeihochschule unterrichtet, ermittelt in Nesbøs neuesten Band, „Durst“, zum elften Mal. Wie der Autor nach zwanzig Jahren zu seinem treuen Protagonisten steht und auf welche Weise Dating-Apps und Vampire ihren Weg in die Geschichte fanden, erzählt der Norweger im Essay.
Von Jo Nesbø
Vor zwei Jahren habe ich die Arbeit an „Durst“ begonnen. Es ist der elfte Band der Serie um den Ermittler Harry Hole, eine Figur, die ich mittlerweile wirklich gut kenne. So gut, dass ich mir die Frage stellen muss, ob es überhaupt noch etwas über ihn zu sagen gibt, ob ich ihn nicht inzwischen leid bin. Oder ob ich nur deshalb an der Serie festhalte, weil ein „Harry Hole“ eine Art Selbstläufer ist? All dies sind zentrale Fragen, denn ich weiß, dass der Tag, an dem ich etwas schreibe, das mich eigentlich nicht interessiert – und sei es nur ein einziger Satz – wie das erste Mal ist, wenn man nur aus Pflichtgefühl mit seiner Freundin ins Bett geht. Der Anfang vom Ende.
Harry Hole interessiert mich auch heute noch, gerade weil ich ihn so gut kenne. Wie man auch alte, enge Freunde nicht leid wird, sondern mehr und mehr erkennt, dass sie die einzigen Freunde sind, an denen einem wirklich etwas liegt. Natürlich lerne ich auch immer mehr Facetten von Harrys Persönlichkeit kennen und finde es spannend, wie sich darin meine eigene spiegelt. Diese Kenntnis stillt aber nicht die Neugier, ganz im Gegenteil: Was ist in dem Raum, der hinter dem Raum hinter dem Raum liegt? Nicht dass ich Harry und seine Welt nicht auch einmal leid wäre, beide sind sehr dunkel, und auch ich brauche Licht. Aber wenn ich eine Weile im grellen Tageslicht gewesen bin, sehne ich mich wieder nach Harrys Melancholie und seinem Nihilismus.
Es ist deshalb eigentlich ein Paradoxon, dass Harry auf den ersten Seiten von „Durst“ glücklich ist. Das war gar nicht leicht zu beschreiben, denn Harry ist normalerweise nicht glücklich. Rakel und er haben am Ende des letzten Buchs, „Koma“, geheiratet, und er arbeitet als Dozent an der Polizeihochschule. Dort macht auch Rakels Sohn Oleg seine Ausbildung. Harry selbst beschreibt dieses neu gewonnene Glücksgefühl wie einen Gang über dünnes Eis. Er wacht jeden Tag in der Hoffnung auf, dass der Status Quo erhalten bleibt, dass der kommende Tag eine Wiederholung des vorherigen ist und das Eis hält. Doch während Harry Hole sich privat so etwas wie einen „Murmeltiertag der Harmonie“ wünscht, ist der Polizist unruhig. Der eine Täter, den sie nicht fassen konnten, ist immer noch auf freiem Fuß. Der Wunsch, Wurzeln zu schlagen, und die Unruhe ringen miteinander, und Harrys Verantwortung für seine Lieben gerät in Konflikt mit der Verantwortung des Polizisten für die Gesellschaft. Ironischerweise trägt die Gesellschaft, die Gemeinschaft, in der er selbst immer ein Außenseiter war, den Sieg davon. Und das wirft Fragen auf, wenn Romane denn überhaupt dazu in der Lage sind: Wenn die Jagd nach dem „Glück“ nicht die wichtigste, treibende Kraft für Harry ist, was ist es dann? Sind wir Rudeltiere, deren Bedürfnis, etwas zum Rudel beizutragen, stärker ist, als die Liebe zu Ehepartnern und Kindern? Braucht selbst ein Außenseiter wie Harry die Anerkennung durch seinesgleichen mehr als seine Familie? Wird das private Glück überbewertet?
Einen Großteil von „Durst“ habe ich in meinem Stammcafé in Oslo geschrieben. Einmal hörte ich ein Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau am Nachbartisch mit. Erst dachte ich, es handelte sich um ein Bewerbungsgespräch (Wo siehst du dich in fünf Jahren? Welche Eigenschaft ist für dich charakteristisch?), bis ich dann irgendwann mitbekam, dass es sich um Onlinedating handelte (Ob ich Hunde oder Katzen lieber mag? Hm? Und du?). Mich beschäftigte weniger das offenkundige Risiko, dass mit einem Tinderdate verbunden ist, als das mit der Zeit zunehmend peinliche Gespräch. Beide schienen – ohne Erfolg – auf der Suche nach Konventionen und Formulierungen zu sein, hinter denen sie sich verstecken konnten. Beide gaben mit Sicherheit ein etwas falsches Bild von sich, saßen aber doch ziemlich entblößt vor dem jeweils anderen. Sie waren abwechselnd Autor und Leser, und die Geschichten, die bei diesem Treffen in einem beinahe fiktiven Kontext entstanden, fanden wie von selbst ihren Weg in meine Tastatur.
Und dann inspirierte mich während meiner Arbeit an „Durst“ die Begegnung mit dem Vampirismus. Ich wusste nicht, nach was ich suchte, vermutlich aber nach etwas aus der hintersten, dunkelsten Ecke der Psychiatrie. Als ich das erste Mal von Peter Kürten, dem Vampir aus Düsseldorf, und Richard Trenton Chase hörte, wusste ich, dass mir genau so etwas fehlte. Ich brauchte eine Brücke zwischen den verschiedenen Themen im Buch, um Harry spiegeln zu können.
Normalerweise interessiere ich mich nicht für sogenannte true crime stories, aber es waren auch nicht die kriminellen Aspekte, sondern die menschlichen, die mich bei diesem Thema derart inspirierten und verstörten. Der Vampirist und Mörder handelt zwanghaft aus dem eingebildeten Bedürfnis heraus, Blut trinken zu müssen, auch wenn er dabei paradoxerweise sogar das Risiko eingeht, sich wegen des hohen Eisengehalts zu vergiften. Das kommt dem Alkoholiker Harry sehr nahe. Und wie Harry sucht auch der Vampirist das Persönlichste, das Innerste eines anderen Menschen, sogar im buchstäblichen Sinne des Wortes. Ich habe Harry in meinen Büchern immer als potenziellen Kriminellen dargestellt, nie aber als möglichen Blutsauger. Und okay, das ist jetzt ein Spoiler, aber Harry wird in „Durst“ Blut trinken.
An was denke ich also, wenn ich ein Buch beendet habe? Nun, ich denke dann beinahe zwanghaft und voller Unruhe an das nächste Buch. Nennen Sie es gerne Durst, es ist durchaus möglich, dass ein Autor mit seinen Figuren verwandt ist. Und vielleicht sollte ich mir deshalb Sorgen machen. Aber wie Harry, oder auch der Vampirist, viele Schriftsteller können nicht anders, sie müssen einfach weitermachen.
Mehr zu dem Thema auf dem resonanzboden
„Ich schreib das jetzt einfach mal auf”
Harry Hole kommt ins Kino:
Das Buch
Ein Serienkiller findet seine Opfer über die Dating-App Tinder. Die Osloer Polizei hat keine Spur. Der einzige Spezialist für Serientäter, Harry Hole, unterrichtet an der Polizeihochschule, weil er mehr Zeit für seine Frau Rakel und ihren Sohn Oleg haben möchte. Doch Holes alter Chef Mikael Bellmann kennt Olegs Vergangenheit und setzt Hole unter Druck. Der Kommissar gibt schließlich nach und arbeitet hochkonzentriert mit seinen Leuten an dem Fall. In einer Atmosphäre der Angst zögern viele Frauen, sich weiter über die App zu verabreden. Die schlimmsten Befürchtungen werden wahr, als tatsächlich eine weitere junge Frau verschwindet, ausgerechnet eine Kellnerin aus Holes Stammlokal. Und der Kommissar kann nicht länger die Augen davor verschließen, dass der Mörder für ihn kein Unbekannter ist.
Links
„Durst“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die offizielle Website von Jo Nesbø
Jo Nesbø auf Facebook
[…] Jo Nesbø: Harry Hole und ich „Wenn Krimi-Fans den Namen Jo Nesbø hören, verbinden sie diesen unmittelbar mit einem […]